Ernst Köhler

 

Reisen gegen den Strom

 

Unterwegs in Bosnien-Herzegovina und im Kosovo

 

 

 

Drei Stationen – Sarajevo, Prizren, Prishtina –, aber nicht nur Impressionen einer Reise. Die kontinuierliche Beobachtung der Entwicklungen in Bosnien-Herzegovina und im Kosovo lässt für unseren Autor Illusionen nicht mehr zu: Die internationale Gemeinschaft sollte von ihrem Bevormundungsverhalten Abstand nehmen und sich entwickelnden Tatsachen stellen: Dazu könnte auch gehören, dass man dem Kosovo den Status der Unabhängigkeit gewähren muss.

 

Sarajevo über Sarajevo – wie die Stadt heute mit ihrem Schicksal im Krieg umgeht

Die Belagerung Sarajevos 1992–1995 hat sich dem Gedächtnis der Welt eingegraben – anders als der Untergang der kroatischen Stadt Vukovar, die ganz zu Anfang der Jugoslawienkriege an einer noch unaufmerksamen, schlafenden Welt vorbei ausgerottet worden ist. Und anders auch als die Zerstörung Mostars, von der nur die Zertrümmerung der Alten Brücke durchgedrungen ist. Sarajevo war immer etwas Besonderes, gewissermaßen Privilegiertes – als ob sich das Appeasement Europas gegenüber dem kriminellen Projekt eines großserbischen Eroberungsstaates, der Verrat des Westens an der tödlich bedrohten bosnjakischen Zivilbevölkerung hier in einem speziellen Kult, in einer nachdrücklichen Hommage an die geschundene Stadt auszugleichen, zu kompensieren versucht hätte. Es war zu wenig. Man kann eine Stadt nicht schmählich im Stich lassen und sie zugleich in den Himmel heben, mit Verehrung überhäufen, zum multikulturellen Kosmos hochstilisieren. Wer Sarajevo heute besucht, wird denn auch mit einer distanzierten, kühlen Höflichkeit konfrontiert. Und wenn die Fragen des Fremden allzu ignorant oder voreingenommen ausfallen, kann die großstädtische Umgänglichkeit leicht in Gereiztheit umschlagen. Mit Demut, mit der penetranten, halb gespielten Genügsamkeit eines nach wie vor unter fremder Kontrolle stehenden Landes ist hier nichts. Man befindet in einer Metropole, Sarajevo ist wieder eine Metropole.

Lieber wären wir zu Fuß gelaufen (eine Gruppe von Journalisten aus dem deutschsprachigen Raum, teilweise zum ersten Mal hier), aber General Jovan Divjak, Ende 60, einer der wenigen hohen Offiziere serbischer Nationalität, die sich im Krieg auf die Seite der Republik Bosnien-Herzegovina gestellt haben, kutschiert uns mit dem Bus durch »das Sarajevo während der Belagerung«. Aussteigen dürfen wir erst am berühmten Tunnel, den die Belagerten sich 1993 unter dem Flughafen hindurch ins Freie gegraben haben. Ein paar Meter des niedrigen Stollens sind noch begehbar, und an seinem Eingang befindet sich in einem kleinen Privathaus ein bescheidenes Museum mit Dokumenten und Überresten: Fotos, Videos, Tragen, Waffen aus den Jahren des rettenden Tunnels. Es ist ein Familienunternehmen und muss bislang ohne öffentliche Unterstützung auskommen, wie uns der Barfuß-Kustos, Sohn des Hauses, damals 17, heute Ende 20, erläutert. Die Waffen: Jemand von uns fragt, woher sie gekommen sind, wer sie denn geliefert hat. Der junge Mann reagiert abweisend, und als die Frage in bohrendem Ton wiederholt wird, reagiert er ärgerlich. Es sei ihm damals egal gewesen, woher die Waffen kamen. Hauptsache, sie kamen. Es ist ein kleiner, harter Disput – das Problem des jungen Mannes sind offenkundig nicht Rüstungsindustrie und Waffengeschäfte, sein Problem ist das internationale Waffenembargo über dem wehrlosen Bosnien. Man könnte auch sagen: Sein Problem ist eine feine, gestrenge Moral, die über Leichen geht. Oder die Toten vergisst.

Im Grunde bleibt der Dialog die ganze Zeit über so herb. Senka Kurtovic, Anfang 40, Chefredakteurin der seit dem Krieg in der ganzen Welt bekannten und geachteten Tageszeitung Oslobodjenje, hält sich nicht lange mit dem heroischen Teil ihrer Ausführungen auf. Wir sind ja schließlich auch keine Touristen, die in aller Pietät ein bisschen am Krieg nippen möchten. Aber was ist das für ein Land, eine Gesellschaft, eine Öffentlichkeit hier – und vor allem: Muss man nicht davon sprechen, dass in Bosnien heute der islamische Fundamentalismus an Boden gewinnt? Senka Kurtovic sagt uns ins Gesicht, dass das »ein Vorurteil« sei. Kein Zweifel, es gebe immer wieder massiven Druck seitens klerikaler Kreise auf die Medien – aber nicht nur vom obersten Imam Mustafa Ceric, sondern auch vom katholischen Bischofs von Sarajevo, ebenfalls ein notorischer nationalreligiöser Hardliner. Aber das seien Versuche, Strategien, nicht unbedingt auch Erfolge. Dani (»Tage«, Auflage: 12–15000), ein renommiertes kritisches Wochenmagazin, schlägt sich seit Jahren mit einer besonderen Bravour an dieser Front. Da ist dann ein Heft mit dem in unerhörten Unterhosen telefonierenden Imam erschienen – auf dem Deckblatt! Inhalt des hochwürdigen Telefonats: Anweisung eines Anzeigenboykotts für die unbotmäßige Presse. Emir Imamovic, Anfang 30, Chefredakteur von Dani, sagt uns lächelnd, die obszöne Ausgabe habe sich freilich ein wenig schlechter verkauft als andere. Auch sonst scheint der jugendliche Chefjournalist nicht gerade ein Kind von Traurigkeit: »Milosevic nervt.« Über den Prozess in Den Haag wollten die Leute hier nichts mehr lesen. Und Dani brächte auch nichts mehr darüber. Für jemand von außen – auch noch aus Deutschland – klingt das etwas befremdlich. Aber der Prozess gegen Milosevic ist endlos, und ab jetzt wird er noch einmal endloser. Vielleicht wollen die Menschen hier auch erst einmal die Verhaftung von Karadzic und Mladic abwarten, bevor sie sich wieder stärker für unendliche Prozesse interessieren. Ganz zu schweigen vom elementaren Wunsch eines Großteils der jungen Generation (man nennt uns Zahlen zwischen 65 und 85 %), dem Land überhaupt den Rücken zu kehren.

Der unzynische Zynismus, die ironische Kaltschnäuzigkeit des Dani-Mannes ist zudem nur eine Variante der Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit im Sarajevo von heute. Es ist gerade die Vielfalt der Denkansätze, die charakteristisch ist. Zusammengenommen stellt sie so etwas wie eine kulturelle Alternative oder Gegenwelt zu den drei miteinander konkurrierenden parteipolitisch formierten Standardversionen bosnisch-herzegovinischer Vergangenheitsbewältigung dar: zur bosnisch-serbischen um die SDS, zur bosnisch-kroatischen um die HDZ, zur bosnjakischen um die SDA. Es versteht sich, dass zumindest dem zeitgeschichtlich unbedarften Besucher aus dem Westen der klare Bruch unterschiedslos mit allen regionalen Nationalismen und ihrer jeweiligen Geschichtsklitterung unmittelbar einleuchtet. Aber es zeugt von sehr viel Großmut und Selbstverleugnung, wenn die Intellektuellen und Künstler von Sarajevo den bosnjakischen Nationalismus in einen Topf werfen mit dem um vieles bösartigeren und vom Krieg her schwer belasteten bosnisch-kroatischen und sogar mit dem bosnisch serbischen, der direkt faschistische Züge trägt. Im »Zentrum für Gegenwartskunst« am Ufer der Miljacka im Stadtzentrum sehen wir in Anwesenheit der jungen Regisseurin Jasmila Zbanich aus Sarajevo zwei Dokumentarfilme: Images from the Corner (2003) und Red Rubber Boots (2000). Beide Filme machen in behutsamer und anrührender Weise das persönliche Leid der Opfer zum Gegenstand: das zunächst unklare Schicksal eines Nachbarmädchens um die Ecke, das von einer Granate schwer verletzt wird; die hartnäckige, vergebliche Suche einer Mutter nach den sterblichen Überresten ihrer beiden kleinen Kinder, die von der serbischen Armee ermordet worden sind. Auf die Frage, warum sie nicht auch einmal einen Film über einen Täter gemacht habe – gemeint sind die Täter auf der bosnisch-muslimischen Seite, die es ja auch gegeben hat –, antwortet Jasmila Zbanich zögernd, dazu fühle sie sich bislang noch nicht imstande. Es könne ja kein Zerrbild werden. Es müsse ja ein Mensch gezeigt werden. Auf das Vermögen dazu müsse sie noch warten.

 

Lektion im Camp – ein Besuch bei der deutschen KFOR in Prizren

Das orthodoxe Erzengel-Kloster in den Bergen über der Stadt Prizren im Süden des Kosovo liegt in Trümmern. Aber die Ruinen sind glücklicherweise bereits 400 Jahre alt – die osmanische Macht hatte das Kloster einst geschleift und aus den Steinen die größte und schönste Moschee im Zentrum von Prizren gebaut. Erst im Jahr 1998, also im unmittelbaren Vorfeld des Kosovo-Krieges, hat die orthodoxe Kirche Serbiens beschlossen, hier ein Zeichen zu setzen und das Kloster nach Jahrhunderten wieder aufleben zu lassen. Es ist dieser neue Bau, der im März letzten Jahres von einem albanischen Mob gebrandschatzt und demoliert worden ist – genauer von etwa 600 Leuten, die mit Bussen hier heraufgekommen waren. Von einem spontanen Wutausbruch kann man in diesem Fall also schlecht sprechen. Der Rest ist bekannt, die Soldaten von der deutschen KFOR waren bei uns wochenlang in der Kritik. Heute helfen sie den aus der weiteren Umgebung kommenden serbischen Arbeitern mit Logistik und Material beim Bau eines schmucken kleinen Klosters aus Holz. Es sollte noch vor dem Winter bezogen werden. Die wenigen Mönche, nicht einmal ein halbes Dutzend, sind schon da. Man bittet uns aber, die Container, in denen sie vorläufig untergebracht sind, zu meiden. Aber einer der Patres kommt dann doch heraus: überraschend jung, klein, dünn, das Gewand zerrissen – ein Bild der Trostlosigkeit. Kaum hörbar sagt er, sie seien hier, »um zu Gott zu beten. Wir sind doch keine Politiker«.

Am Abend sind wir zu Gast im deutschen Militärlager am Rande der Stadt. Oberst Erhard Bühler, der neue Kommandeur der deutschen Truppen im KFOR-Sektor Südwest, gibt uns einen Lagebericht. Im Vergleich zu anderen Lageberichten seitens »Internationaler«, wie wir sie bereits in Prishtina gehört haben, ist dieser wohltuend frei von einer Dramatisierung, die aus der Verunsicherung, aus dem Gefühl des Versagens kommt. Die gewöhnliche bengalische Beleuchtung über dem Balkan bleibt diesmal ausgeschaltet. Man versucht aus den März-Ereignissen zu lernen: keineswegs nur durch die Einübung polizeilicher Praktiken in der Abwehr von gewalttätigem Massenprotest, die – nach einem uns vorgeführten Video zu schließen – auch noch etwas dilettantisch anmutet. Wichtiger scheint die »Einsatzorientierung«. Die Präsenz der Truppen in der Region müsse dicht und vor allem unkalkulierbar sein. Niemand solle im Vorhinein wissen dürfen, wann und wo die Soldaten auftauchen. Bühler nennt das in seinem Vortrag »die Sprache der Stärke«, die hier verstanden werde und »das Überkochen von Emotionen« im Ansatz verhindern könne. Neu ist auch, dass im äußersten Notfall scharf geschossen werden darf – allerdings nur von speziell geschulten und ausgerüsteten Scharfschützen aus der zweiten Linie, die auch auf weite Entfernung den tödlichen Schuss mit großer Sicherheit vermeiden könnten. Auf die nun doch unbehagliche Frage, ob eine solche Ausweitung des Maßnahmen-Spektrums denn unbedingt nötig gewesen sei, antwortet Erhard Bühler: Man dürfe sich die Gewalt im Kosovo nicht etwa wie die in Berlin-Kreuzberg am 1. Mai vorstellen. Das sei hier eine andere Kategorie: die gewaltbereite Minderheit verfüge hier über Mörser, Handgranaten und Kalaschnikows. Und sie sei gegebenenfalls auch durchaus bereit, diese Waffen einzusetzen. Vor diesem spezifischen Hintergrund wirkt die Zusammenfassung am Schluss kein bisschen martialisch: »Die Lage ist momentan ruhig, aber unberechenbar.«

Die andere, die zivile Seite des Auftretens der deutschen Truppen hier scheint auf den ersten Blick schwächer, aufgesetzter: etwa Hilfe beim Bau von Schulen, Ausschwärmen der Soldaten zu Gesprächen über die Dörfer. Im Grunde dürfte sich das Gewicht, das Ansehen und die Popularität der deutschen Soldaten in der albanischen Gesellschaft auch weniger diesen good-will-Aktivitäten verdanken als vielmehr der grundsätzlichen Bereitschaft der gegenwärtigen militärischen Führung, das politische Klima im Kosovo differenziert zu beurteilen und auf die summarische Denunziation der albanischen Seite bewusst zu verzichten. An diesem Abend ist so einiges Überraschende zu erfahren: In Prizren selbst gebe es etwa 1000 Gewaltbereite, mindestens 90 Prozent der Bevölkerung lehne die Ausschreitungen im März ab. Das sei das Bild, das sich aus zahlreichen Kontakten zu lokalen Journalisten, Lehrern, Geschäftsleuten und so weiter ergebe. Hinzu kämen über 400 albanische KFOR-Angestellte. »Ich tue eigentlich die ganze Zeit über nichts anderes als mit Leuten zu sprechen«, so Erhard Bühler. Sein Stellvertreter, der für die vertriebenen Serben zuständig ist (17 noch oder schon wieder in der Stadt, 30 noch im Camp, die aber mehrheitlich in die Stadt zurückwollen und nur auf Fertigstellung ihrer Häuser oder Wohnungen warten), fügt ein anderes interessantes Detail hinzu: Die Soldaten hätten die Leute aus dem angegriffenen serbischen Stadtquartier nur evakuieren können, weil sie teilweise vorher von albanischen Nachbarn versteckt worden seien.

Was den Südwest-Bezirk insgesamt angehe, so sei die persönliche Sicherheit der Serben ganz verschieden zu beurteilen: Dort, wo es (wie im Westen) im Krieg schwere Kämpfe und viele Verbrechen der serbischen Militärs und Milizen geben habe, könnten sich die Serben bis heute nicht ohne Eskorte bewegen. Anderswo könnten sie es sehr wohl, wenn sie es denn überhaupt wollten – und nicht lieber aus Angst oder auch aus politischen Gründen »in ihren Enklaven sitzen bleiben«.

Man darf annehmen, dass es vor allem diese Nüchternheit ist – die pragmatische Distanz zu jener eifernden Nationalismuskritik, wie sie sonst in internationalen Kreisen im Kosovo nicht ungewöhnlich ist (und auch nicht in den deutschen Massenmedien) –, die von den Albanern anerkannt und honoriert wird. Tuchfühlung zur lokalen Gesellschaft könnte man es nennen, und es ist schwer zu sehen, wie eine Friedensmission ohne sie auskommen könnte.

 

Der gesunde Menschenverstand und das kleine Kosovo

Wäre ein unabhängiges Kosovo überhaupt lebensfähig? Das ist vielleicht die erste Frage, die sich der Beobachter von außen stellt – auch der wohlmeinende –, wenn er sich dem Kosovo zuwendet. Man sollte sich freilich bewusst machen, dass man hier von einem Land spricht, das zumindest in den beiden letzten Jahrzehnten von seiner Zugehörigkeit zum größeren serbischen Staatsverband entschieden mehr Unterdrückung und rücksichtslosen Raubbau erfahren hat als wirtschaftliche Förderung. Diese zwanzig Jahre muss man immer mitberücksichtigen, wenn man den maroden Zustand etwa der Betriebe im Land anspricht – wie Rainer Hengstmann vom EU-Pillar der Unmik es uns am Beispiel des Bergbaus aufzeigt, in dessen Technologie seit Jahrzehnten nichts mehr investiert worden ist. Aber ganz abgesehen von einer gewissen Verdrehung, die in unserer skeptischen Frage steckt: Mit der Fokussierung aller Zweifel auf die staatliche Unabhängigkeit eines winzigen Landes stiehlt man sich auch an den eigentlich beunruhigenden Tatsachen vorbei. Die wirtschaftlichen Probleme des Landes sind nach Angaben der Experten vom EU-Pillar dermaßen tief, chronisch und strukturell, dass man sich überhaupt keine Status-Lösung vorstellen kann, die sie abfangen könnte. So müsste nach einer Einschätzung der Weltbank die Wirtschaft im Kosovo über die nächsten 15 Jahre jeweils um 26 Prozent wachsen, um die jährlich zu Zehntausenden neu auf den Arbeitsmarkt strömenden jungen Menschen aufsaugen zu können! Da das natürlich utopisch ist, wird das Kosovo seine Arbeitskräfte exportieren müssen. Oder andersherum: Europa wird diese »überflüssigen« Menschen aufnehmen und ihnen eine Chance geben müssen – ob das Land nun unabhängig ist oder nicht.

Das ist nur ein Schlaglicht auf die reale ökonomische Situation des Landes, die einen regionalen Entwicklungsplan erfordert. Die ökonomisch alles andere als erfolgreiche Mission der UN läuft aus, alle Hoffungen im Land richten sich auf die EU. Nur nicht noch mehr Jahre verlieren! Das ist die Grundfarbe oder der Tenor des kosovoalbanischen Unabhängigkeitsgedankens. Enver Hasani, außenpolitischer Berater der Provisorischen Regierung und Professor für internationales Recht an der Universität in Prishtina, sagt im Gespräch etwas sehr Bezeichnendes: Die Parlamentswahlen vom 23. Oktober sind nach seiner Auffassung »die letzten gewesen, die allein mit der leeren Parole der Unabhängigkeit zu bestreiten waren«. Die Wähler hätten den Politikern noch einmal eine letzte Chance gegeben – gemeint ist damit wohl vor allem die Liga von Ibrahim Rugova, über dessen »Lego-Spiel« mit der Unabhängigkeit jedenfalls die Intelligenz des Landes nur noch lachen kann. Hasani selbst schwebt für eine Übergangszeit so etwas wie eine – aus freien Stücken und einvernehmlich – geteilte Macht (»condominium«, »joined government«) der gewählten Regierung in Prishtina und der Kontaktgruppe oder der EU vor. Alles das klingt – aus dem Mund eines »Nationalen« – erstaunlich unpathetisch oder ideologiefrei.

 

Wäre ein Nationalstaat Kosova nicht auch politisch das falsche Signal und im Grunde anachronistisch? Man hat in diesem Zusammenhang gesagt, dass man mit solchen Überlegungen vielleicht nicht bei Israel oder Palästina oder irgendeinem anderen kleinen Nationalstaat jüngeren Datums oder in der Mache anfangen sollte, sondern am besten bei Frankreich, der gereiften Mutter aller Nationalstaaten. Es ist hier an den Gemeinplatz zu erinnern, das die moderne Geschichte nicht linear verläuft und keine flächendeckende »Gleichzeitigkeit« kennt. Wenn ein kleines Volk sich ohne eigenen Staat ausgesetzt und schutzlos fühlt, wird es sich auch im 21. Jahrhundert nicht an irgendeinem allgemeinen Stand der politischen Entwicklung orientieren, sondern an seinen spezifischen Erfahrungen und Lebensinteressen. In unserer besorgten Frage liegt ein eklatanter Mangel an Vorstellungskraft: Was wüssten wir denn – sofern wir keine Juden sind – von einer Situation, in der uns der eigene Staat überfällt, verfolgt, vertreibt und massakriert. In der sich also der eigene, der vermeintlich eigene Staat als der Todfeind schlechthin entpuppt? Fortschrittsvisionen und Geschichtstheorien wie die vom Auslaufsmodell Nationalstaat können nur im Schoße unangefochtener, stabiler, rechtsstaatlich und demokratisch organisierter Nationalstaaten entwickelt werden. Ein Land, eine Gesellschaft, eine Nation muss nach der Erfahrung der Existenzangst, der veritablen Existenzbedrohung zuerst die Erfahrung der Existenzsicherheit gemacht haben, muss ganz durchdrungen, gesättigt sein von dieser neuen besänftigenden Erfahrung, ehe sie sich auf ein zukunftsweisendes Experiment der Staatenbildung ernsthaft einlassen wird. Überspringen lässt sich in diesen Lebensfragen nichts. Angst, Trauma, Hysterie lassen sich nicht wegdekretieren, sondern nur allmählich abarbeiten oder relativieren. Das kann man von der klassischen Arbeit des ungarischen Politologen István Bibó über Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei (1946) lernen, die leider im Zusammenhang mit der Kosovo-Frage so gut wie nie zitiert wird.

Glücklicherweise bringt das viel gescholtene Völkerrecht mehr Verständnis und mehr Respekt für die Anliegen kleiner Völker auf als der seltsam versteinerte Zeitgeist. Der angesehene deutsche Völkerrechtler Jochen Frowein, kürzlich eine Zeit lang Gast der Akademie der Wissenschaften und Künste in Prishtina, kommt in einem Beitrag zum Selbstbestimmungsrecht im Fall des Kosovo zu dem Ergebnis, dass dem Land, das heißt der albanischen Mehrheitsbevölkerung im Kosovo, keine politische Lösung einfach oktroyiert werden kann – auch nicht vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen: »Firstly, any political settlement as envisaged in Resolution 1244 and in the Constitutional Framework must respect the right to selfdetermination. This means that no final political settlement could be brought about without a certain participation of the people of Kosovo. Either by a referendum or by elections the people of Kosovo must give its consent to any political settlement. A settlement against the clear will of the people of Kosovo expressed in a referendum or in elections could, I submit, not be seen as being in line with the right to self-determination.« ( Jochen Frowein, The Protection of Human Rights in Europe and the Right to Self-Determination, in: Studime 10, 2003, Academia Scientiarum et Artium Kosoviensis, Prishtine 2004) Ein ungewohnter Ton im Diskurs über das Kosovo. Dabei garantiert auch die Verfassung des neuen, von der EU erzwungenen Staatsgebildes »Serbien und Montenegro« ein Referendum nach drei Jahren. Es geht nicht anders, der Macht- und Gestaltungswillen der Großen Mächte findet hier seine klare Grenze. Man wird es vielleicht nicht glauben wollen, aber das gilt auch für das Kosovo. In der Kosovo-Frage scheinen historisch ältere, schon versunken geglaubte Großmacht-Allüren wieder erstehen zu wollen. In welcher Epoche wir uns in Wirklichkeit befinden, kann man etwa bei Michael Ignatieff (Empire lite, Hamburg 2003) nachlesen. Es ist eine Zeit, deren »zentrale Überzeugungen« sich den antikolonialistischen Kämpfen des 20. Jahrhunderts verdanken: »die Idee der Gleichheit aller Menschen und die Idee, dass jedes Volk ein Recht habe, sich selber frei von äußerer Einmischung zu regieren«. Es ist eine Zeit, in der imperiale Interventionen immer noch oder schon wieder dringend notwendig sein können – wie auch das Kosovo der Jahre 1998/1999 wieder schlagend demonstriert hat, aber andererseits keinesfalls mehr über den Spielraum und den grenzenlosen Zeitrahmen früherer Epochen verfügen. Im Kosovo scheint jene äußerst knappe Zeitspanne, die heute einem solchen Ordnungseingriff von außen gesetzt ist, bereits überdehnt und überzogen zu sein.

 

Wie könnte man es verantworten, einem Land die politische Souveränität einzuräumen, das die Grundrechte seiner Minderheiten nicht achtet? Man muss zunächst einmal den Spieß umdrehen: Weil das Protektorat sich in einem halben Jahrzehnt außerstande gezeigt hat, diese Rechte zu sichern. Und was spräche dafür, dass die UN-Verwaltung im Laufe eines weiteren halben Jahrzehnts erfolgreicher wäre? Wie wiederholt von unabhängiger und ausgewiesener Seite aufgezeigt, war die in der Formel »Standards vor Status«-Strategie eine Fehlkonzeption – eine Fehlleistung deshalb, weil sie die Minderheitenfrage künstlich aus dem politischen Kontext herausschneidet, mit dem sie im Kosovo unablösbar verklammert ist. Solange die kosovarischen Serben sich von Belgrad und seinen Territorialansprüchen instrumentalisieren lassen – wie erneut in dem nahezu geschlossenen Wahlboykott vom Oktober –, werden sie im Kosovo nicht frei und unangefochten leben können – jedenfalls nicht überall im Land. Die Staatengemeinschaft ist wesentlich mitverantwortlich für einen Zustand, in dem sich die faktisch wohl längst illusionären Hoffnungen der einen und die faktisch wohl hysterisch übersteigerten Ängste der anderen Seite immer noch aneinander reiben, aufladen und entzünden können. Auch die Roma sehen sich in diese unter UN und KFOR letztlich unkontrollierbar fortschwelende Anomie hineingezogen, obwohl auch führende albanische Politiker heute offen von der »Tragik« dieser Minderheit sprechen. Ein Teil Roma sei in den Jahren der Milosevic-Herrschaft zur Zusammenarbeit mit der terroristischen Staatsmacht gezwungen worden, und die ganze Volksgruppe müsse heute die Rechnung dafür bezahlen. Ein selbständig arbeitender Handwerker in einem der Roma-Dörfer von Plementina bei Prishtina sagt uns im Gespräch, dass die März-Ereignisse – vor allem auch die Vertreibung der Ashkali in Vucitrn, einer Stadt etwas nördlich von Prishtina – wie ein Alb auf seinen Leuten laste. Aus Angst wagten viele bis heute nicht, ihre Siedlungen zu verlassen.

Das Insistieren der Unmik und der hinter ihr stehenden Staaten auf den Minderheitenrechten – bei gleichzeitigem Immobilismus in der Statusfrage – sieht sich heute übrigens auch von liberalen und rechtlich denkenden Albanern zunehmend hinterfragt: Man bekommt in Prishtina öfters zu hören, dass die »Minderheitenrechte« in der Öffentlichkeit angemessener als »Menschenrechte« präsentiert und eingefordert werden sollten.

Die Kernfrage in diesem Zusammenhang ist: Wo bleibt der albanische Citoyen? Wie kommt die schweigende Mehrheit im Kosovo, die jene gemeine Gewalt gegen die Schwachen und Schwächsten missbilligt, aus ihrer verheerenden Passivität heraus? Sie läuft ja doch auf eine Duldung der Entrechtung hinaus. Wo waren eigentlich die anderen, als im März der Mob zuschlug? Hat es hinterher eine öffentliche Auseinandersetzung darüber in den albanischen Medien gegeben? Man hat im Gespräch gelegentlich den Eindruck, dass die Frage nicht einmal verstanden wird. Unter welchen Bedingungen kann sich hier eine politische und moralische Öffentlichkeit entwickeln, die den Namen verdient und die Isolierung der Extremisten offenbart oder vielmehr erst unübersehbar vollzieht? Auf dem ganzen Land liegt und lastet nach wie vor so etwas wie ein ungeschriebenes Verbot, laut zu denken und die eigene Meinung unüberhörbar kundzutun. Woher es stammt und welche Erfahrungen, Zwänge, Strukturen es bis heute aufrechthält, können wohl nur die Albaner selbst beantworten. Hoffentlich tun sie es bald in aller Öffentlichkeit. Es ist noch sehr die Frage, welche Rolle die Staatengemeinschaft in diesem gesellschaftlichen und mentalen Erneuerungsprozess überhaupt spielen kann. Mit Sicherheit nicht die der Bevormundung – sie hat sich nach dem halben Jahrzehnt Unmik definitiv verschlissen.

 

 

 

 

 

Der Novize: Ramush Haradinaj

 

Porträt des neuen Regierungschefs in Prishtina

Seit Anfang Dezember 2004 hat die Provisorische Regierung in Prishtina einen neuen Premierminister: Ramush Haradinaj, 36, 1998/1999 Kommandant der UCK in der Region Dukagjini – der Kampfzone um die Städte Peja und Gjakovo im Westen des Kosovo, heute Chef der »Allianz für die Zukunft von Kosova« (AAK), der drittgrößten politischen Partei des Landes (8 % der Stimmen bei den Parlamentswahlen im Oktober). Das politische Prishtina ist mit der Ernennung und parlamentarischen Bestätigung Haradinajs zweifellos ein großes Risiko eingegangen: Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Politiker vor dem Strafgerichtshof in Den Haag wegen Kriegsverbrechen angeklagt wird. Sollte das geschehen, dann noch in diesem Jahr – dem Tribunal läuft die Zeit davon. Vor dem Hintergrund der gewalttätigen Ausschreitungen im März 2004 kreist die Berichterstattung bei uns um die mögliche Gefährdung der Stabilität: Was passiert im Land, wenn es tatsächlich zur Anklage kommt? Warum hat Sören Jessen-Petersen, seit Sommer 2004 Chef der Unmik-Verwaltung, die Entscheidung der Albaner überhaupt akzeptiert? Der neue Mann selbst bleibt ein Schemen, eine Unperson fast. Keine Interviews, keine biografischen Skizzen, keine Fragen zur Person. Er ist nur der mutmaßliche Kriegsverbrecher, die normale journalistische Neugier scheint in diesem Fall auszusetzen. Aber wer ist dieser Ramush Haradinaj eigentlich?

Nach dem Gespräch in der Parteizentrale im Zentrum von Prishtina erhält der Besucher ein schmales Buch. Es handelt sich um den persönlichen Erfahrungsbericht des Ex-Kommandanten über den bewaffneten Widerstand der UCK gegen das Milosevic-Regime. Der ins Englische übersetzte Text ist in der Form eines langen und eingehenden Zwiegesprächs gehalten und reicht zeitlich von April 1998, als Haradinaj aus dem Ausland in das Kosovo zurückkehrt, bis zum Bombardement der NATO und zum Abzug der serbischen Truppen 1999. (Bardh Hamzaj, A Narrative about War and Freedom. Dialog with the commander Ramush Haradinaj, Prishtina 2000). Das Überraschende daran ist zunächst einmal, dass es keine Propagandaschrift ist, sondern ein authentisches Dokument, wie selbst von kritischen Intellektuellen vor Ort nicht bestritten wird. Das Büchlein ist denn auch in einem renommierten Verlag erschienen. Die Fragen, die es strukturieren und zusammenhalten, haben zudem Niveau und zeugen von beträchtlicher Sachkenntnis. Die genauere Lektüre vertieft den Eindruck, dass wir es hier mit einer nüchternen, um Genauigkeit und Aufrichtigkeit bemühten Bilanz zu tun haben.

Zwei Momente seien hier hervorgehoben: Nirgends beschönigt Ramush Haradinaj die sich im Verlauf der blutigen Krise mehrfach wandelnde, aber immer prekäre Beziehung der UCK zu den albanischen Volksmassen im Kosovo. Vor allem zu Beginn ihrer Aktivitäten und dann wieder nach der verheerenden, beinahe vernichtenden Niederlage gegen die serbische Offensive im September 1998 sieht sich die UCK einem grassierenden Zweifel in ihre Kraft, in ihre Strategie, in ihre Erfolgsaussicht ausgesetzt. Erst mit dem Auftauchen der OSZE-Beobachter unter dem unbestechlichen William Walker im Land gewinnt die Guerilla politisch wieder etwas an Boden in der breiten Bevölkerung. Der zweite bemerkenswerte Punkt wäre die Politikferne oder besser: die politische Marginalisierung dieser Zonen-Kommandanten. Sie sind nach diesem Zeugnis viel zu unerfahren, zu wenig kompetent, um etwa die Anwesenheit führender Vertreter der Staatengemeinschaft – man denke nur an Richard Holbrooke – für sich nutzen zu können. Die für sie doch schließlich entscheidenden Verhandlungen in Rambouillet vermögen sie nur durch den Schleier der Halbinformation zu verfolgen. Einmal bezeichnet Ramush Haradinaj sich und seine Mitkämpfer als »Novizen«, und er meint offensichtlich beides: die gravierenden Mängel der militärischen Organisation und die Unreife des politischen Handelns.

Auch im Gespräch selbst (zuletzt August 2004) wirkt Ramush Haradinaj bei allem Selbstbewusstsein sachlich und unautoritär. Aber auch noch unfertig, tastend, suchend. Im Mittelpunkt steht der Aufbau der Partei, die demokratischer, basisnäher werden soll. Das ist das Konkreteste, der Rest mutet noch recht verschwommen oder unbestimmt an. Die hier zu Lande gebräuchlichen Allüren des politischen »Führers« bleiben hingegen aus. Dieser Politiker scheint sich tatsächlich als einen Lernenden zu begreifen (nicht nur im Bereich der Ausbildung: Haradinaj hat kürzlich an der Universität in Prishtina seinen Jura-Abschluss gemacht). Auch ein so intimer Kenner der politischen Klasse in Prishtina wie Migjen Kelmendi, Herausgeber der kritischen Wochenzeitung Java, bestätigt die eher intuitive Wahrnehmung: Ramush Haradinaj sei unter den führenden Persönlichkeiten der kosovarischen Politik der Einzige mit einer echten Bereitschaft zum Dialog und zur Verständigung mit anderen – anders als Ibrahim Rugova, Hashim Thaci und sogar Veton Surroi, der neue Stern der noch ziemlich kleinen liberalen und linksliberalen Schicht im Kosovo, die alle monologisch agierten oder hierarchisch dächten. Aber auch sonst trifft man im heutigen Prishtina nicht selten auf ein verständnisvolles und sogar wohlwollendes Urteil über Ramush Haradinaj. Und durchaus nicht nur auf der Straße, sondern auch bei den höchst angesehenen und informell einflussreichen alten Männern im Hintergrund: bei Mahmut Bakalli zum Beispiel, der unter Tito einmal der mächtigste Kommunist im Kosovo war und Haradinaj heute politisch berät; oder auch bei Rexhep Ismajli, dem gegenwärtigen Präsidenten der Akademie der Wissenschaften und Künste. Auch für diese Leute, die man ohne Übertreibung als abgeklärte kosovarische Patrioten charakterisieren könnte, hat der politische Aufstieg eines Haradinaj und eines Thaci nichts Fragwürdiges. Sie sehen darin vielmehr die schrittweise Herausbildung einer demokratischen politischen Landschaft, die – wenn sie denn genuin pluralistisch werden soll – die Erfahrung des bewaffneten Befreiungskampfes nicht ausgrenzen darf. Dennoch und bei allem Kredit: Die eigentliche politische Bewährung liegt noch vor Ramush Haradinaj. Der erste große Test könnte sehr wohl die Einlösung des Versprechens sein, sich widerstandslos dem Gericht in Den Haag zu stellen.

Ernst Köhler