Die Verfassung der EU ist
kein Gründungsdokument, sondern Produkt eines kontinuierlichen Prozesses der
europäischen Integration. Ausgangspunkt sind die Römischen Verträge, Stationen
sind Maastricht, Amsterdam und Nizza. Geeinigt hat man sich nun auf eine
Staatenunion, die mit einer Bürgerunion verschränkt werden soll. Als
politisches Projekt steht die EU als etwas qualitativ Neues da, entstanden aus
historischen Brüchen. Mit der Globalisierung stellen sich ihr neue Fragen,
ändert sich ihre Selbstdefinition, was sich auf ihre Rolle in der Welt
(»Rekonstruktion des Westens«) sowie auf ihre Integrations- und
Beitrittspolitik auswirken muss.
Verfassung – das klingt in vielen
Ohren nach Ursprung und Gründung, nach Bruch und Neuanfang. Davon kann bei der
Verfassung der EU keine Rede sein. Sie ist Ausdruck von Kontinuität und
Entwicklung. Eben deshalb tun sich viele schon mit dem Begriff der Verfassung
für das neu beschlossene Regelwerk der Europäischen Union schwer.
Ausdruck von Bruch und
Neuanfang sind dagegen die jetzigen Erweiterungen der Europäischen Union um
zunächst zehn, dann noch mal zwei Mitglieder, sind die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und der Einschluss der Balkanstaaten, der
mit dem Stabilitätspakt für Südosteuropa ermöglicht und seit dem Gipfel von
Thessaloniki ausdrücklich angestrebt wird.
Die Verfassung der EU, wie
sie durch den Gipfel Ende Juni 2004 beschlossen wurde, zeigt die Bemühung, den
Neuanfang mit den jetzigen und den bevorstehenden Erweiterungen in die
Kontinuität der bisherigen Entwicklung der EU einzugemeinden. Es wäre nicht
ohne bittere Ironie, wenn die Verfassung im Ratifikationsprozess scheitern
würde, nachdem die neue Erweiterungsrunde unwiderruflich in Gang ist. Es wäre
ein Zeichen dafür, dass das Streben nach Kontinuität und die neuen
Anforderungen in einer gegenüber der Gründung der EU völlig veränderten
Situation sich nicht ohne weiteres decken.
Um den Gedanken etwas
auszuführen: Die Wurzeln der jetzigen Verfassung reichen weit hinter den
Zusammenbruch des Sowjetimperiums und das Ende der Blockkonfrontation zurück,
die die neuen Erweiterungen erst ermöglicht haben. Von Rom über Maastricht, Amsterdam
und Nizza ist der Verfassungsprozess der EU schrittweise vorangekommen. Es ist
kein schwieriges Gedankenexperiment, sich die neue Verfassung ganz als Ergebnis
des westeuropäischen Integrationsprozesses in der EU vorzustellen, obwohl ihre
Verabschiedung durch den Europäischen Rat zeitlich mit dem Beitritt der neuen
Mitglieder zusammenfiel. Für den Verfassungsprozess der EU kann man sich »1989«
wegdenken, um ihn sich ausschließlich als »Vertiefung« der Integration im Westen
vorzustellen.
Mit der Verfassung wird wie
mit den westeuropäischen Erweiterungen und der Währungsunion eine Entwicklung
fortgesetzt, die mit der Montanunion in Gang gekommen war und mit den Römischen
Verträgen einen prägenden integrationsfördernden Rahmen erhalten hatte. Auch in
den bisherigen vertraglichen Regelungen hatte die EU eine »Verfassung«, ihre
spezifische Verfassung von Verträgen zwischen Mitgliedsstaaten, die über die
Etablierung von gemeinsamen Institutionen und Verfahren immer stärker in die
inneren Entwicklungen der Mitgliedsstaaten eingriff. In dem Maße, wie in dieser
Verfassung Mehrheitsentscheidungen unter den Staaten ermöglicht wurden, musste
eine Repräsentation der europäischen Bürger geschaffen werden, die durch ein
transnationales Votum die Überstimmung von Staaten durch Staaten kompensieren
kann. Die Überwindung des Konsensprinzips der Staatenunion verlangt einen
transnationalen Ausgleich durch die Mitentscheidung des Europäischen
Parlaments.
Im Konstitutionsprozess der
EU geht es von Anfang an und so auch in der jetzigen Verfassung um die
Ergänzung der Staatenunion um eine Bürgerunion: Die Eingriffe in das Innere der
Mitgliedsstaaten durch die Staatengemeinschaft verlangt eine gemeinsame
Repräsentation der Bürger dieser Staaten auf Ebene der EU. Mit der Reichweite
und Tiefe der Eingriffe der Staatenunion müssen die Rechte der Bürgerunion
gestärkt werden. Die Legitimations- und Entscheidungsstränge von Staaten- und
Bürgerunion müssen so miteinander verschränkt werden, dass weder die
Entscheidungsfähigkeit noch die Legitimation der EU unter ihrer
unüberwindlichen Doppelstruktur allzu sehr leidet. Dies war und bleibt das
widersprüchliche Konstitutionsproblem der Europäischen Union.
Die Fortschritte des
Verfassungsprozesses bestehen nicht in der Beseitigung und Unterdrückung der
Doppelstruktur der EU als Staaten- und Bürgerunion, sondern in der besseren
Verknüpfung der beiden Seiten. Das Verfassungsproblem der EU bleibt immer das
Gleiche: Wie können die Mitgliedsstaaten effektiv und demokratisch legitimiert
in einem Integrationsprozess zusammenwirken, der tief in ihr inneres
Gesellschaftsleben eingreift, auch Widerstände hervorruft und der deshalb durch
die Bürger der Mitgliedsstaaten auf der Ebene der Gemeinschaft selbst
mitgestaltet und kontrolliert werden muss?
Bleibt das Konstitutionsproblem
der EU im Wesentlichen unverändert und sucht der Verfassungsprozess nach
Regelungen, die den tatsächlichen Integrationsschritten gerecht werden und
weitere ermöglichen, so zeigen die jetzigen und die ins Auge gefassten Erweiterungen
an, wie gründlich sich die internationale Konstellation gegenüber der Gründungssituation
der EU verändert hat.
Die Schlüsseldaten für die
europäische Integration im Westen waren die Zerschlagung des Deutschen Reiches
und das definitive Scheitern seiner imperialen Europapolitik mit dem Ende des
Zweiten Weltkrieges 1945, die Zementierung der deutschen Spaltung durch
Gründung der Bundesrepublik und der DDR in den Anfängen des Kalten Krieges
1949, und dann 1956, als mit der Niederschlagung des Ungarnaufstandes durch die
Sowjetunion und der Unfähigkeit des Westens, dies zu verhindern, die Spaltung
Europas, und damit die Spaltung Deutschlands, für absehbare Zeit besiegelt
wurde. Das gleichzeitige Scheitern des Suezabenteuers Frankreichs und
Großbritanniens am Einspruch der beiden Supermächte signalisierte, dass das
Ende der europäischen Kolonialmacht unaufhaltsam herannahte. Die dauerhafte
Konfrontation der Blöcke in Europa und der Niedergang europäischer
Kolonialmacht waren neben der Zerschlagung des Deutschen Reiches weitere
Bedingungen für die Gründung der EG in Rom 1957. Die Gründung der EG und dann
die Integration als Prozess waren damit Reaktion auf wenigstens drei große
Negationen der jüngeren europäischen Geschichte: die Negation der deutschen
Machtstellung in Europa, die Negation der europäischen Kolonialmacht in der
Welt und die Negation des europäischen Staatensystems durch die Vorherrschaft
der europäischen Flügelmächte USA und Sowjetunion, die als Supermächte die
beiden einzigen Weltmächte blieben. Die eine Supermacht schützte eine Hälfte
Europas vor der anderen Supermacht, die die zweite Hälfte Europas beherrschte.
Unversehens stand Westeuropa vor der Notwendigkeit, sein Glück in der
Verständigung untereinander und in den gemeinsamen zivilen
Entwicklungspotenzialen zu suchen. 1957 zeigten sich die Gründungsmitglieder
der EG entschlossen, die Situation der Schwäche als Chance für einen Neuanfang
zu nutzen.
Von den Bedingungen, die die
Gründung der EG ermöglichten, waren zwei entscheidend, die beide durch die
Blockkonfrontation garantiert waren: Die Einheit des Westens und die Spaltung
Deutschlands. Die Einheit des Westens wurde durch die Blockkonfrontation
objektiv befestigt. Die Spaltung Deutschlands ermöglichte die Westbindung der
Bundesrepublik ohne die Ordnungsprobleme aufzuwerfen, an denen das europäische
Staatensystem nach 1871 schließlich zerbrochen war.
Die EG wurde in eine
übersichtliche internationale Konstellation hineingegründet. Die
Blockkonfrontation wirkte als globaler Ordnungsmechanismus. Der Ordnungsrahmen
der UNO ermöglichte die formelle Eingliederung der bisherigen europäischen
Kolonien in die Staatenwelt. In einer Welt, die durch das Gleichgewicht des
Schreckens zusammengehalten wurde, reichte die Ordnungsmacht der beiden
Supermächte in ihren Blöcken aus, um eine prekäre globale Stabilität zu
sichern, die schließlich sogar Entspannungsprozesse zwischen den Supermächten
und den Blöcken ermöglichte. Die Blockfreienbewegung bestätigte das
Gleichgewicht der Blöcke und stellte die Blöcke selbst nicht in Frage. So hielt
der Ordnungsmechanismus der Blockkonfrontation gerade auch die
Blockfreienbewegung zusammen.
Die Welt des Kalten Krieges
war alles andere als ein Idyll. Antikoloniale Befreiungskriege schlugen in
Stellvertreterkriege um, die sich über Jahre und Jahrzehnte hinziehen konnten.
Doch von Westeuropa aus gesehen hatte diese internationale Situation den
Vorteil, relativ übersichtlich zu sein. Gewiss, der Prozess der
Entkolonialisierung war vielfach blutig und für die europäischen Kolonialmächte
schmerzlich. Aber schon bald war absehbar, dass er früher oder später in
formell unabhängige Staaten münden würde, die einen Sitz in der UNO einnehmen
und formell in die Staatenwelt integriert sind. Die Sowjetherrschaft über Teile
Europas war verurteilenswert, zugleich aber schien sie kalkulierbar als die
andere Seite der Blockordnung. Die Gefahr eines Atomkrieges blieb zwar präsent,
zugleich wurde sie immer irrealer. Davon zeugte nicht zuletzt die sanfte,
Hysterie nur inszenierende Friedensbewegung der Achtzigerjahre.
Es lässt sich nicht leugnen:
Die brutale Blockordnung hatte Europa zwar ins Zentrum der Auseinandersetzung,
zugleich aber Westeuropa zunehmend in einen Schönwetterwinkel der
Weltgeschichte gerückt, wo die Kriegsgefahr eben wegen des Gleichgewichts des
Schreckens immer abstrakter wurde und sich die zivilen und libertären Seiten
der europäischen Gesellschaften so geschützt entwickeln konnten wie nie zuvor.
Die portugiesische Nelkenrevolution bezeichnete da einen abschließenden Erfolg
auf der ganzen Linie.
Die europäische Integration
im Westen konnte lange Zeit als Prozess verstanden werden, der im Windschatten
des Kalten Krieges und unter dem Atomschirm der USA fast im Selbstlauf
vorankam. So zumindest wurde er vom größten Teil der Bevölkerung in den
Mitgliedsstaaten wahrgenommen. Noch die Krisen der Einigung fanden eine undramatische
Lösungsform: Es wurde die Uhr angehalten. Von Nächten der langen Messer konnte
umso unbefangener geredet werden, als die Verhandlungskompromisse gleichzeitig
ohne weiteres als das Ergebnis eines Kuhhandels diffamiert werden konnten.
Die europäische Integration
im Westen hat entscheidend zur Demokratisierung dieses Teils des Kontinents
beigetragen, ausdrücklich und offensichtlich in Griechenland, Spanien und
Portugal, weniger offensichtlich in den beiden Kernländern der EG, in Westdeutschland
und Frankreich. Dass sich die beiden Staaten als Partner sehen konnten,
erleichterte die Ausbildung von Zivilgesellschaften im Inneren. In der
Bundesrepublik waren Westbindung und europäische Integration Aspekte eines
Staatsbildungsprozesses, der ohne sie überhaupt nicht verstanden werden kann.
Diese Selbstverständlichkeiten der westdeutschen Staatsbildung treten erst
wieder stärker als außergewöhnliche historische Chance ins Bewusstsein, wo sie
mit der Vereinigung auf ein Deutschland treffen, dessen Staatsbildung in einem
ganz anderen Kontext stand. Aber auch für Frankreich war die europäische
Integration an wichtigen Punkten seiner Nachkriegsgeschichte eine
Orientierungshilfe in den Auseinandersetzungen um die Entkolonialisierung, in
denen autoritäre und putschistische Gefahren gelauert hatten. Die politischen
Bewegungen der späten Sechzigerjahre und ihre intellektuelle Vernetzung waren
dann ein Ausdruck dieser integrativen Aspekte der Nachkriegsgeschichte in
Westeuropa.
Trotz der tiefgreifenden
Einflüsse auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der Mitgliedsstaaten konnten
die Integration und die ausgreifenden Erweiterungen über den Kreis der sechs
ursprünglichen Mitgliedsstaaten hinaus in Westeuropa fast als beiläufig
erscheinen. Das änderte sich mit 1989 und dann der Auflösung der Sowjetunion
1991 gründlich. In dem Maße, wie die Koordinaten ihrer Entstehung sich
veränderten oder ganz entfielen, konnte die europäische Integration nicht mehr
als Prozess im Selbstlauf verstanden werden. Zunehmend muss sich die EU als
politisches Projekt selbst definieren. Wie weit die Bürger der Mitgliedsstaaten
sich dessen bewusst sind und die politischen Konsequenzen ziehen, die sich aus
dieser Verschiebung ergeben, wird sich zeigen. Tony Judt, der englische, in den
USA lehrende Historiker, äußerte vor ein paar Jahren grundsätzliche Zweifel, ob
die EU in einer Konstellation, die sich gegenüber ihren Entstehungsbedingungen
radikal verändert hat, überleben könnte. Der »Zeitraum zwischen 1945 und 1989«
erscheine »immer mehr als Parenthese«. Je weiter wir uns vom Jahr 1945
entfernten, desto mehr schwänden »die Beweggründe, dem Vergangenen etwas
Andersartiges entgegenzusetzen«.(1)
Doch passt 1989 nicht ganz
gut in die Datenreihe, die das Ende der europäischen Imperialmacht bezeichnet?
Mit der Auflösung des Sowjetimperiums bereitete 1989 der neuartigen, weil nun
ganz selbstbestimmten Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses den
Boden. Das ist der wesentliche Aspekt. Zugleich hat aber 1989 die kontingenten
Bedingungen(2) beseitigt, unter denen es in Westeuropa gelang, auf postimperialem
Boden den Integrationsprozess überhaupt in Gang zu bringen: Deutschland ist
nicht mehr geteilt und der Westen wird nicht mehr von außen
zusammengehalten.(3)
Zwar wurde die deutsche
Vereinigung nach kurzem Hin und Her sowie einigem anfänglichen Gesichtverziehen
und Zähneknirschen auf Seiten Italiens, Frankreichs und Großbritanniens
innerhalb der EU fast reibungslos verarbeitet. Dass das neue Gewicht der
Bundesrepublik jedoch die Ausgangsbedingungen der EU tangierte, zeigte sich
spätestens mit den Auseinandersetzungen um die Währungsunion, obwohl diese noch
ganz westeuropäische Angelegenheit blieb. So waren die Debatten im
französischen Referendum weitgehend von der Frage bestimmt, ob die Zustimmung zur
Währungsunion auf eine Kapitulation vor der Deutschen Bundesbank und dem
stärker gewordenen Deutschland hinauslaufe oder umgekehrt die Währungsunion das
einzig probate Mittel sei, um die drohende Übermacht gemeinschaftlich zu
beschneiden und Deutschland dauerhaft einzubinden. Verstärkte die Währungsunion
die Verschiebung der Gewichte zugunsten Deutschlands oder war sie geeignet, das
ursprüngliche Gleichgewicht zu verteidigen?
Spätestens hier wurde
deutlich, dass die europäische Integration mit der prinzipiellen Gleichheit der
Mitglieder der EU das traditionelle Problem von Gewichtung nach Macht und
Einfluss unter ihnen nicht erledigt hatte. Es war lediglich domestiziert
worden. Die Spannung zwischen einer Integration unter Gleichen, in deren
Verlauf die einzelnen Mitgliedsstaaten immer mehr Teil einer gleichberechtigten
Gemeinschaft werden, und den Unterschieden zwischen den Mitgliedern nach
Stellung und Gewicht wird ein Kernproblem der europäischen Integration bleiben.
Je weniger es begriffen wird, desto vergiftender kann es wirken. Das hatte sich
bereits beim Europäischen Rat in Nizza gezeigt, als deutsche Forderungen nach
einer scheinbar geringen Neugewichtung der Staatenstimmen zugunsten
Deutschlands von Frankreich als prinzipieller Angriff auf die Gleichberechtigung
zwischen den beiden Gründungsmitgliedern aufgefasst und bekämpft wurden. Und
nicht umsonst wurden die Gewichtungsfragen in der jüngsten
Verfassungsdiskussion bei gleichzeitigem Einsatz von Nebelwerfern und
Giftpfeilen mit größter Leidenschaft geführt. Der Positionswechsel von
Frankreich hin zur doppelten Mehrheit zeigt freilich auch, wie prinzipielle
Argumente in der Verfassungsdiskussion manchmal nur instrumentell eingesetzt
wurden und wie flexibel die Mitgliedsstaaten in ihren Positionen sein können.
Die Tendenzen zu einem
Führungstrio in der Außen- und Sicherheitspolitik und der Verdacht, dass hier
ein Direktorium der großen Drei gegenüber den übrigen Mitgliedern gebildet
werden solle, zeigen, dass das Spannungsverhältnis von Integration als neuer
Erfahrung und den Gleichgewichtsfragen des traditionellen europäischen
Staatensystems wirksam bleibt.
Die Rede, »Europa« müsse
nach außen »mit einer Stimme« sprechen, macht es sich zu leicht. Selbst
einzelnen Staaten, sofern es sich um Demokratien handelt, gelingt das selten.
Die gemeinsame Außenpolitik sollte immer wieder eine gemeinsame Melodie finden,
die es den verschiedenen Akteuren – Rat, Kommission, europäischer
Außenminister, aber auch den Regierungen der einzelnen Staaten – erlaubt, je nach
Problem- und Interessenlage sowie den spezifischen Fähigkeiten mit- und
zusammenzuwirken, Dissonanzen zu vermeiden und alle Stimmen optimal
einzusetzen. Die reiche Instrumentierung wird sich als Stärke der EU erweisen,
wenn ihre Außenpolitik einer gemeinsamen Partitur folgt.
Bekanntlich hat das
europäische »Konzert der Mächte« nur in restaurativer Absicht und für kurze
Zeit funktioniert.(4) In gewisser Weise bedeutet die europäische Integration
eine überarbeitete Neuauflage des Versuchs, einer konzertierten europäischen
Ordnungspolitik. Sie beruht diesmal nicht auf dem dynastischen
Legitimitätsprinzip, sondern folgt dem Demokratieprinzip und einer liberalen
Grundorientierung.
Soweit die europäische
Integration inzwischen fortgeschritten und institutionell wie prozedural
gefestigt ist, hat sie als Staatenunion, die sie in der Außenpolitik weitgehend
bleibt, die früheren Versuche eines europäischen »Konzerts der Mächte« eher
Erfolg versprechend neu belebt als dauerhaft überwunden. Für diese subkutanen
Konfigurationen des vereinten Europa ein kritisches Sensorium zu entwickeln,
könnte für eine realitätstüchtige Integrationspolitik, eine europäisch
orientierte Publizistik und Öffentlichkeit überlebenswichtig werden. Hier wie
in anderen Fragen führt eine falsche Analogie von Staat und Union dazu, dass
als Defizit erscheint, was Trumpf der EU sein kann: sich feingliedrig, aber gut
abgestimmt in der Welt zu bewegen.
Das andere Schlagwort, dass
die EU kein Superstaat, wohl aber eine Supermacht werden solle, führt, obwohl
es die Staatsanalogie oberflächlich zurückweist, ebenfalls in die Irre: Die EU
wird nicht in der Lage sein, in derselben Frist alle Kräfte auf eine Aufgabe zu
konzentrieren und so ein Maximum an Macht zu entfalten, wie es Staaten als
Supermacht gelegentlich vermögen. Die EU wird auch in Zukunft eher durch die
Macht des Beispiels als durch unvergleichliche Macht wirken.
Bis 1989 musste sich die EG
nicht fragen, was sie war, wohin sie gehörte und wie weit sie reichen konnte.
Sie war eine primär wirtschaftlich und gesellschaftlich ausgerichtete
Suborganisation des Westens, an dessen gemeinsamer Verteidigungsorganisation,
der NATO, ihre Mitgliedsstaaten beteiligt waren. Sie gehörte zum Westen und
ihre Reichweite in Europa war durch den Eisernen Vorhang eindeutig begrenzt. Es
waren diese historischen Bedingungen, die es erlaubten, die europäische
Einigung vorwiegend als Prozess der Integration zu verstehen, ohne den
Ort bestimmen zu müssen, den die EG und jetzt die Europäische Union ausfüllen
will und kann. Seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums reicht diese
konzeptionelle Selbstgenügsamkeit nicht mehr aus. Der Westen hat mit dem klar
umrissenen Gegner die eigene politische Selbstverständlichkeit verloren. Die EU
kann auf den Westen nicht länger als eine selbstverständliche Gegebenheit
setzen, sondern muss sich über ihr gemeinsames Interesse an einer
»Rekonstruktion des Westens«(5) verständigen und versuchen, ihre Bemühungen um
eine freiheitliche internationale Ordnung mit denen der USA in Einklang zu
bringen. Der Westen selbst wird damit zum politischen Projekt.
Die EU, die ihre Zukunft
durch den dialektischen Prozess von Vertiefung und Erweiterung als hinreichend
bestimmt ansehen konnte, solange ihr äußeren Grenzen gezogen waren, sieht sich
nun vor die Frage gestellt, wohin Vertiefung und Erweiterung denn jeweils
führen sollen. Wo die Grenzen von Vertiefung und Erweiterung liegen, bleibt die
offene Verfassungsfrage der EU auch nach Verabschiedung des jetzigen Textes.(6)
Sie wird selten offen aufgeworfen und fast nur an Einzelfragen diskutiert, zum
Beispiel als »Türkeiproblem«.(7) In die Diskussion des einen Falles wirkt dann
der nächste schon hinein, also in die Diskussion über die Türkei die zukünftige
Stellung zur Ukraine oder zu Marokko. So torkelt die Diskussion zwischen dem
Wunsch nach einem willkürlichen Schlussstrich unter den Erweiterungsprozess und
nach seiner grenzenlosen Fortsetzung hin und her. Zuletzt wird die Rettung dann
in engen kulturalistischen Identitätsvorstellungen gesucht. Die Angebote liegen
auf der Hand. Abendland/Lateinisches Europa: Aber warum dann Griechenland und
jetzt Rumänien und Bulgarien? Christentum: Warum dann das durch den Gipfel von
Thessaloniki bekräftigte Beitrittsangebot an Südosteuropa einschließlich der
muslimisch geprägten Teile?
Das politische Projekt der
EU ist durch und durch neu. Es lässt sich nicht als Kontinuität, sondern nur
als Bruch mit wesentlichen Zügen europäischer Geschichte begreifen. Der
historisierende Einwand gegen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, der
auf die »türkische« Bedrohung des Abendlandes und die »Türken vor Wien«
zurückgreift, ist nicht nur anachronistisch, sondern absurd und kontrafaktisch:
Die deutschen Aggressionstruppen standen bekanntlich dreizehn Jahre und nicht
Jahrhunderte vor Gründung der EWG nicht nur vor, sondern in Paris. Wer heute
auf europäische Kontinuität pocht, verfehlt den Sinn der EU, die ein Kind des
Bruches mit europäischer Geschichte ist und als politisches Projekt einer
eigenen Logik folgt.(8) Auf die Dauer wird sich die Frage nach den Grenzen der
EU weder von Fall zu Fall, von Beitrittsbegehren zu Beitrittsbegehren noch
durch Verweis auf angeblich gegebene Identitäten lösen lassen, sondern nur über
die Ortsbestimmung der EU als politisches Projekt in der globalisierten Welt.
Bekanntlich wurde in der
jüngsten Verfassungsdiskussion die »Finalitätsfrage« sorgfältig vermieden. Sie
ist mit der Eindeutschung der französischen »finalité« auch kaum zu
beantworten, weil in der Vorstellung eines wolkigen »Endzweckes« die Frage nach
den irdischen Grenzen des europäischen Integrationsprojektes völlig
verschwindet. Grenzen in diesem Sinn wirken als Leitplanken eines
entwicklungsfähigen politischen Projektes und nicht als Schranke der
Entwicklung.
Die inneren Grenzen der
europäischen Integration haben sich inzwischen praktisch herausgestellt. Sie
sind durch die Mitgliedsstaaten als die primären Subjekte der Integration
gezogen. Die Mitgliedsstaaten werden sich nicht in Untergliederungen eines
Bundesstaates verwandeln lassen. An die Stelle der dem Integrationsprozess
aufgepfropften Alternative von Staatenbund oder Bundesstaat ist die
Auseinandersetzung um die Verfassung und das Funktionieren einer als Staaten-
und Bürgerunion doppelt strukturierten Europäischen Union getreten. Der Begriff
der Staaten- und Bürgerunion hat nun Eingang in den Verfassungstext gefunden.
Damit ist auch näher bestimmt, was denn die Eigenart der EU als Gebilde sui
generis ist: Die Mitgliedsstaaten bleiben konstitutive Subjekte der Union.
Auf der Ebene des europäischen Gemeinwesens treten an die Seite der
Repräsentativorgane der Staaten die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsstaaten
mit ihrer eigenen Repräsentation. Die Kommission nimmt nicht die Stellung einer
europäischen Regierung, sondern die in der Doppelstruktur der Union für das
Gelingen entscheidende Stellung einer Initiatorin und Moderatorin ein.
Nachdem die das
Integrationsprojekt in die Tiefe begrenzende Element der Mitgliedsstaaten
endlich akzeptiert ist, ohne deshalb auf die Vorstellung eines Staatenbundes
zurückzufallen, kann man davon ausgehen, dass die Union ihre innere Verfassung
im Prinzip geklärt hat, soviel im Einzelnen daran in Zukunft noch verbessert
werden mag.
Ihre äußere Form kann die EU
dagegen so lange nicht politisch bestimmen, solange die Grenzen der EU als
Frage nach den Grenzen Europas diskutiert werden. Europa wird immer
ausgreifender, umfassender und unbestimmter bleiben als die EU. Wie die EU im
Inneren durch Staaten konstituiert wird, bewegt sie sich außerhalb ihrer
Grenzen in einer Welt, die durch Staaten gebildet wird, einer Staatenwelt. Die
Frage nach der äußeren Form der Europäischen Union ist also direkt mit der
Frage verknüpft, wie die Europäische Union am wirkungsvollsten und besten zu
einer entwicklungsfähigen internationalen Ordnung, zu einer geordneten
Staatenwelt beitragen kann.
Die Frage lässt sich
spezifizieren: In welcher äußeren Form kann die EU am besten zu einer
»Rekonstruktion des Westens«, also zur Bildung eines von den USA und der EU
gebildeten Kraftzentrums einer wachsenden community of democracys
beitragen, die vielleicht einmal den Rahmen der UNO ausfüllen wird? In welcher
Form kann die EU am besten zu einer Demokratisierung, Modernisierung und
Stabilisierung des postsowjetischen Raums beitragen, ohne Russland zu isolieren
oder die Unabhängigkeit der Staaten, die aus der Sowjetunion hervorgegangen
sind, imperialen Restaurationsbestrebungen Russlands auszuliefern? In welcher
Form kann die EU am besten dazu beitragen, dass Modernisierung und
Demokratisierung in den Staaten des Wider Middle East das Übergewicht über die
islamistischen Versuche gewinnen, die Welt des Islams als Tummelplatz von
imperialen Eroberungs- und Restaurationsbestrebungen mit gewaltsamen Mitteln zu
nutzen? Wie kann die EU am wirkungsvollsten zu einem konzertierten
Zusammenwirken der Mitglieder des Sicherheitsrates und der einflussreichen
Staaten gegen die Bedrohungen der Staatenwelt durch Chaos, Zerfall und Terror
beitragen und dabei helfen, die Ideenwelt der UNO mehr und mehr praktisch in
der Staatenwelt zu verankern? Und nicht zuletzt: In welcher Form kann die EU
ihr Beispiel, den Widerspruch von territorialem Souveränitätsprinzip der
Staatenwelt und transnationaler Vernetzung der Weltwirtschaft durch die
Zusammenlegung von Souveränitäten und die Ausbildung eines gemeinsamen
Binnenmarktes zu zügeln und die Globalisierung zu gestalten, attraktiv erhalten
und für andere Teile der Welt fruchtbar machen?
Die Frage nach der äußeren
Form der EU führt damit aus der Selbstbezogenheit der EU heraus, von der die
Verfassungsdiskussion manchmal zu sehr geprägt ist.
Außenpolitik der EU war
bisher vor allem Handelspolitik im Rahmen von GATT und WTO und Erweiterungspolitik.
In der ersten euphorischen Reaktion auf den Zusammenbruch des Sowjetimperiums
klangen vor allem deutsche Stimmen manchmal so, als sei nun der Schlüssel zu
den meisten Problemen des Kontinents in einer möglichst grenzenlosen
Erweiterung der EU zu finden. Stattdessen wird es sinnvoll sein, auch einzelne
Fragen einer Erweiterung in eine global orientierte Ordnungspolitik
einzubetten. Stellt man sich die Erweiterung der EU als politisch unbestimmtes
Kontinuum vor, dann gibt es keinen Grund, warum nach der Türkei, oder auch
statt der Türkei, nicht die Ukraine, Weißrussland und Georgien und schließlich
auch Russland aufgenommen werden sollten. In Reaktion auf die Aussichten solch
»schlechter Unendlichkeit« mag dann im Umkehrschluss festgestellt werden, dass
nach der jetzigen Erweiterungsrunde endlich Schluss sein müsse und der Türkei
nicht mehr als eine »privilegierte Partnerschaft« angeboten werden könne. In
dieser Perspektive werden Erweiterungen erlitten und erscheint
Nachbarschaftspolitik als Ersatz für eine Erweiterungspolitik, mit der ja
irgendwann Schluss sein muss.
Geht man dagegen von
übergeordneten Fragestellungen aus, lässt sich erkennen, dass die
Mitgliedschaft der Türkei in der EU ein wichtiges Element der Rekonstruktion
des Westens wäre, dem islamistischen Projekt im Mittleren Osten(9) einen Riegel
vorschieben, die Balkanpolitik der EU stärken und einer europäischen
Nachbarschaftspolitik gegenüber den gefährlichen Krisenregionen des Mittleren
Ostens und des Kaukasus eine Ausgangsbasis sichern würde. Zudem ist die
Stellung der Türkei gegenüber dem Westen, der EU und im Mittleren Osten
historisch völlig einzigartig.
Schon das Osmanische Reich
war in das europäische Mächtesystem verwickelt und spätestens mit dem Krimkrieg
und der Abwehr des russischen Expansionismus zu einem tragenden, wenn auch
tönernen Pfeiler des europäischen Gleichgewichts geworden. Mit der Niederlage
des Osmanischen Reiches an der Seite des Deutschen Reiches und
Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg schied die Türkei aus den imperialen
Rivalitäten Europas aus, wurde gegenüber dem Nazireich zu einem wichtigen
Exilland verfolgter Deutscher und mit Beginn des Kalten Krieges ein Mitglied
der NATO. Weder durch den arabischen Nationalismus noch durch den
islamistischen Fanatismus ließ sich die Türkei an engen Beziehungen zu Israel
hindern. Als Teil des Westens schloss sie den Assoziationsvertrag mit der EU
1963, der ihr deshalb im Unterschied zu allen anderen Assoziationsverträgen
eine Beitrittsperspektive einräumte und sie damit gegenüber anderen
Nachbarstaaten der EU am Mittelmeer in ihrer besonderen internationalen
Stellung bestätigte. Deshalb ist das Bild einer Brücke zur islamischen Welt
irreführend. Die Gründung und Begründung der Türkei durch Ata Türk war ein
bewusster Bruch mit der osmanischen, islamisch geprägten Vormacht im Mittleren
Osten und eine Wendung nach Europa. Für die moderne Türkei ist die
Mitgliedschaft in der EU der Schlussstein ihrer europäischen Vorgeschichte.(10)
Für die EU würde die Mitgliedschaft der Türkei nicht die Eröffnung einer neuen
Erweiterungsrunde, sondern eine Abrundung ihrer jetzigen Stellung im Westen und
in der Staatenwelt bedeuten.(11)
Anders wäre unter den
genannten übergeordneten Fragestellungen ein Beitrittswunsch der Ukraine zu
bewerten, der im Übrigen bis vor kurzem nicht weniger scheinhaft blieb als die
Beschwörungen der Demokratie, hinter denen sich die realen Machtverhältnisse
der Ukraine verbergen. Gerade gegenüber den immer neu erhobenen Forderungen
ukrainischer Politiker, der Ukraine ein Beitrittsversprechen zu geben, erwies
sich die Notwendigkeit, die Außenpolitik der EU und ihre internationale
Integrationspolitik nicht auf die Erweiterung zu reduzieren. Die demokratischen
Veränderungen in der Ukraine geben jetzt Gelegenheit, eine Politik der guten
Nachbarschaft und der Integration jenseits der eigenen, möglichst porösen
Grenzen zu konkretisieren und in die Tat umzusetzen.
In der spezifisch deutschen
Erweiterungsrhetorik der Neunzigerjahre galten das »Beitrittsversprechen« und –
etwas schamhafter, aber umso irreführender – die »europäische Perspektive« als
»Karotte« und »Zuckerbrot«, um Reformen anzuregen. Demokratie und Reform
sollten so durch die Aussicht auf den EU-Beitritt in Wert gesetzt werden, so
als ob sie an sich keinen hätten. Das Dilemma, in das sich die EU mit dieser
Rhetorik bringt, zeigt sich vor allem in der Politik gegenüber Russland: Kann
die EU auf die Einhaltung demokratischer Normen nur dringen, wenn sie damit ein
Beitrittsangebot verbindet? Das Eintreten für die universelle Geltung von
Menschenrechten und Demokratie an das Beitrittsangebot an eine regionale
Organisation zu koppeln, ist offensichtlich absurd und ginge implizit von einer
Globalisierung der EU als Bedingung der Durchsetzung universeller Normen aus.
Gegenüber Russland als einer der beiden europäischen Flügelmächte wird die
Absurdität dieser Vorstellung deutlich. Das zeigt aber nur, dass die EU
generell die »Kopenhagener Kriterien« nicht als Hürde für einen rundum
versprochenen Beitritt oder den Beitritt als »Karotte« für ihre Geltung
betrachten darf, sondern von sich aus klären muss, wo ihre Grenzen als
politisches Subjekt einer globalen, aber differenzierten Integrationspolitik
liegen. Die EU wird also eine regional begrenzte Form finden müssen, in der sie
die globale Geltung des universellen Anspruchs der Kopenhagener Kriterien am
besten befördern kann. Ohne Demokratie kein Beitritt heißt nicht: ohne
Beitrittsangebot keine Forderung und Förderung von Demokratie. Für die Politik
gegenüber der Ukraine heißt das: Die EU muss ihre Nähe und zivilisatorische
Attraktion für die Demokratisierung und Reformierung der Ukraine nutzbar
machen, ohne dieses in einer globalen Integrationspolitik angelegte Ziel mit
einem Beitrittsversprechen zu ihrer engeren regionalen Organisation zu
verknüpfen. Demokratie als universelle Norm und Mitgliedschaft in der EU als
einer Regionalorganisation sind grundsätzlich inkongruent: ohne Demokratie
keine Mitgliedschaft, aber keine Verallgemeinerung der Mitgliedschaft über die
möglichst globale Verwirklichung universeller Normen. Die EU muss die Geltung
dieser Normen in ihrer Nachbarschaft und global fördern, ohne ihren eigenen
politischen Ort zu entgrenzen. Sich institutionell zu begrenzen, führt zu einer
Differenzierung der Politik nach innen und außen, muss aber keine
Provinzialisierung bedeuten.
Die Türkei bliebe ohne
Integration in den Westen und die Mitgliedschaft in der EU ein Solitär auf der
internationalen Bühne, der sich fast zwangsläufig an abgelegten Rollen des
Osmanischen Reiches orientieren und sich als Sammelpunkt der Turkvölker
und/oder Zentrum der islamischen Welt versuchen müsste. Aus einem Fixpunkt des
Westens und der europäischen Politik könnte nolens volens ein weiterer
Unsicherheitsfaktor der internationalen Ordnung werden.
Die Ukraine dagegen bliebe
selbst bei einer stärkeren Westorientierung(12) eng mit dem russischen
Kraftfeld verbunden. Die Ukraine ist ja nicht nur stark durch russische
Traditionen geprägt, auf russische Energielieferungen und den russischen Markt
für ihren Export angewiesen: ein wesentlicher Teil ihrer wirtschaftlichen und
politischen Elite bleibt vor dem zaristisch-sowjetischen Hintergrund
transnational mit der russischen Elite verknüpft.(13) Die Politik gegenüber der
Ukraine muss von vornherein als Teil einer politischen Konzeption gegenüber dem
postsowjetischen und russisch geprägten Orbit begriffen werden.
Die letzten Jahre haben
gezeigt, wie illusionär die Vorstellung war, Russland verschwände mit der
Auflösung der Sowjetunion als regionales Kraftfeld von der Bühne und könnte
nach und nach um jeden Einfluss in seiner Nachbarschaft gebracht werden.(14)
Russland wächst erneut in die Rolle eines regionalen Machtzentrums hinein, das
gestützt auf traditionellen Einfluss und ihren Energie(rohstoff)export, regionale
Integrationsanstrengungen unternimmt.(15)
Die Existenz eines
»Zwischeneuropa«, so historisch belastet dieser Begriff auch ist,(16) das heißt
von Staaten, in denen sich das westlich-europäische und das
osteuropäisch-russische Kraftfeld überlappen, lässt sich nicht länger übersehen
oder schamhaft verleugnen. Die Zwischenstellung ist keine Frage der Wahl,
sondern eine Tatsache. Wer den Begriff eines »Zwischeneuropa« ablehnt, mag in
Anlehnung an die Transitfunktion von Staaten wie der Ukraine und Weißrussland
von einem »Brückeneuropa« zwischen EU und Russland sprechen. Am politischen
Problem ändert sich dadurch nichts.(17) Ihre politische Unabhängigkeit werden
diese Staaten nur sichern können, wenn sie es lernen, mit diesem »Zwischen« im
eigenen Interesse klug umzugehen, und wenn Russland und die EU sich bereit
finden, in diesen sich überlappenden Integrationsräumen vernünftig und
verlässlich zusammenzuarbeiten, statt die klassische Rivalität um
Einflusssphären neu aufzulegen.
Hier kann es nicht darum gehen,
eine umfassende oder gar detaillierte Konzeption einer EU-Nachbarschaftspolitik
gegenüber Russland und den anderen Staaten, die aus der Sowjetunion
hervorgegangen sind, vorzustellen. Es sollte jedoch gezeigt werden, dass unter
den genannten übergeordneten, wenn man so will geopolitischen Gesichtspunkten
einer globalen Integrationspolitik, in der die EU eine verantwortungsvolle
Rolle übernimmt, die Vorstellung einer permanenten Erweiterungspolitik sich als
leere Illusion oder als selbst inszenierter Albtraum erweist. Der politische
Ort der EU ist durch die jetzige Erweiterungsrunde, die Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei und die Anstrengungen gegenüber Südosteuropa klar umrissen und
auch historisch wohl begründet. Diese Ortsbestimmung der EU in einer globalisierten
und auf globale Integration angewiesenen Welt ist eine der Voraussetzungen für
eine konsequente Politik guter Nachbarschaft im Osten wie im Süden, die
ihrerseits Teil einer internationalen Politik bildet, für die sich der Westen
im Rahmen der UNO stark machen sollte. Integrationspolitik bedeutet keine
regionale Beschränkung. Sie ist Inbegriff der politischen Anstrengungen, die
durch die Globalisierung herausgefordert werden. Sie bezeichnet den
makropolitischen Aspekt einer Herausforderung, deren mikropolitischer Aspekt
mit »state-building«(18) umrissen ist.
Wenn die Bemühungen um eine
neue Weltordnung im Rahmen der UNO freilich letzten Endes schief gehen sollten,
könnte die EU auf eine Position reiner Selbstbehauptung in einer immer weiter
aus den Fugen geratenden Welt zurückgeworfen werden. Das bedeutete nicht schon
das Ende der EU, aber doch ihr Scheitern als politisches Projekt mit globaler
Ausstrahlung und Wirkung.
Im Großen und Ganzen hat sich
die EU in den krisenhaften Entwicklungen der letzten Jahre als Faktor von
Zivilisierung und Stabilisierung bewährt. Doch zugleich nehmen die inneren
Spannungen zu. Hier soll nicht auf die bekannten Gefährdungen des Sozialmodells
durch veränderte Wirtschaftbedingungen und demographische Entwicklungen näher
eingegangen werden, sondern auf den Zusammenhang von europäischer Integration
mit der Ausbildung einer politischen Mitte in den Mitgliedsstaaten. Diese neue
Mitte ist ein durch und durch politisches Phänomen, das in einer breiten
Mittelklasse zwar günstige Voraussetzungen findet, aber doch ganz von der
öffentlichen Meinungs- und Willensbildung abhängt. Sie findet ihren ersten
Ausdruck in einer allgemeinen Zustimmung zu Menschenrechten, demokratischen Freiheiten
und republikanischer Gewaltenteilung. Daraus speist sich ein
Verständigungswillen auch in komplexen Problemen, eine Fähigkeit, Werte und
Interessen untereinander und miteinander abzuwägen und deshalb
Mehrheitsentscheidungen auszuhalten, ohne antagonistische Gegensätze zu
konstruieren, um die eigene Position fundamentalistisch zu befestigen. Es ist
evident, dass eine solche politische Mitte in einem außenpolitischen Umfeld, in
dem Verständigung und Integration Rivalität und Kriegsrüstung überwiegen,
besser gedeiht als in der Epoche der europäischen Weltkriege. Umgekehrt wurde
diese Mitte zur wichtigsten Bedingung dafür, dass die Europapolitik in den
Mitgliedsstaaten bisher nicht durch innenpolitische Frontbildung in einzelnen
oder mehreren Mitgliedsstaaten gelähmt wurde.
Es könnte sich in den
kommenden Jahren zeigen, dass eine Schwächung der Fähigkeiten in den
Mitgliedsstaaten, eine belastbare politische Mitte auszubilden, die
Europapolitik bereits gefährden könnte, ehe die Stabilität in den Mitgliedsstaaten
selbst grundlegend in Frage gestellt wird.
Zum Vehikel einer solchen
Entwicklung könnten Referenden in Fragen der Europapolitik werden. In der
Ablehnung der europäischen Integration wirken nationalistische und
linksfundamentalistische Strömungen so wirkungsvoll zusammen wie auf keinem
anderen Feld. Hier vor allem können sie populistische Anziehung entfalten, weil
die EU zugleich der bürokratischen Diktatur wie der Irrelevanz bezichtigt
werden kann. Alles Unbehagen an der Moderne und Globalisierung kann hier
scheinbar gefahrlos für das eigene Nest mobilisiert werden.
Jeder politischen Strömung,
für die Eroberung und Entfaltung von Macht das Wesen von Politik ausmacht,
bleibt die Europäische Union, die ohne Verständigung, Pluralismus und mainstream
nicht funktionieren kann, ohnehin fremd.
Als Staatenunion kann die EU
auch nicht dem innerstaatlichen Modell eines Wechselspiels von Opposition und
Regierung folgen, was als demokratisches Defizit erscheint, wenn die
innerstaatlichen Formen von Demokratie unversehens als Modell jeder Form
demokratischer Partizipation wahrgenommen werden. Und gerade weil die
Plebiszite in europäischen Fragen aus Rechtsgründen die Form von
innerstaatlichen Abstimmungen behalten, können sich in ihnen nationale
Vorurteile und nationalistische Phobien besonders unkontrolliert austoben. Die
Vorstellung, dass es am Ende von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei in einer
Reihe von Mitgliedsstaaten, darunter auch in Frankreich, zu Plebisziten über
die Mitgliedschaft der Türkei kommen soll, kann einen das Gruseln lehren, in
erster Linie nicht, weil man ein negatives Ergebnis fürchten muss (darauf haben
die Befürworter Einfluss), sondern weil die Form der Auseinandersetzung so viel
Porzellan zerschlagen kann, dass auch bei einem Erfolg des Beitrittsbegehrens
der Beitritt mit schweren emotionalen Hypotheken belastet bleibt.
Im Falle eines französischen
Plebiszits könnten zum Beispiel antibritische oder antideutsche Ressentiments
hervorragend mit antitürkischen und antiislamischen Vorurteilen kumulieren,
indem unterstellt wird, die einen wollten die anderen nur in der EU haben, um
Frankreich zu schwächen und die EU als Gegenmacht zu den USA verhindern. Eine
fürchterliche Suppe kann da angerührt werden. Ihre vergiftende Wirkung kann von
den Befürwortern, auch wenn sie sich argumentativ durchsetzen, nicht verhindert
werden. Insofern bedeuten solche Plebiszite selbst im Falle einer Niederlage
ein Heimspiel für die Ablehnungsfront. Ihre diffusen, ja antagonistischen
Parteigänger machen so oder so am Ende Kasse.
Die Entwicklung der EU
könnte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten vor allem dadurch gefährdet
werden, dass die Wechselwirkung der Ausbildung von politischer Mitte in den
Mitgliedsstaaten mit einer erfolgreichen, aber undramatischen europäischen
Integration gestört wird und abbricht. Trotz der großen internationalen
Herausforderungen nach 1989, der Bedrohungen durch Staatszerfall,
Massenvernichtungswaffen und terroristischem Islamismus und trotz der
wachsenden globalen Verantwortung der EU dürften insofern die Entwicklungen in
den einzelnen Mitgliedsstaaten entscheidend für die Zukunft der Europäischen
Union sein. Auf diese Entwicklungen hat die Politik der EU selbst nur einen
begrenzten Einfluss. Auch eine Union mit Verfassung bleibt ein fragiles
Gebilde, das ganz auf die Klugheit der Politik in den Mitgliedsstaaten und das
Engagement der europäischen Bürgerinnen und Bürger setzen muss.
1
Tony Judt: Große Illusion Europa. Herausforderungen und
Gefahren einer Idee, München 1996, S. 159.
2
»In mancher Hinsicht kann das Entstehen der europäischen
Gemeinschaft in den fünfziger Jahren als Zufall bezeichnet werden. Weder ihre
Gestaltung und ihre Mitglieder hatte man vorausgesehen, noch waren sie
voraussehbar gewesen. Noch im September 1947 hatte George F. Kennan den
Europäern jegliche Fähigkeit zu einer gemeinschaftlichen Vision und zu einer
Verständigung abgesprochen, weshalb das amerikanische Außenministerium
›einseitig entscheiden‹ müsse, was gut für sie sei. Zu jenem Zeitpunkt hatte er
durchaus recht: Im Juni 1948 stimmte die französische Nationalversammlung mit
nur 4 Stimmen Mehrheit der Schaffung einer deutschen föderativen Autorität in
den drei Westzonen (der französischen, der britischen und der amerikanischen)
des besetzten Deutschland zu.« Tony Judt,
a.<|>a.<|>O., S.<|>33.
3
Vgl. zu dieser veränderten Konstellation u.<|>a.
Timothy Garton Ash: Freie Welt. Europa, Amerika und die Chance der Krise,
München 2004.
4
Nämlich nur auf Basis der Wiederherstellung des dynastischen
Legitimitätsprinzips nach der Niederlage Napoleons und mehr schlecht als recht
nach der Etablierung des Nationalprinzips im Zentrum des europäischen
Staatensystems durch die Gründung des Deutschen Reiches 1871, bevor es 1914 im
Ersten Weltkrieg vollends zerbrach.
5
Von ihr als politischer Aufgabe sprach Joschka Fischer in
einem Interview mit der FAZ, 6.3.2004.
6
So besteht für Jürgen Habermas die politische Substanz einer
Verfassung der EU »in der definitiven Antwort auf die Frage der territorialen
Ausdehnung der EU und in einer nicht allzu definitiven Antwort auf die Frage
der Kompetenzabgrenzung innerhalb des politischen Mehrebenensystems«. Die
jetzige Verfassung vermeidet jede Antwort auf die erste Frage. S.
»Braucht Europa eine Verfassung?«, in: Jürgen Habermas: Zeit der Übergänge,
Frankfurt am Main 2001, S. 127.
7
Viele Beiträge der Kontroverse sind nachzulesen in Die
Türkei und Europa. Die Positionen, hrsg. von Claus Leggewie, Frankfurt am
Main 2004; s. zuletzt auch Ernst-Wolfgang Böckenförde ablehnend in seinem
Vortrag zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises, s. Beilage in dieser Ausgabe
der Kommune, und Karl Otto Hondrich befürwortend in NZZ,
6.12.2004 (»Vom Sog des Kreises«).
8
Es ist schon merkwürdig, wie gerade Historiker, besonders
auftrumpfend Hans-Ulrich Wehler, mit kulturalistischen
Kontinuitätsgesichtspunkten der Türkei die Tür verschließen wollen und darüber
den konstruktivistischen Ansatz der EU aus dem Auge verlieren. Über die
vergleichsweise idyllische Binnensicht auf ein paar Jahrzehnte europäischer
Integration in Westeuropa werden die Herausforderungen und Wagnisse vergessen,
denen sich die EU nach zwei Weltkriegen bei ihrer Gründung gegenübersah und
jetzt nach Kaltem Krieg und Globalisierung als Ordnungsfaktor erneut
gegenübersieht.
9
Letzten Endes handelt es sich hier um ein globales
totalitäres Gegenkonzept zum Universalismus des Westens und der UNO-Ordnung.
Der 11. September 2001 hatte für dieses Projekt den Sinn einer
Eröffnungsschlacht.
10
Im Zusammenhang mit der erbitterten Diskussion in Frankreich
ist ein Reisebericht des Mitglieds der Académie française, Georges Duhamel, von
1954 interessant mit dem Titel La Turquie Nouvelle. Puissance d´Occident.
Dort hieß es unter anderem: »La France, dans l’ensemble connait un peu la
Turquie légendaire; elle connaît très mal la Turquie nouvelle«. Mit
Leidenschaft wurde die Unterstützung für den europäischen Weg der Türkei
eingefordert: »La Turquie fait partie de l’Europe.« Die Türkei müsse sich auf
Grund ihrer bedeutenden Rolle in der Geschichte der westlichen Zivilisation
darauf vorbereiten, in Abstimmung mit den westlichen Staaten das Werk dieser
Zivilisation fortzusetzen. Dabei werde
sich zeigen: »L’Amérique n’est pas l’Occident; elle est l’Extreme-Occident.« So viel
auch zu der Behauptung, es handle sich bei dem angestrebten Beitritt der Türkei
um eine US-Intrige.
11
Das Beitrittsangebot an die Türkei kann nicht auf eine
Brückenfunktion gegenüber den arabischen Staaten und der islamischen Welt
abzielen. Für eine solche Funktion böte sich tatsächlich eher eine »privilegierte
Partnerschaft« an. Durch den Beitritt zur EU würde die Türkei eher einen
Eckpfeiler der EU bilden, der dieses politische Konstrukt in Richtung Mittlerer
Osten und Kaukasus festigt und begrenzt. Insofern hat Ernst-Wolfgang
Böckenförde Recht, wenn er das Brückenargument als Beitrittsgrund in Zweifel
zieht.
12
Für die Integration der Ukraine in NATO und EU macht sich
stark: Ronald D. Asmus: A Strategy for Integrating Ukraine in the
West, Conflict Studies Research Centre, April 2004.
13
»... the more formidable
›oligarchic‹ interests in Ukraine – the fuel and energy complex, the financial
and banking sector and, indeed the security and intelligence network – are
transnational structures de facto, moreover not transnational European
structures, but structures of the former Soviet Union, collusive and highly
inbred and wedded to a mode of business largely opaque to outsiders.« So James
Sherr: The Enlargement of The West & The Future of Ukraine,
Conflict Studies Research Centre, February 2002.
14
Ein konservativer Beobachter wie Alexander Gauland hatte
früh vor solcher Illusion gewarnt, s. Helmut Kohl. Ein Prinzip,
Berlin 1994, S. 121<|>ff.
15
Diese Anstrengungen der Russischen Föderation stützen sich
weniger auf zivilisatorische Attraktion als auf wirtschaftliche und
sicherheitspolitische Vormacht. Die Abhängigkeit negieren zu wollen, ist wenig
Erfolg versprechend. Sinnvoller wäre es wohl, auf Basis von Demokratie und
politischer Unabhängigkeit durch umfassende Reformen die eigenen Potenziale zu
stärken und so die Abhängigkeit in Interdependenz zu verwandeln. Dabei zu
helfen, wird ein entscheidender Aspekt der Nachbarschaftspolitik der EU in
Osteuropa sein müssen.
16
Er entstand in der Zeit nach dem I. Weltkrieg und meinte
damals die wieder und neu gegründeten Staaten, die aus der Niederlage der
Kontinentalimperien hervorgingen und sich den frustrierten
Hegemonialbestrebungen des Deutschen Reiches und der Sowjetunion
gegenübersahen, während sie für die »Westmächte« nur als »cordon sanitaire«
Relevanz hatten. In dieser Konstellation bezeichnete »Zwischeneuropa« eine
Objektrolle, die Rolle eines Spielballs im chaotisierten europäischen
Mächtesystem der »Zwischenkriegszeit«. In der imperialen Epoche versprach ein
»Zwischen« nichts Gutes. In anderer Konstellation kann das anders sein.
17
Gegenüber der Ukraine und potenziell gegenüber Weißrussland
trifft die Argumentation E.-W. Böckenfördes zu, dass politische
Selbstständigkeit bei enger Partnerschaft eine solche Brückenfunktion und das
Hinüberreichen auf beide zu überbrückenden Seiten erleichtert, vgl. Anm. 11.
18
Vgl. dazu inzwischen auch Francis Fukuyama: Staaten
bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik, Berlin
2004.