Joscha Schmierer

 

Die EU mit Verfassung

 

Ein offenes, doch begrenztes politisches Projekt

 

 

 

Die Verfassung der EU ist kein Gründungsdokument, sondern Produkt eines kontinuierlichen Prozesses der europäischen Integration. Ausgangspunkt sind die Römischen Verträge, Stationen sind Maastricht, Amsterdam und Nizza. Geeinigt hat man sich nun auf eine Staatenunion, die mit einer Bürgerunion verschränkt werden soll. Als politisches Projekt steht die EU als etwas qualitativ Neues da, entstanden aus historischen Brüchen. Mit der Globalisierung stellen sich ihr neue Fragen, ändert sich ihre Selbstdefinition, was sich auf ihre Rolle in der Welt (»Rekonstruktion des Westens«) sowie auf ihre Integrations- und Beitrittspolitik auswirken muss.

 

Verfassung – das klingt in vielen Ohren nach Ursprung und Gründung, nach Bruch und Neuanfang. Davon kann bei der Verfassung der EU keine Rede sein. Sie ist Ausdruck von Kontinuität und Entwicklung. Eben deshalb tun sich viele schon mit dem Begriff der Verfassung für das neu beschlossene Regelwerk der Europäischen Union schwer.

Ausdruck von Bruch und Neuanfang sind dagegen die jetzigen Erweiterungen der Europäischen Union um zunächst zehn, dann noch mal zwei Mitglieder, sind die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und der Einschluss der Balkanstaaten, der mit dem Stabilitätspakt für Südosteuropa ermöglicht und seit dem Gipfel von Thessaloniki ausdrücklich angestrebt wird.

Die Verfassung der EU, wie sie durch den Gipfel Ende Juni 2004 beschlossen wurde, zeigt die Bemühung, den Neuanfang mit den jetzigen und den bevorstehenden Erweiterungen in die Kontinuität der bisherigen Entwicklung der EU einzugemeinden. Es wäre nicht ohne bittere Ironie, wenn die Verfassung im Ratifikationsprozess scheitern würde, nachdem die neue Erweiterungsrunde unwiderruflich in Gang ist. Es wäre ein Zeichen dafür, dass das Streben nach Kontinuität und die neuen Anforderungen in einer gegenüber der Gründung der EU völlig veränderten Situation sich nicht ohne weiteres decken.

 

Integration als Prozess

Um den Gedanken etwas auszuführen: Die Wurzeln der jetzigen Verfassung reichen weit hinter den Zusammenbruch des Sowjetimperiums und das Ende der Blockkonfrontation zurück, die die neuen Erweiterungen erst ermöglicht haben. Von Rom über Maastricht, Amsterdam und Nizza ist der Verfassungsprozess der EU schrittweise vorangekommen. Es ist kein schwieriges Gedankenexperiment, sich die neue Verfassung ganz als Ergebnis des westeuropäischen Integrationsprozesses in der EU vorzustellen, obwohl ihre Verabschiedung durch den Europäischen Rat zeitlich mit dem Beitritt der neuen Mitglieder zusammenfiel. Für den Verfassungsprozess der EU kann man sich »1989« wegdenken, um ihn sich ausschließlich als »Vertiefung« der Integration im Westen vorzustellen.

Mit der Verfassung wird wie mit den westeuropäischen Erweiterungen und der Währungsunion eine Entwicklung fortgesetzt, die mit der Montanunion in Gang gekommen war und mit den Römischen Verträgen einen prägenden integrationsfördernden Rahmen erhalten hatte. Auch in den bisherigen vertraglichen Regelungen hatte die EU eine »Verfassung«, ihre spezifische Verfassung von Verträgen zwischen Mitgliedsstaaten, die über die Etablierung von gemeinsamen Institutionen und Verfahren immer stärker in die inneren Entwicklungen der Mitgliedsstaaten eingriff. In dem Maße, wie in dieser Verfassung Mehrheitsentscheidungen unter den Staaten ermöglicht wurden, musste eine Repräsentation der europäischen Bürger geschaffen werden, die durch ein transnationales Votum die Überstimmung von Staaten durch Staaten kompensieren kann. Die Überwindung des Konsensprinzips der Staatenunion verlangt einen transnationalen Ausgleich durch die Mitentscheidung des Europäischen Parlaments.

Im Konstitutionsprozess der EU geht es von Anfang an und so auch in der jetzigen Verfassung um die Ergänzung der Staatenunion um eine Bürgerunion: Die Eingriffe in das Innere der Mitgliedsstaaten durch die Staatengemeinschaft verlangt eine gemeinsame Repräsentation der Bürger dieser Staaten auf Ebene der EU. Mit der Reichweite und Tiefe der Eingriffe der Staatenunion müssen die Rechte der Bürgerunion gestärkt werden. Die Legitimations- und Entscheidungsstränge von Staaten- und Bürgerunion müssen so miteinander verschränkt werden, dass weder die Entscheidungsfähigkeit noch die Legitimation der EU unter ihrer unüberwindlichen Doppelstruktur allzu sehr leidet. Dies war und bleibt das widersprüchliche Konstitutionsproblem der Europäischen Union.

Die Fortschritte des Verfassungsprozesses bestehen nicht in der Beseitigung und Unterdrückung der Doppelstruktur der EU als Staaten- und Bürgerunion, sondern in der besseren Verknüpfung der beiden Seiten. Das Verfassungsproblem der EU bleibt immer das Gleiche: Wie können die Mitgliedsstaaten effektiv und demokratisch legitimiert in einem Integrationsprozess zusammenwirken, der tief in ihr inneres Gesellschaftsleben eingreift, auch Widerstände hervorruft und der deshalb durch die Bürger der Mitgliedsstaaten auf der Ebene der Gemeinschaft selbst mitgestaltet und kontrolliert werden muss?

Bleibt das Konstitutionsproblem der EU im Wesentlichen unverändert und sucht der Verfassungsprozess nach Regelungen, die den tatsächlichen Integrationsschritten gerecht werden und weitere ermöglichen, so zeigen die jetzigen und die ins Auge gefassten Erweiterungen an, wie gründlich sich die internationale Konstellation gegenüber der Gründungssituation der EU verändert hat.

 

Epochenbrüche als fast schon vergessene Voraussetzungen des Integrationsprozesses

Die Schlüsseldaten für die europäische Integration im Westen waren die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das definitive Scheitern seiner imperialen Europapolitik mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945, die Zementierung der deutschen Spaltung durch Gründung der Bundesrepublik und der DDR in den Anfängen des Kalten Krieges 1949, und dann 1956, als mit der Niederschlagung des Ungarnaufstandes durch die Sowjetunion und der Unfähigkeit des Westens, dies zu verhindern, die Spaltung Europas, und damit die Spaltung Deutschlands, für absehbare Zeit besiegelt wurde. Das gleichzeitige Scheitern des Suezabenteuers Frankreichs und Großbritanniens am Einspruch der beiden Supermächte signalisierte, dass das Ende der europäischen Kolonialmacht unaufhaltsam herannahte. Die dauerhafte Konfrontation der Blöcke in Europa und der Niedergang europäischer Kolonialmacht waren neben der Zerschlagung des Deutschen Reiches weitere Bedingungen für die Gründung der EG in Rom 1957. Die Gründung der EG und dann die Integration als Prozess waren damit Reaktion auf wenigstens drei große Negationen der jüngeren europäischen Geschichte: die Negation der deutschen Machtstellung in Europa, die Negation der europäischen Kolonialmacht in der Welt und die Negation des europäischen Staatensystems durch die Vorherrschaft der europäischen Flügelmächte USA und Sowjetunion, die als Supermächte die beiden einzigen Weltmächte blieben. Die eine Supermacht schützte eine Hälfte Europas vor der anderen Supermacht, die die zweite Hälfte Europas beherrschte. Unversehens stand Westeuropa vor der Notwendigkeit, sein Glück in der Verständigung untereinander und in den gemeinsamen zivilen Entwicklungspotenzialen zu suchen. 1957 zeigten sich die Gründungsmitglieder der EG entschlossen, die Situation der Schwäche als Chance für einen Neuanfang zu nutzen.

 

Integration wie im Selbstlauf

Von den Bedingungen, die die Gründung der EG ermöglichten, waren zwei entscheidend, die beide durch die Blockkonfrontation garantiert waren: Die Einheit des Westens und die Spaltung Deutschlands. Die Einheit des Westens wurde durch die Blockkonfrontation objektiv befestigt. Die Spaltung Deutschlands ermöglichte die Westbindung der Bundesrepublik ohne die Ordnungsprobleme aufzuwerfen, an denen das europäische Staatensystem nach 1871 schließlich zerbrochen war.

Die EG wurde in eine übersichtliche internationale Konstellation hineingegründet. Die Blockkonfrontation wirkte als globaler Ordnungsmechanismus. Der Ordnungsrahmen der UNO ermöglichte die formelle Eingliederung der bisherigen europäischen Kolonien in die Staatenwelt. In einer Welt, die durch das Gleichgewicht des Schreckens zusammengehalten wurde, reichte die Ordnungsmacht der beiden Supermächte in ihren Blöcken aus, um eine prekäre globale Stabilität zu sichern, die schließlich sogar Entspannungsprozesse zwischen den Supermächten und den Blöcken ermöglichte. Die Blockfreienbewegung bestätigte das Gleichgewicht der Blöcke und stellte die Blöcke selbst nicht in Frage. So hielt der Ordnungsmechanismus der Blockkonfrontation gerade auch die Blockfreienbewegung zusammen.

Die Welt des Kalten Krieges war alles andere als ein Idyll. Antikoloniale Befreiungskriege schlugen in Stellvertreterkriege um, die sich über Jahre und Jahrzehnte hinziehen konnten. Doch von Westeuropa aus gesehen hatte diese internationale Situation den Vorteil, relativ übersichtlich zu sein. Gewiss, der Prozess der Entkolonialisierung war vielfach blutig und für die europäischen Kolonialmächte schmerzlich. Aber schon bald war absehbar, dass er früher oder später in formell unabhängige Staaten münden würde, die einen Sitz in der UNO einnehmen und formell in die Staatenwelt integriert sind. Die Sowjetherrschaft über Teile Europas war verurteilenswert, zugleich aber schien sie kalkulierbar als die andere Seite der Blockordnung. Die Gefahr eines Atomkrieges blieb zwar präsent, zugleich wurde sie immer irrealer. Davon zeugte nicht zuletzt die sanfte, Hysterie nur inszenierende Friedensbewegung der Achtzigerjahre.

Es lässt sich nicht leugnen: Die brutale Blockordnung hatte Europa zwar ins Zentrum der Auseinandersetzung, zugleich aber Westeuropa zunehmend in einen Schönwetterwinkel der Weltgeschichte gerückt, wo die Kriegsgefahr eben wegen des Gleichgewichts des Schreckens immer abstrakter wurde und sich die zivilen und libertären Seiten der europäischen Gesellschaften so geschützt entwickeln konnten wie nie zuvor. Die portugiesische Nelkenrevolution bezeichnete da einen abschließenden Erfolg auf der ganzen Linie.

Die europäische Integration im Westen konnte lange Zeit als Prozess verstanden werden, der im Windschatten des Kalten Krieges und unter dem Atomschirm der USA fast im Selbstlauf vorankam. So zumindest wurde er vom größten Teil der Bevölkerung in den Mitgliedsstaaten wahrgenommen. Noch die Krisen der Einigung fanden eine undramatische Lösungsform: Es wurde die Uhr angehalten. Von Nächten der langen Messer konnte umso unbefangener geredet werden, als die Verhandlungskompromisse gleichzeitig ohne weiteres als das Ergebnis eines Kuhhandels diffamiert werden konnten.

Die europäische Integration im Westen hat entscheidend zur Demokratisierung dieses Teils des Kontinents beigetragen, ausdrücklich und offensichtlich in Griechenland, Spanien und Portugal, weniger offensichtlich in den beiden Kernländern der EG, in Westdeutschland und Frankreich. Dass sich die beiden Staaten als Partner sehen konnten, erleichterte die Ausbildung von Zivilgesellschaften im Inneren. In der Bundesrepublik waren Westbindung und europäische Integration Aspekte eines Staatsbildungsprozesses, der ohne sie überhaupt nicht verstanden werden kann. Diese Selbstverständlichkeiten der westdeutschen Staatsbildung treten erst wieder stärker als außergewöhnliche historische Chance ins Bewusstsein, wo sie mit der Vereinigung auf ein Deutschland treffen, dessen Staatsbildung in einem ganz anderen Kontext stand. Aber auch für Frankreich war die europäische Integration an wichtigen Punkten seiner Nachkriegsgeschichte eine Orientierungshilfe in den Auseinandersetzungen um die Entkolonialisierung, in denen autoritäre und putschistische Gefahren gelauert hatten. Die politischen Bewegungen der späten Sechzigerjahre und ihre intellektuelle Vernetzung waren dann ein Ausdruck dieser integrativen Aspekte der Nachkriegsgeschichte in Westeuropa.

 

Szenenwechsel auf der Weltbühne

Trotz der tiefgreifenden Einflüsse auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der Mitgliedsstaaten konnten die Integration und die ausgreifenden Erweiterungen über den Kreis der sechs ursprünglichen Mitgliedsstaaten hinaus in Westeuropa fast als beiläufig erscheinen. Das änderte sich mit 1989 und dann der Auflösung der Sowjetunion 1991 gründlich. In dem Maße, wie die Koordinaten ihrer Entstehung sich veränderten oder ganz entfielen, konnte die europäische Integration nicht mehr als Prozess im Selbstlauf verstanden werden. Zunehmend muss sich die EU als politisches Projekt selbst definieren. Wie weit die Bürger der Mitgliedsstaaten sich dessen bewusst sind und die politischen Konsequenzen ziehen, die sich aus dieser Verschiebung ergeben, wird sich zeigen. Tony Judt, der englische, in den USA lehrende Historiker, äußerte vor ein paar Jahren grundsätzliche Zweifel, ob die EU in einer Konstellation, die sich gegenüber ihren Entstehungsbedingungen radikal verändert hat, überleben könnte. Der »Zeitraum zwischen 1945 und 1989« erscheine »immer mehr als Parenthese«. Je weiter wir uns vom Jahr 1945 entfernten, desto mehr schwänden »die Beweggründe, dem Vergangenen etwas Andersartiges entgegenzusetzen«.(1)

Doch passt 1989 nicht ganz gut in die Datenreihe, die das Ende der europäischen Imperialmacht bezeichnet? Mit der Auflösung des Sowjetimperiums bereitete 1989 der neuartigen, weil nun ganz selbstbestimmten Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses den Boden. Das ist der wesentliche Aspekt. Zugleich hat aber 1989 die kontingenten Bedingungen(2) beseitigt, unter denen es in Westeuropa gelang, auf postimperialem Boden den Integrationsprozess überhaupt in Gang zu bringen: Deutschland ist nicht mehr geteilt und der Westen wird nicht mehr von außen zusammengehalten.(3)

 

Gleichheit und Gewichtung

Zwar wurde die deutsche Vereinigung nach kurzem Hin und Her sowie einigem anfänglichen Gesichtverziehen und Zähneknirschen auf Seiten Italiens, Frankreichs und Großbritanniens innerhalb der EU fast reibungslos verarbeitet. Dass das neue Gewicht der Bundesrepublik jedoch die Ausgangsbedingungen der EU tangierte, zeigte sich spätestens mit den Auseinandersetzungen um die Währungsunion, obwohl diese noch ganz westeuropäische Angelegenheit blieb. So waren die Debatten im französischen Referendum weitgehend von der Frage bestimmt, ob die Zustimmung zur Währungsunion auf eine Kapitulation vor der Deutschen Bundesbank und dem stärker gewordenen Deutschland hinauslaufe oder umgekehrt die Währungsunion das einzig probate Mittel sei, um die drohende Übermacht gemeinschaftlich zu beschneiden und Deutschland dauerhaft einzubinden. Verstärkte die Währungsunion die Verschiebung der Gewichte zugunsten Deutschlands oder war sie geeignet, das ursprüngliche Gleichgewicht zu verteidigen?

Spätestens hier wurde deutlich, dass die europäische Integration mit der prinzipiellen Gleichheit der Mitglieder der EU das traditionelle Problem von Gewichtung nach Macht und Einfluss unter ihnen nicht erledigt hatte. Es war lediglich domestiziert worden. Die Spannung zwischen einer Integration unter Gleichen, in deren Verlauf die einzelnen Mitgliedsstaaten immer mehr Teil einer gleichberechtigten Gemeinschaft werden, und den Unterschieden zwischen den Mitgliedern nach Stellung und Gewicht wird ein Kernproblem der europäischen Integration bleiben. Je weniger es begriffen wird, desto vergiftender kann es wirken. Das hatte sich bereits beim Europäischen Rat in Nizza gezeigt, als deutsche Forderungen nach einer scheinbar geringen Neugewichtung der Staatenstimmen zugunsten Deutschlands von Frankreich als prinzipieller Angriff auf die Gleichberechtigung zwischen den beiden Gründungsmitgliedern aufgefasst und bekämpft wurden. Und nicht umsonst wurden die Gewichtungsfragen in der jüngsten Verfassungsdiskussion bei gleichzeitigem Einsatz von Nebelwerfern und Giftpfeilen mit größter Leidenschaft geführt. Der Positionswechsel von Frankreich hin zur doppelten Mehrheit zeigt freilich auch, wie prinzipielle Argumente in der Verfassungsdiskussion manchmal nur instrumentell eingesetzt wurden und wie flexibel die Mitgliedsstaaten in ihren Positionen sein können.

Die Tendenzen zu einem Führungstrio in der Außen- und Sicherheitspolitik und der Verdacht, dass hier ein Direktorium der großen Drei gegenüber den übrigen Mitgliedern gebildet werden solle, zeigen, dass das Spannungsverhältnis von Integration als neuer Erfahrung und den Gleichgewichtsfragen des traditionellen europäischen Staatensystems wirksam bleibt.

Die Rede, »Europa« müsse nach außen »mit einer Stimme« sprechen, macht es sich zu leicht. Selbst einzelnen Staaten, sofern es sich um Demokratien handelt, gelingt das selten. Die gemeinsame Außenpolitik sollte immer wieder eine gemeinsame Melodie finden, die es den verschiedenen Akteuren – Rat, Kommission, europäischer Außenminister, aber auch den Regierungen der einzelnen Staaten – erlaubt, je nach Problem- und Interessenlage sowie den spezifischen Fähigkeiten mit- und zusammenzuwirken, Dissonanzen zu vermeiden und alle Stimmen optimal einzusetzen. Die reiche Instrumentierung wird sich als Stärke der EU erweisen, wenn ihre Außenpolitik einer gemeinsamen Partitur folgt.

Bekanntlich hat das europäische »Konzert der Mächte« nur in restaurativer Absicht und für kurze Zeit funktioniert.(4) In gewisser Weise bedeutet die europäische Integration eine überarbeitete Neuauflage des Versuchs, einer konzertierten europäischen Ordnungspolitik. Sie beruht diesmal nicht auf dem dynastischen Legitimitätsprinzip, sondern folgt dem Demokratieprinzip und einer liberalen Grundorientierung.

Soweit die europäische Integration inzwischen fortgeschritten und institutionell wie prozedural gefestigt ist, hat sie als Staatenunion, die sie in der Außenpolitik weitgehend bleibt, die früheren Versuche eines europäischen »Konzerts der Mächte« eher Erfolg versprechend neu belebt als dauerhaft überwunden. Für diese subkutanen Konfigurationen des vereinten Europa ein kritisches Sensorium zu entwickeln, könnte für eine realitätstüchtige Integrationspolitik, eine europäisch orientierte Publizistik und Öffentlichkeit überlebenswichtig werden. Hier wie in anderen Fragen führt eine falsche Analogie von Staat und Union dazu, dass als Defizit erscheint, was Trumpf der EU sein kann: sich feingliedrig, aber gut abgestimmt in der Welt zu bewegen.

Das andere Schlagwort, dass die EU kein Superstaat, wohl aber eine Supermacht werden solle, führt, obwohl es die Staatsanalogie oberflächlich zurückweist, ebenfalls in die Irre: Die EU wird nicht in der Lage sein, in derselben Frist alle Kräfte auf eine Aufgabe zu konzentrieren und so ein Maximum an Macht zu entfalten, wie es Staaten als Supermacht gelegentlich vermögen. Die EU wird auch in Zukunft eher durch die Macht des Beispiels als durch unvergleichliche Macht wirken.

 

Politische Ortsbestimmung

Bis 1989 musste sich die EG nicht fragen, was sie war, wohin sie gehörte und wie weit sie reichen konnte. Sie war eine primär wirtschaftlich und gesellschaftlich ausgerichtete Suborganisation des Westens, an dessen gemeinsamer Verteidigungsorganisation, der NATO, ihre Mitgliedsstaaten beteiligt waren. Sie gehörte zum Westen und ihre Reichweite in Europa war durch den Eisernen Vorhang eindeutig begrenzt. Es waren diese historischen Bedingungen, die es erlaubten, die europäische Einigung vorwiegend als Prozess der Integration zu verstehen, ohne den Ort bestimmen zu müssen, den die EG und jetzt die Europäische Union ausfüllen will und kann. Seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums reicht diese konzeptionelle Selbstgenügsamkeit nicht mehr aus. Der Westen hat mit dem klar umrissenen Gegner die eigene politische Selbstverständlichkeit verloren. Die EU kann auf den Westen nicht länger als eine selbstverständliche Gegebenheit setzen, sondern muss sich über ihr gemeinsames Interesse an einer »Rekonstruktion des Westens«(5) verständigen und versuchen, ihre Bemühungen um eine freiheitliche internationale Ordnung mit denen der USA in Einklang zu bringen. Der Westen selbst wird damit zum politischen Projekt.

Die EU, die ihre Zukunft durch den dialektischen Prozess von Vertiefung und Erweiterung als hinreichend bestimmt ansehen konnte, solange ihr äußeren Grenzen gezogen waren, sieht sich nun vor die Frage gestellt, wohin Vertiefung und Erweiterung denn jeweils führen sollen. Wo die Grenzen von Vertiefung und Erweiterung liegen, bleibt die offene Verfassungsfrage der EU auch nach Verabschiedung des jetzigen Textes.(6) Sie wird selten offen aufgeworfen und fast nur an Einzelfragen diskutiert, zum Beispiel als »Türkeiproblem«.(7) In die Diskussion des einen Falles wirkt dann der nächste schon hinein, also in die Diskussion über die Türkei die zukünftige Stellung zur Ukraine oder zu Marokko. So torkelt die Diskussion zwischen dem Wunsch nach einem willkürlichen Schlussstrich unter den Erweiterungsprozess und nach seiner grenzenlosen Fortsetzung hin und her. Zuletzt wird die Rettung dann in engen kulturalistischen Identitätsvorstellungen gesucht. Die Angebote liegen auf der Hand. Abendland/Lateinisches Europa: Aber warum dann Griechenland und jetzt Rumänien und Bulgarien? Christentum: Warum dann das durch den Gipfel von Thessaloniki bekräftigte Beitrittsangebot an Südosteuropa einschließlich der muslimisch geprägten Teile?

Das politische Projekt der EU ist durch und durch neu. Es lässt sich nicht als Kontinuität, sondern nur als Bruch mit wesentlichen Zügen europäischer Geschichte begreifen. Der historisierende Einwand gegen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, der auf die »türkische« Bedrohung des Abendlandes und die »Türken vor Wien« zurückgreift, ist nicht nur anachronistisch, sondern absurd und kontrafaktisch: Die deutschen Aggressionstruppen standen bekanntlich dreizehn Jahre und nicht Jahrhunderte vor Gründung der EWG nicht nur vor, sondern in Paris. Wer heute auf europäische Kontinuität pocht, verfehlt den Sinn der EU, die ein Kind des Bruches mit europäischer Geschichte ist und als politisches Projekt einer eigenen Logik folgt.(8) Auf die Dauer wird sich die Frage nach den Grenzen der EU weder von Fall zu Fall, von Beitrittsbegehren zu Beitrittsbegehren noch durch Verweis auf angeblich gegebene Identitäten lösen lassen, sondern nur über die Ortsbestimmung der EU als politisches Projekt in der globalisierten Welt.

 

Die »Finalitätsfrage«

Bekanntlich wurde in der jüngsten Verfassungsdiskussion die »Finalitätsfrage« sorgfältig vermieden. Sie ist mit der Eindeutschung der französischen »finalité« auch kaum zu beantworten, weil in der Vorstellung eines wolkigen »Endzweckes« die Frage nach den irdischen Grenzen des europäischen Integrationsprojektes völlig verschwindet. Grenzen in diesem Sinn wirken als Leitplanken eines entwicklungsfähigen politischen Projektes und nicht als Schranke der Entwicklung.

Die inneren Grenzen der europäischen Integration haben sich inzwischen praktisch herausgestellt. Sie sind durch die Mitgliedsstaaten als die primären Subjekte der Integration gezogen. Die Mitgliedsstaaten werden sich nicht in Untergliederungen eines Bundesstaates verwandeln lassen. An die Stelle der dem Integrationsprozess aufgepfropften Alternative von Staatenbund oder Bundesstaat ist die Auseinandersetzung um die Verfassung und das Funktionieren einer als Staaten- und Bürgerunion doppelt strukturierten Europäischen Union getreten. Der Begriff der Staaten- und Bürgerunion hat nun Eingang in den Verfassungstext gefunden. Damit ist auch näher bestimmt, was denn die Eigenart der EU als Gebilde sui generis ist: Die Mitgliedsstaaten bleiben konstitutive Subjekte der Union. Auf der Ebene des europäischen Gemeinwesens treten an die Seite der Repräsentativorgane der Staaten die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsstaaten mit ihrer eigenen Repräsentation. Die Kommission nimmt nicht die Stellung einer europäischen Regierung, sondern die in der Doppelstruktur der Union für das Gelingen entscheidende Stellung einer Initiatorin und Moderatorin ein.

Nachdem die das Integrationsprojekt in die Tiefe begrenzende Element der Mitgliedsstaaten endlich akzeptiert ist, ohne deshalb auf die Vorstellung eines Staatenbundes zurückzufallen, kann man davon ausgehen, dass die Union ihre innere Verfassung im Prinzip geklärt hat, soviel im Einzelnen daran in Zukunft noch verbessert werden mag.

Ihre äußere Form kann die EU dagegen so lange nicht politisch bestimmen, solange die Grenzen der EU als Frage nach den Grenzen Europas diskutiert werden. Europa wird immer ausgreifender, umfassender und unbestimmter bleiben als die EU. Wie die EU im Inneren durch Staaten konstituiert wird, bewegt sie sich außerhalb ihrer Grenzen in einer Welt, die durch Staaten gebildet wird, einer Staatenwelt. Die Frage nach der äußeren Form der Europäischen Union ist also direkt mit der Frage verknüpft, wie die Europäische Union am wirkungsvollsten und besten zu einer entwicklungsfähigen internationalen Ordnung, zu einer geordneten Staatenwelt beitragen kann.

Die Frage lässt sich spezifizieren: In welcher äußeren Form kann die EU am besten zu einer »Rekonstruktion des Westens«, also zur Bildung eines von den USA und der EU gebildeten Kraftzentrums einer wachsenden community of democracys beitragen, die vielleicht einmal den Rahmen der UNO ausfüllen wird? In welcher Form kann die EU am besten zu einer Demokratisierung, Modernisierung und Stabilisierung des postsowjetischen Raums beitragen, ohne Russland zu isolieren oder die Unabhängigkeit der Staaten, die aus der Sowjetunion hervorgegangen sind, imperialen Restaurationsbestrebungen Russlands auszuliefern? In welcher Form kann die EU am besten dazu beitragen, dass Modernisierung und Demokratisierung in den Staaten des Wider Middle East das Übergewicht über die islamistischen Versuche gewinnen, die Welt des Islams als Tummelplatz von imperialen Eroberungs- und Restaurationsbestrebungen mit gewaltsamen Mitteln zu nutzen? Wie kann die EU am wirkungsvollsten zu einem konzertierten Zusammenwirken der Mitglieder des Sicherheitsrates und der einflussreichen Staaten gegen die Bedrohungen der Staatenwelt durch Chaos, Zerfall und Terror beitragen und dabei helfen, die Ideenwelt der UNO mehr und mehr praktisch in der Staatenwelt zu verankern? Und nicht zuletzt: In welcher Form kann die EU ihr Beispiel, den Widerspruch von territorialem Souveränitätsprinzip der Staatenwelt und transnationaler Vernetzung der Weltwirtschaft durch die Zusammenlegung von Souveränitäten und die Ausbildung eines gemeinsamen Binnenmarktes zu zügeln und die Globalisierung zu gestalten, attraktiv erhalten und für andere Teile der Welt fruchtbar machen?

Die Frage nach der äußeren Form der EU führt damit aus der Selbstbezogenheit der EU heraus, von der die Verfassungsdiskussion manchmal zu sehr geprägt ist.

 

Beitrittsfragen im geopolitischen Kontext

Außenpolitik der EU war bisher vor allem Handelspolitik im Rahmen von GATT und WTO und Erweiterungspolitik. In der ersten euphorischen Reaktion auf den Zusammenbruch des Sowjetimperiums klangen vor allem deutsche Stimmen manchmal so, als sei nun der Schlüssel zu den meisten Problemen des Kontinents in einer möglichst grenzenlosen Erweiterung der EU zu finden. Stattdessen wird es sinnvoll sein, auch einzelne Fragen einer Erweiterung in eine global orientierte Ordnungspolitik einzubetten. Stellt man sich die Erweiterung der EU als politisch unbestimmtes Kontinuum vor, dann gibt es keinen Grund, warum nach der Türkei, oder auch statt der Türkei, nicht die Ukraine, Weißrussland und Georgien und schließlich auch Russland aufgenommen werden sollten. In Reaktion auf die Aussichten solch »schlechter Unendlichkeit« mag dann im Umkehrschluss festgestellt werden, dass nach der jetzigen Erweiterungsrunde endlich Schluss sein müsse und der Türkei nicht mehr als eine »privilegierte Partnerschaft« angeboten werden könne. In dieser Perspektive werden Erweiterungen erlitten und erscheint Nachbarschaftspolitik als Ersatz für eine Erweiterungspolitik, mit der ja irgendwann Schluss sein muss.

Geht man dagegen von übergeordneten Fragestellungen aus, lässt sich erkennen, dass die Mitgliedschaft der Türkei in der EU ein wichtiges Element der Rekonstruktion des Westens wäre, dem islamistischen Projekt im Mittleren Osten(9) einen Riegel vorschieben, die Balkanpolitik der EU stärken und einer europäischen Nachbarschaftspolitik gegenüber den gefährlichen Krisenregionen des Mittleren Ostens und des Kaukasus eine Ausgangsbasis sichern würde. Zudem ist die Stellung der Türkei gegenüber dem Westen, der EU und im Mittleren Osten historisch völlig einzigartig.

Schon das Osmanische Reich war in das europäische Mächtesystem verwickelt und spätestens mit dem Krimkrieg und der Abwehr des russischen Expansionismus zu einem tragenden, wenn auch tönernen Pfeiler des europäischen Gleichgewichts geworden. Mit der Niederlage des Osmanischen Reiches an der Seite des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg schied die Türkei aus den imperialen Rivalitäten Europas aus, wurde gegenüber dem Nazireich zu einem wichtigen Exilland verfolgter Deutscher und mit Beginn des Kalten Krieges ein Mitglied der NATO. Weder durch den arabischen Nationalismus noch durch den islamistischen Fanatismus ließ sich die Türkei an engen Beziehungen zu Israel hindern. Als Teil des Westens schloss sie den Assoziationsvertrag mit der EU 1963, der ihr deshalb im Unterschied zu allen anderen Assoziationsverträgen eine Beitrittsperspektive einräumte und sie damit gegenüber anderen Nachbarstaaten der EU am Mittelmeer in ihrer besonderen internationalen Stellung bestätigte. Deshalb ist das Bild einer Brücke zur islamischen Welt irreführend. Die Gründung und Begründung der Türkei durch Ata Türk war ein bewusster Bruch mit der osmanischen, islamisch geprägten Vormacht im Mittleren Osten und eine Wendung nach Europa. Für die moderne Türkei ist die Mitgliedschaft in der EU der Schlussstein ihrer europäischen Vorgeschichte.(10) Für die EU würde die Mitgliedschaft der Türkei nicht die Eröffnung einer neuen Erweiterungsrunde, sondern eine Abrundung ihrer jetzigen Stellung im Westen und in der Staatenwelt bedeuten.(11)

Anders wäre unter den genannten übergeordneten Fragestellungen ein Beitrittswunsch der Ukraine zu bewerten, der im Übrigen bis vor kurzem nicht weniger scheinhaft blieb als die Beschwörungen der Demokratie, hinter denen sich die realen Machtverhältnisse der Ukraine verbergen. Gerade gegenüber den immer neu erhobenen Forderungen ukrainischer Politiker, der Ukraine ein Beitrittsversprechen zu geben, erwies sich die Notwendigkeit, die Außenpolitik der EU und ihre internationale Integrationspolitik nicht auf die Erweiterung zu reduzieren. Die demokratischen Veränderungen in der Ukraine geben jetzt Gelegenheit, eine Politik der guten Nachbarschaft und der Integration jenseits der eigenen, möglichst porösen Grenzen zu konkretisieren und in die Tat umzusetzen.

In der spezifisch deutschen Erweiterungsrhetorik der Neunzigerjahre galten das »Beitrittsversprechen« und – etwas schamhafter, aber umso irreführender – die »europäische Perspektive« als »Karotte« und »Zuckerbrot«, um Reformen anzuregen. Demokratie und Reform sollten so durch die Aussicht auf den EU-Beitritt in Wert gesetzt werden, so als ob sie an sich keinen hätten. Das Dilemma, in das sich die EU mit dieser Rhetorik bringt, zeigt sich vor allem in der Politik gegenüber Russland: Kann die EU auf die Einhaltung demokratischer Normen nur dringen, wenn sie damit ein Beitrittsangebot verbindet? Das Eintreten für die universelle Geltung von Menschenrechten und Demokratie an das Beitrittsangebot an eine regionale Organisation zu koppeln, ist offensichtlich absurd und ginge implizit von einer Globalisierung der EU als Bedingung der Durchsetzung universeller Normen aus. Gegenüber Russland als einer der beiden europäischen Flügelmächte wird die Absurdität dieser Vorstellung deutlich. Das zeigt aber nur, dass die EU generell die »Kopenhagener Kriterien« nicht als Hürde für einen rundum versprochenen Beitritt oder den Beitritt als »Karotte« für ihre Geltung betrachten darf, sondern von sich aus klären muss, wo ihre Grenzen als politisches Subjekt einer globalen, aber differenzierten Integrationspolitik liegen. Die EU wird also eine regional begrenzte Form finden müssen, in der sie die globale Geltung des universellen Anspruchs der Kopenhagener Kriterien am besten befördern kann. Ohne Demokratie kein Beitritt heißt nicht: ohne Beitrittsangebot keine Forderung und Förderung von Demokratie. Für die Politik gegenüber der Ukraine heißt das: Die EU muss ihre Nähe und zivilisatorische Attraktion für die Demokratisierung und Reformierung der Ukraine nutzbar machen, ohne dieses in einer globalen Integrationspolitik angelegte Ziel mit einem Beitrittsversprechen zu ihrer engeren regionalen Organisation zu verknüpfen. Demokratie als universelle Norm und Mitgliedschaft in der EU als einer Regionalorganisation sind grundsätzlich inkongruent: ohne Demokratie keine Mitgliedschaft, aber keine Verallgemeinerung der Mitgliedschaft über die möglichst globale Verwirklichung universeller Normen. Die EU muss die Geltung dieser Normen in ihrer Nachbarschaft und global fördern, ohne ihren eigenen politischen Ort zu entgrenzen. Sich institutionell zu begrenzen, führt zu einer Differenzierung der Politik nach innen und außen, muss aber keine Provinzialisierung bedeuten.

Die Türkei bliebe ohne Integration in den Westen und die Mitgliedschaft in der EU ein Solitär auf der internationalen Bühne, der sich fast zwangsläufig an abgelegten Rollen des Osmanischen Reiches orientieren und sich als Sammelpunkt der Turkvölker und/oder Zentrum der islamischen Welt versuchen müsste. Aus einem Fixpunkt des Westens und der europäischen Politik könnte nolens volens ein weiterer Unsicherheitsfaktor der internationalen Ordnung werden.

Die Ukraine dagegen bliebe selbst bei einer stärkeren Westorientierung(12) eng mit dem russischen Kraftfeld verbunden. Die Ukraine ist ja nicht nur stark durch russische Traditionen geprägt, auf russische Energielieferungen und den russischen Markt für ihren Export angewiesen: ein wesentlicher Teil ihrer wirtschaftlichen und politischen Elite bleibt vor dem zaristisch-sowjetischen Hintergrund transnational mit der russischen Elite verknüpft.(13) Die Politik gegenüber der Ukraine muss von vornherein als Teil einer politischen Konzeption gegenüber dem postsowjetischen und russisch geprägten Orbit begriffen werden.

Die letzten Jahre haben gezeigt, wie illusionär die Vorstellung war, Russland verschwände mit der Auflösung der Sowjetunion als regionales Kraftfeld von der Bühne und könnte nach und nach um jeden Einfluss in seiner Nachbarschaft gebracht werden.(14) Russland wächst erneut in die Rolle eines regionalen Machtzentrums hinein, das gestützt auf traditionellen Einfluss und ihren Energie(rohstoff)export, regionale Integrationsanstrengungen unternimmt.(15)

Die Existenz eines »Zwischeneuropa«, so historisch belastet dieser Begriff auch ist,(16) das heißt von Staaten, in denen sich das westlich-europäische und das osteuropäisch-russische Kraftfeld überlappen, lässt sich nicht länger übersehen oder schamhaft verleugnen. Die Zwischenstellung ist keine Frage der Wahl, sondern eine Tatsache. Wer den Begriff eines »Zwischeneuropa« ablehnt, mag in Anlehnung an die Transitfunktion von Staaten wie der Ukraine und Weißrussland von einem »Brückeneuropa« zwischen EU und Russland sprechen. Am politischen Problem ändert sich dadurch nichts.(17) Ihre politische Unabhängigkeit werden diese Staaten nur sichern können, wenn sie es lernen, mit diesem »Zwischen« im eigenen Interesse klug umzugehen, und wenn Russland und die EU sich bereit finden, in diesen sich überlappenden Integrationsräumen vernünftig und verlässlich zusammenzuarbeiten, statt die klassische Rivalität um Einflusssphären neu aufzulegen.

Hier kann es nicht darum gehen, eine umfassende oder gar detaillierte Konzeption einer EU-Nachbarschaftspolitik gegenüber Russland und den anderen Staaten, die aus der Sowjetunion hervorgegangen sind, vorzustellen. Es sollte jedoch gezeigt werden, dass unter den genannten übergeordneten, wenn man so will geopolitischen Gesichtspunkten einer globalen Integrationspolitik, in der die EU eine verantwortungsvolle Rolle übernimmt, die Vorstellung einer permanenten Erweiterungspolitik sich als leere Illusion oder als selbst inszenierter Albtraum erweist. Der politische Ort der EU ist durch die jetzige Erweiterungsrunde, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und die Anstrengungen gegenüber Südosteuropa klar umrissen und auch historisch wohl begründet. Diese Ortsbestimmung der EU in einer globalisierten und auf globale Integration angewiesenen Welt ist eine der Voraussetzungen für eine konsequente Politik guter Nachbarschaft im Osten wie im Süden, die ihrerseits Teil einer internationalen Politik bildet, für die sich der Westen im Rahmen der UNO stark machen sollte. Integrationspolitik bedeutet keine regionale Beschränkung. Sie ist Inbegriff der politischen Anstrengungen, die durch die Globalisierung herausgefordert werden. Sie bezeichnet den makropolitischen Aspekt einer Herausforderung, deren mikropolitischer Aspekt mit »state-building«(18) umrissen ist.

Wenn die Bemühungen um eine neue Weltordnung im Rahmen der UNO freilich letzten Endes schief gehen sollten, könnte die EU auf eine Position reiner Selbstbehauptung in einer immer weiter aus den Fugen geratenden Welt zurückgeworfen werden. Das bedeutete nicht schon das Ende der EU, aber doch ihr Scheitern als politisches Projekt mit globaler Ausstrahlung und Wirkung.

 

Die EU – fragiles Projekt einer europäischen Mitte

Im Großen und Ganzen hat sich die EU in den krisenhaften Entwicklungen der letzten Jahre als Faktor von Zivilisierung und Stabilisierung bewährt. Doch zugleich nehmen die inneren Spannungen zu. Hier soll nicht auf die bekannten Gefährdungen des Sozialmodells durch veränderte Wirtschaftbedingungen und demographische Entwicklungen näher eingegangen werden, sondern auf den Zusammenhang von europäischer Integration mit der Ausbildung einer politischen Mitte in den Mitgliedsstaaten. Diese neue Mitte ist ein durch und durch politisches Phänomen, das in einer breiten Mittelklasse zwar günstige Voraussetzungen findet, aber doch ganz von der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung abhängt. Sie findet ihren ersten Ausdruck in einer allgemeinen Zustimmung zu Menschenrechten, demokratischen Freiheiten und republikanischer Gewaltenteilung. Daraus speist sich ein Verständigungswillen auch in komplexen Problemen, eine Fähigkeit, Werte und Interessen untereinander und miteinander abzuwägen und deshalb Mehrheitsentscheidungen auszuhalten, ohne antagonistische Gegensätze zu konstruieren, um die eigene Position fundamentalistisch zu befestigen. Es ist evident, dass eine solche politische Mitte in einem außenpolitischen Umfeld, in dem Verständigung und Integration Rivalität und Kriegsrüstung überwiegen, besser gedeiht als in der Epoche der europäischen Weltkriege. Umgekehrt wurde diese Mitte zur wichtigsten Bedingung dafür, dass die Europapolitik in den Mitgliedsstaaten bisher nicht durch innenpolitische Frontbildung in einzelnen oder mehreren Mitgliedsstaaten gelähmt wurde.

Es könnte sich in den kommenden Jahren zeigen, dass eine Schwächung der Fähigkeiten in den Mitgliedsstaaten, eine belastbare politische Mitte auszubilden, die Europapolitik bereits gefährden könnte, ehe die Stabilität in den Mitgliedsstaaten selbst grundlegend in Frage gestellt wird.

Zum Vehikel einer solchen Entwicklung könnten Referenden in Fragen der Europapolitik werden. In der Ablehnung der europäischen Integration wirken nationalistische und linksfundamentalistische Strömungen so wirkungsvoll zusammen wie auf keinem anderen Feld. Hier vor allem können sie populistische Anziehung entfalten, weil die EU zugleich der bürokratischen Diktatur wie der Irrelevanz bezichtigt werden kann. Alles Unbehagen an der Moderne und Globalisierung kann hier scheinbar gefahrlos für das eigene Nest mobilisiert werden.

Jeder politischen Strömung, für die Eroberung und Entfaltung von Macht das Wesen von Politik ausmacht, bleibt die Europäische Union, die ohne Verständigung, Pluralismus und mainstream nicht funktionieren kann, ohnehin fremd.

Als Staatenunion kann die EU auch nicht dem innerstaatlichen Modell eines Wechselspiels von Opposition und Regierung folgen, was als demokratisches Defizit erscheint, wenn die innerstaatlichen Formen von Demokratie unversehens als Modell jeder Form demokratischer Partizipation wahrgenommen werden. Und gerade weil die Plebiszite in europäischen Fragen aus Rechtsgründen die Form von innerstaatlichen Abstimmungen behalten, können sich in ihnen nationale Vorurteile und nationalistische Phobien besonders unkontrolliert austoben. Die Vorstellung, dass es am Ende von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei in einer Reihe von Mitgliedsstaaten, darunter auch in Frankreich, zu Plebisziten über die Mitgliedschaft der Türkei kommen soll, kann einen das Gruseln lehren, in erster Linie nicht, weil man ein negatives Ergebnis fürchten muss (darauf haben die Befürworter Einfluss), sondern weil die Form der Auseinandersetzung so viel Porzellan zerschlagen kann, dass auch bei einem Erfolg des Beitrittsbegehrens der Beitritt mit schweren emotionalen Hypotheken belastet bleibt.

Im Falle eines französischen Plebiszits könnten zum Beispiel antibritische oder antideutsche Ressentiments hervorragend mit antitürkischen und antiislamischen Vorurteilen kumulieren, indem unterstellt wird, die einen wollten die anderen nur in der EU haben, um Frankreich zu schwächen und die EU als Gegenmacht zu den USA verhindern. Eine fürchterliche Suppe kann da angerührt werden. Ihre vergiftende Wirkung kann von den Befürwortern, auch wenn sie sich argumentativ durchsetzen, nicht verhindert werden. Insofern bedeuten solche Plebiszite selbst im Falle einer Niederlage ein Heimspiel für die Ablehnungsfront. Ihre diffusen, ja antagonistischen Parteigänger machen so oder so am Ende Kasse.

Die Entwicklung der EU könnte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten vor allem dadurch gefährdet werden, dass die Wechselwirkung der Ausbildung von politischer Mitte in den Mitgliedsstaaten mit einer erfolgreichen, aber undramatischen europäischen Integration gestört wird und abbricht. Trotz der großen internationalen Herausforderungen nach 1989, der Bedrohungen durch Staatszerfall, Massenvernichtungswaffen und terroristischem Islamismus und trotz der wachsenden globalen Verantwortung der EU dürften insofern die Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten entscheidend für die Zukunft der Europäischen Union sein. Auf diese Entwicklungen hat die Politik der EU selbst nur einen begrenzten Einfluss. Auch eine Union mit Verfassung bleibt ein fragiles Gebilde, das ganz auf die Klugheit der Politik in den Mitgliedsstaaten und das Engagement der europäischen Bürgerinnen und Bürger setzen muss.

 

1

Tony Judt: Große Illusion Europa. Herausforderungen und Gefahren einer Idee, München 1996, S. 159.

2

»In mancher Hinsicht kann das Entstehen der europäischen Gemeinschaft in den fünfziger Jahren als Zufall bezeichnet werden. Weder ihre Gestaltung und ihre Mitglieder hatte man vorausgesehen, noch waren sie voraussehbar gewesen. Noch im September 1947 hatte George F. Kennan den Europäern jegliche Fähigkeit zu einer gemeinschaftlichen Vision und zu einer Verständigung abgesprochen, weshalb das amerikanische Außenministerium ›einseitig entscheiden‹ müsse, was gut für sie sei. Zu jenem Zeitpunkt hatte er durchaus recht: Im Juni 1948 stimmte die französische Nationalversammlung mit nur 4 Stimmen Mehrheit der Schaffung einer deutschen föderativen Autorität in den drei Westzonen (der französischen, der britischen und der amerikanischen) des besetzten Deutschland zu.« Tony Judt, a.<|>a.<|>O., S.<|>33.

3

Vgl. zu dieser veränderten Konstellation u.<|>a. Timothy Garton Ash: Freie Welt. Europa, Amerika und die Chance der Krise, München 2004.

4

Nämlich nur auf Basis der Wiederherstellung des dynastischen Legitimitätsprinzips nach der Niederlage Napoleons und mehr schlecht als recht nach der Etablierung des Nationalprinzips im Zentrum des europäischen Staatensystems durch die Gründung des Deutschen Reiches 1871, bevor es 1914 im Ersten Weltkrieg vollends zerbrach.

5

Von ihr als politischer Aufgabe sprach Joschka Fischer in einem Interview mit der FAZ, 6.3.2004.

6

So besteht für Jürgen Habermas die politische Substanz einer Verfassung der EU »in der definitiven Antwort auf die Frage der territorialen Ausdehnung der EU und in einer nicht allzu definitiven Antwort auf die Frage der Kompetenzabgrenzung innerhalb des politischen Mehrebenensystems«. Die jetzige Verfassung vermeidet jede Antwort auf die erste Frage. S. »Braucht Europa eine Verfassung?«, in: Jürgen Habermas: Zeit der Übergänge, Frankfurt am Main 2001, S. 127.

7

Viele Beiträge der Kontroverse sind nachzulesen in Die Türkei und Europa. Die Positionen, hrsg. von Claus Leggewie, Frankfurt am Main 2004; s. zuletzt auch Ernst-Wolfgang Böckenförde ablehnend in seinem Vortrag zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises, s. Beilage in dieser Ausgabe der Kommune, und Karl Otto Hondrich befürwortend in NZZ, 6.12.2004 (»Vom Sog des Kreises«).

8

Es ist schon merkwürdig, wie gerade Historiker, besonders auftrumpfend Hans-Ulrich Wehler, mit kulturalistischen Kontinuitätsgesichtspunkten der Türkei die Tür verschließen wollen und darüber den konstruktivistischen Ansatz der EU aus dem Auge verlieren. Über die vergleichsweise idyllische Binnensicht auf ein paar Jahrzehnte europäischer Integration in Westeuropa werden die Herausforderungen und Wagnisse vergessen, denen sich die EU nach zwei Weltkriegen bei ihrer Gründung gegenübersah und jetzt nach Kaltem Krieg und Globalisierung als Ordnungsfaktor erneut gegenübersieht.

9

Letzten Endes handelt es sich hier um ein globales totalitäres Gegenkonzept zum Universalismus des Westens und der UNO-Ordnung. Der 11. September 2001 hatte für dieses Projekt den Sinn einer Eröffnungsschlacht.

10

Im Zusammenhang mit der erbitterten Diskussion in Frankreich ist ein Reisebericht des Mitglieds der Académie française, Georges Duhamel, von 1954 interessant mit dem Titel La Turquie Nouvelle. Puissance d´Occident. Dort hieß es unter anderem: »La France, dans l’ensemble connait un peu la Turquie légendaire; elle connaît très mal la Turquie nouvelle«. Mit Leidenschaft wurde die Unterstützung für den europäischen Weg der Türkei eingefordert: »La Turquie fait partie de l’Europe.« Die Türkei müsse sich auf Grund ihrer bedeutenden Rolle in der Geschichte der westlichen Zivilisation darauf vorbereiten, in Abstimmung mit den westlichen Staaten das Werk dieser Zivilisation fortzusetzen. Dabei werde sich zeigen: »L’Amérique n’est pas l’Occident; elle est l’Extreme-Occident.« So viel auch zu der Behauptung, es handle sich bei dem angestrebten Beitritt der Türkei um eine US-Intrige.

11

Das Beitrittsangebot an die Türkei kann nicht auf eine Brückenfunktion gegenüber den arabischen Staaten und der islamischen Welt abzielen. Für eine solche Funktion böte sich tatsächlich eher eine »privilegierte Partnerschaft« an. Durch den Beitritt zur EU würde die Türkei eher einen Eckpfeiler der EU bilden, der dieses politische Konstrukt in Richtung Mittlerer Osten und Kaukasus festigt und begrenzt. Insofern hat Ernst-Wolfgang Böckenförde Recht, wenn er das Brückenargument als Beitrittsgrund in Zweifel zieht.

12

Für die Integration der Ukraine in NATO und EU macht sich stark: Ronald D. Asmus: A Strategy for Integrating Ukraine in the West, Conflict Studies Research Centre, April 2004.

13

»... the more formidable ›oligarchic‹ interests in Ukraine – the fuel and energy complex, the financial and banking sector and, indeed the security and intelligence network – are transnational structures de facto, moreover not transnational European structures, but structures of the former Soviet Union, collusive and highly inbred and wedded to a mode of business largely opaque to outsiders.« So James Sherr: The Enlargement of The West & The Future of Ukraine, Conflict Studies Research Centre, February 2002.

14

Ein konservativer Beobachter wie Alexander Gauland hatte früh vor solcher Illusion gewarnt, s. Helmut Kohl. Ein Prinzip, Berlin 1994, S. 121<|>ff.

15

Diese Anstrengungen der Russischen Föderation stützen sich weniger auf zivilisatorische Attraktion als auf wirtschaftliche und sicherheitspolitische Vormacht. Die Abhängigkeit negieren zu wollen, ist wenig Erfolg versprechend. Sinnvoller wäre es wohl, auf Basis von Demokratie und politischer Unabhängigkeit durch umfassende Reformen die eigenen Potenziale zu stärken und so die Abhängigkeit in Interdependenz zu verwandeln. Dabei zu helfen, wird ein entscheidender Aspekt der Nachbarschaftspolitik der EU in Osteuropa sein müssen.

16

Er entstand in der Zeit nach dem I. Weltkrieg und meinte damals die wieder und neu gegründeten Staaten, die aus der Niederlage der Kontinentalimperien hervorgingen und sich den frustrierten Hegemonialbestrebungen des Deutschen Reiches und der Sowjetunion gegenübersahen, während sie für die »Westmächte« nur als »cordon sanitaire« Relevanz hatten. In dieser Konstellation bezeichnete »Zwischeneuropa« eine Objektrolle, die Rolle eines Spielballs im chaotisierten europäischen Mächtesystem der »Zwischenkriegszeit«. In der imperialen Epoche versprach ein »Zwischen« nichts Gutes. In anderer Konstellation kann das anders sein.

17

Gegenüber der Ukraine und potenziell gegenüber Weißrussland trifft die Argumentation E.-W. Böckenfördes zu, dass politische Selbstständigkeit bei enger Partnerschaft eine solche Brückenfunktion und das Hinüberreichen auf beide zu überbrückenden Seiten erleichtert, vgl. Anm. 11.

18

Vgl. dazu inzwischen auch Francis Fukuyama: Staaten bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik, Berlin 2004.