Drei Stationen –
Sarajevo, Prizren, Prishtina –, aber nicht nur Impressionen einer Reise. Die
kontinuierliche Beobachtung der Entwicklungen in Bosnien-Herzegovina und im Kosovo
lässt für unseren Autor Illusionen nicht mehr zu: Die internationale
Gemeinschaft sollte von ihrem Bevormundungsverhalten Abstand nehmen und sich
entwickelnden Tatsachen stellen: Dazu könnte auch gehören, dass man dem Kosovo
den Status der Unabhängigkeit gewähren muss.
Die Belagerung Sarajevos
1992–1995 hat sich dem Gedächtnis der Welt eingegraben – anders als der
Untergang der kroatischen Stadt Vukovar, die ganz zu Anfang der Jugoslawienkriege
an einer noch unaufmerksamen, schlafenden Welt vorbei ausgerottet worden ist.
Und anders auch als die Zerstörung Mostars, von der nur die Zertrümmerung der
Alten Brücke durchgedrungen ist. Sarajevo war immer etwas Besonderes, gewissermaßen
Privilegiertes – als ob sich das Appeasement Europas gegenüber dem kriminellen
Projekt eines großserbischen Eroberungsstaates, der Verrat des Westens an der
tödlich bedrohten bosnjakischen Zivilbevölkerung hier in einem speziellen Kult,
in einer nachdrücklichen Hommage an die geschundene Stadt auszugleichen, zu
kompensieren versucht hätte. Es war zu wenig. Man kann eine Stadt nicht
schmählich im Stich lassen und sie zugleich in den Himmel heben, mit Verehrung
überhäufen, zum multikulturellen Kosmos hochstilisieren. Wer Sarajevo heute
besucht, wird denn auch mit einer distanzierten, kühlen Höflichkeit
konfrontiert. Und wenn die Fragen des Fremden allzu ignorant oder
voreingenommen ausfallen, kann die großstädtische Umgänglichkeit leicht in Gereiztheit
umschlagen. Mit Demut, mit der penetranten, halb gespielten Genügsamkeit eines
nach wie vor unter fremder Kontrolle stehenden Landes ist hier nichts. Man befindet
in einer Metropole, Sarajevo ist wieder eine Metropole.
Lieber wären wir zu Fuß
gelaufen (eine Gruppe von Journalisten aus dem deutschsprachigen Raum,
teilweise zum ersten Mal hier), aber General Jovan Divjak, Ende 60, einer der
wenigen hohen Offiziere serbischer Nationalität, die sich im Krieg auf die
Seite der Republik Bosnien-Herzegovina gestellt haben, kutschiert uns mit dem
Bus durch »das Sarajevo während der Belagerung«. Aussteigen dürfen wir erst am
berühmten Tunnel, den die Belagerten sich 1993 unter dem Flughafen hindurch ins
Freie gegraben haben. Ein paar Meter des niedrigen Stollens sind noch begehbar,
und an seinem Eingang befindet sich in einem kleinen Privathaus ein
bescheidenes Museum mit Dokumenten und Überresten: Fotos, Videos, Tragen,
Waffen aus den Jahren des rettenden Tunnels. Es ist ein Familienunternehmen und
muss bislang ohne öffentliche Unterstützung auskommen, wie uns der
Barfuß-Kustos, Sohn des Hauses, damals 17, heute Ende 20, erläutert. Die
Waffen: Jemand von uns fragt, woher sie gekommen sind, wer sie denn geliefert
hat. Der junge Mann reagiert abweisend, und als die Frage in bohrendem Ton wiederholt
wird, reagiert er ärgerlich. Es sei ihm damals egal gewesen, woher die Waffen
kamen. Hauptsache, sie kamen. Es ist ein kleiner, harter Disput – das Problem
des jungen Mannes sind offenkundig nicht Rüstungsindustrie und Waffengeschäfte,
sein Problem ist das internationale Waffenembargo über dem wehrlosen Bosnien.
Man könnte auch sagen: Sein Problem ist eine feine, gestrenge Moral, die über
Leichen geht. Oder die Toten vergisst.
Im Grunde bleibt der Dialog
die ganze Zeit über so herb. Senka Kurtovic, Anfang 40, Chefredakteurin der
seit dem Krieg in der ganzen Welt bekannten und geachteten Tageszeitung Oslobodjenje,
hält sich nicht lange mit dem heroischen Teil ihrer Ausführungen auf. Wir sind
ja schließlich auch keine Touristen, die in aller Pietät ein bisschen am Krieg
nippen möchten. Aber was ist das für ein Land, eine Gesellschaft, eine
Öffentlichkeit hier – und vor allem: Muss man nicht davon sprechen, dass in
Bosnien heute der islamische Fundamentalismus an Boden gewinnt? Senka Kurtovic
sagt uns ins Gesicht, dass das »ein Vorurteil« sei. Kein Zweifel, es gebe immer
wieder massiven Druck seitens klerikaler Kreise auf die Medien – aber nicht nur
vom obersten Imam Mustafa Ceric, sondern auch vom katholischen Bischofs von
Sarajevo, ebenfalls ein notorischer nationalreligiöser Hardliner. Aber das
seien Versuche, Strategien, nicht unbedingt auch Erfolge. Dani (»Tage«,
Auflage: 12–15000),
ein renommiertes kritisches Wochenmagazin, schlägt sich seit Jahren mit einer
besonderen Bravour an dieser Front. Da ist dann ein Heft mit dem in unerhörten
Unterhosen telefonierenden Imam erschienen – auf dem Deckblatt! Inhalt des
hochwürdigen Telefonats: Anweisung eines Anzeigenboykotts für die unbotmäßige
Presse. Emir Imamovic, Anfang 30, Chefredakteur von Dani, sagt uns
lächelnd, die obszöne Ausgabe habe sich freilich ein wenig schlechter verkauft
als andere. Auch sonst scheint der jugendliche Chefjournalist nicht gerade ein
Kind von Traurigkeit: »Milosevic nervt.« Über den Prozess in Den Haag wollten
die Leute hier nichts mehr lesen. Und Dani brächte auch nichts mehr
darüber. Für jemand von außen – auch noch aus Deutschland – klingt das etwas
befremdlich. Aber der Prozess gegen Milosevic ist endlos, und ab jetzt wird er
noch einmal endloser. Vielleicht wollen die Menschen hier auch erst einmal die
Verhaftung von Karadzic und Mladic abwarten, bevor sie sich wieder stärker für
unendliche Prozesse interessieren. Ganz zu schweigen vom elementaren Wunsch
eines Großteils der jungen Generation (man nennt uns Zahlen zwischen 65 und 85
%), dem Land überhaupt den Rücken zu kehren.
Der unzynische Zynismus, die
ironische Kaltschnäuzigkeit des Dani-Mannes ist zudem nur eine Variante
der Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit im Sarajevo von heute. Es
ist gerade die Vielfalt der Denkansätze, die charakteristisch ist. Zusammengenommen
stellt sie so etwas wie eine kulturelle Alternative oder Gegenwelt zu den drei
miteinander konkurrierenden parteipolitisch formierten Standardversionen
bosnisch-herzegovinischer Vergangenheitsbewältigung dar: zur
bosnisch-serbischen um die SDS, zur bosnisch-kroatischen um die HDZ, zur
bosnjakischen um die SDA. Es versteht sich, dass zumindest dem
zeitgeschichtlich unbedarften Besucher aus dem Westen der klare Bruch unterschiedslos
mit allen regionalen Nationalismen und ihrer jeweiligen Geschichtsklitterung
unmittelbar einleuchtet. Aber es zeugt von sehr viel Großmut und
Selbstverleugnung, wenn die Intellektuellen und Künstler von Sarajevo den
bosnjakischen Nationalismus in einen Topf werfen mit dem um vieles bösartigeren
und vom Krieg her schwer belasteten bosnisch-kroatischen und sogar mit dem
bosnisch serbischen, der direkt faschistische Züge trägt. Im »Zentrum für
Gegenwartskunst« am Ufer der Miljacka im Stadtzentrum sehen wir in Anwesenheit
der jungen Regisseurin Jasmila Zbanich aus Sarajevo zwei Dokumentarfilme: Images
from the Corner (2003) und Red Rubber Boots (2000). Beide Filme
machen in behutsamer und anrührender Weise das persönliche Leid der Opfer zum Gegenstand:
das zunächst unklare Schicksal eines Nachbarmädchens um die Ecke, das von einer
Granate schwer verletzt wird; die hartnäckige, vergebliche Suche einer Mutter
nach den sterblichen Überresten ihrer beiden kleinen Kinder, die von der
serbischen Armee ermordet worden sind. Auf die Frage, warum sie nicht auch
einmal einen Film über einen Täter gemacht habe – gemeint sind die Täter auf
der bosnisch-muslimischen Seite, die es ja auch gegeben hat –, antwortet
Jasmila Zbanich zögernd, dazu fühle sie sich bislang noch nicht imstande. Es
könne ja kein Zerrbild werden. Es müsse ja ein Mensch gezeigt werden. Auf das
Vermögen dazu müsse sie noch warten.
Das orthodoxe
Erzengel-Kloster in den Bergen über der Stadt Prizren im Süden des Kosovo liegt
in Trümmern. Aber die Ruinen sind glücklicherweise bereits 400 Jahre alt – die
osmanische Macht hatte das Kloster einst geschleift und aus den Steinen die
größte und schönste Moschee im Zentrum von Prizren gebaut. Erst im Jahr 1998,
also im unmittelbaren Vorfeld des Kosovo-Krieges, hat die orthodoxe Kirche
Serbiens beschlossen, hier ein Zeichen zu setzen und das Kloster nach
Jahrhunderten wieder aufleben zu lassen. Es ist dieser neue Bau, der im März
letzten Jahres von einem albanischen Mob gebrandschatzt und demoliert worden
ist – genauer von etwa 600 Leuten, die mit Bussen hier heraufgekommen waren.
Von einem spontanen Wutausbruch kann man in diesem Fall also schlecht sprechen.
Der Rest ist bekannt, die Soldaten von der deutschen KFOR waren bei uns
wochenlang in der Kritik. Heute helfen sie den aus der weiteren Umgebung
kommenden serbischen Arbeitern mit Logistik und Material beim Bau eines
schmucken kleinen Klosters aus Holz. Es sollte noch vor dem Winter bezogen werden.
Die wenigen Mönche, nicht einmal ein halbes Dutzend, sind schon da. Man bittet
uns aber, die Container, in denen sie vorläufig untergebracht sind, zu meiden.
Aber einer der Patres kommt dann doch heraus: überraschend jung, klein, dünn,
das Gewand zerrissen – ein Bild der Trostlosigkeit. Kaum hörbar sagt er, sie
seien hier, »um zu Gott zu beten. Wir sind doch keine Politiker«.
Am Abend sind wir zu Gast im
deutschen Militärlager am Rande der Stadt. Oberst Erhard Bühler, der neue
Kommandeur der deutschen Truppen im KFOR-Sektor Südwest, gibt uns einen
Lagebericht. Im Vergleich zu anderen Lageberichten seitens »Internationaler«,
wie wir sie bereits in Prishtina gehört haben, ist dieser wohltuend frei von
einer Dramatisierung, die aus der Verunsicherung, aus dem Gefühl des Versagens
kommt. Die gewöhnliche bengalische Beleuchtung über dem Balkan bleibt diesmal
ausgeschaltet. Man versucht aus den März-Ereignissen zu lernen: keineswegs nur
durch die Einübung polizeilicher Praktiken in der Abwehr von gewalttätigem Massenprotest,
die – nach einem uns vorgeführten Video zu schließen – auch noch etwas
dilettantisch anmutet. Wichtiger scheint die »Einsatzorientierung«. Die Präsenz
der Truppen in der Region müsse dicht und vor allem unkalkulierbar sein.
Niemand solle im Vorhinein wissen dürfen, wann und wo die Soldaten auftauchen.
Bühler nennt das in seinem Vortrag »die Sprache der Stärke«, die hier
verstanden werde und »das Überkochen von Emotionen« im Ansatz verhindern könne.
Neu ist auch, dass im äußersten Notfall scharf geschossen werden darf –
allerdings nur von speziell geschulten und ausgerüsteten Scharfschützen aus der
zweiten Linie, die auch auf weite Entfernung den tödlichen Schuss mit großer
Sicherheit vermeiden könnten. Auf die nun doch unbehagliche Frage, ob eine
solche Ausweitung des Maßnahmen-Spektrums denn unbedingt nötig gewesen sei,
antwortet Erhard Bühler: Man dürfe sich die Gewalt im Kosovo nicht etwa wie die
in Berlin-Kreuzberg am 1. Mai vorstellen. Das sei hier eine andere Kategorie:
die gewaltbereite Minderheit verfüge hier über Mörser, Handgranaten und
Kalaschnikows. Und sie sei gegebenenfalls auch durchaus bereit, diese Waffen
einzusetzen. Vor diesem spezifischen Hintergrund wirkt die Zusammenfassung am
Schluss kein bisschen martialisch: »Die Lage ist momentan ruhig, aber
unberechenbar.«
Die andere, die zivile Seite
des Auftretens der deutschen Truppen hier scheint auf den ersten Blick
schwächer, aufgesetzter: etwa Hilfe beim Bau von Schulen, Ausschwärmen der
Soldaten zu Gesprächen über die Dörfer. Im Grunde dürfte sich das Gewicht, das
Ansehen und die Popularität der deutschen Soldaten in der albanischen
Gesellschaft auch weniger diesen good-will-Aktivitäten verdanken als
vielmehr der grundsätzlichen Bereitschaft der gegenwärtigen militärischen
Führung, das politische Klima im Kosovo differenziert zu beurteilen und auf die
summarische Denunziation der albanischen Seite bewusst zu verzichten. An diesem
Abend ist so einiges Überraschende zu erfahren: In Prizren selbst gebe es etwa
1000 Gewaltbereite, mindestens 90 Prozent der Bevölkerung lehne die
Ausschreitungen im März ab. Das sei das Bild, das sich aus zahlreichen
Kontakten zu lokalen Journalisten, Lehrern, Geschäftsleuten und so weiter ergebe.
Hinzu kämen über 400 albanische KFOR-Angestellte. »Ich tue eigentlich die ganze
Zeit über nichts anderes als mit Leuten zu sprechen«, so Erhard Bühler. Sein
Stellvertreter, der für die vertriebenen Serben zuständig ist (17 noch oder
schon wieder in der Stadt, 30 noch im Camp, die aber mehrheitlich in die Stadt
zurückwollen und nur auf Fertigstellung ihrer Häuser oder Wohnungen warten),
fügt ein anderes interessantes Detail hinzu: Die Soldaten hätten die Leute aus
dem angegriffenen serbischen Stadtquartier nur evakuieren können, weil sie
teilweise vorher von albanischen Nachbarn versteckt worden seien.
Was den Südwest-Bezirk
insgesamt angehe, so sei die persönliche Sicherheit der Serben ganz verschieden
zu beurteilen: Dort, wo es (wie im Westen) im Krieg schwere Kämpfe und viele
Verbrechen der serbischen Militärs und Milizen geben habe, könnten sich die
Serben bis heute nicht ohne Eskorte bewegen. Anderswo könnten sie es sehr wohl,
wenn sie es denn überhaupt wollten – und nicht lieber aus Angst oder auch aus
politischen Gründen »in ihren Enklaven sitzen bleiben«.
Man darf annehmen, dass es
vor allem diese Nüchternheit ist – die pragmatische Distanz zu jener eifernden
Nationalismuskritik, wie sie sonst in internationalen Kreisen im Kosovo nicht
ungewöhnlich ist (und auch nicht in den deutschen Massenmedien) –, die von den
Albanern anerkannt und honoriert wird. Tuchfühlung zur lokalen Gesellschaft
könnte man es nennen, und es ist schwer zu sehen, wie eine Friedensmission ohne
sie auskommen könnte.
Wäre ein unabhängiges Kosovo
überhaupt lebensfähig? Das ist
vielleicht die erste Frage, die sich der Beobachter von außen stellt – auch der
wohlmeinende –, wenn er sich dem Kosovo zuwendet. Man sollte sich freilich
bewusst machen, dass man hier von einem Land spricht, das zumindest in den
beiden letzten Jahrzehnten von seiner Zugehörigkeit zum größeren serbischen
Staatsverband entschieden mehr Unterdrückung und rücksichtslosen Raubbau
erfahren hat als wirtschaftliche Förderung. Diese zwanzig Jahre muss man immer
mitberücksichtigen, wenn man den maroden Zustand etwa der Betriebe im Land
anspricht – wie Rainer Hengstmann vom EU-Pillar der Unmik es uns am Beispiel
des Bergbaus aufzeigt, in dessen Technologie seit Jahrzehnten nichts mehr
investiert worden ist. Aber ganz abgesehen von einer gewissen Verdrehung, die
in unserer skeptischen Frage steckt: Mit der Fokussierung aller Zweifel auf die
staatliche Unabhängigkeit eines winzigen Landes stiehlt man sich auch an den
eigentlich beunruhigenden Tatsachen vorbei. Die wirtschaftlichen Probleme des
Landes sind nach Angaben der Experten vom EU-Pillar dermaßen tief, chronisch
und strukturell, dass man sich überhaupt keine Status-Lösung vorstellen kann,
die sie abfangen könnte. So müsste nach einer Einschätzung der Weltbank die
Wirtschaft im Kosovo über die nächsten 15 Jahre jeweils um 26 Prozent wachsen,
um die jährlich zu Zehntausenden neu auf den Arbeitsmarkt strömenden jungen
Menschen aufsaugen zu können! Da das natürlich utopisch ist, wird das Kosovo
seine Arbeitskräfte exportieren müssen. Oder andersherum: Europa wird diese
»überflüssigen« Menschen aufnehmen und ihnen eine Chance geben müssen – ob das
Land nun unabhängig ist oder nicht.
Das ist nur ein Schlaglicht
auf die reale ökonomische Situation des Landes, die einen regionalen Entwicklungsplan
erfordert. Die ökonomisch alles andere als erfolgreiche Mission der UN läuft
aus, alle Hoffungen im Land richten sich auf die EU. Nur nicht noch mehr Jahre
verlieren! Das ist die Grundfarbe oder der Tenor des kosovoalbanischen
Unabhängigkeitsgedankens. Enver Hasani, außenpolitischer Berater der
Provisorischen Regierung und Professor für internationales Recht an der
Universität in Prishtina, sagt im Gespräch etwas sehr Bezeichnendes: Die
Parlamentswahlen vom 23. Oktober sind nach seiner Auffassung »die letzten
gewesen, die allein mit der leeren Parole der Unabhängigkeit zu bestreiten
waren«. Die Wähler hätten den Politikern noch einmal eine letzte Chance gegeben
– gemeint ist damit wohl vor allem die Liga von Ibrahim Rugova, über dessen
»Lego-Spiel« mit der Unabhängigkeit jedenfalls die Intelligenz des Landes nur
noch lachen kann. Hasani selbst schwebt für eine Übergangszeit so etwas wie
eine – aus freien Stücken und einvernehmlich – geteilte Macht (»condominium«,
»joined government«) der gewählten Regierung in Prishtina und der Kontaktgruppe
oder der EU vor. Alles das klingt – aus dem Mund eines »Nationalen« –
erstaunlich unpathetisch oder ideologiefrei.
Wäre ein Nationalstaat
Kosova nicht auch politisch das falsche Signal und im Grunde anachronistisch? Man hat in diesem Zusammenhang gesagt, dass man mit
solchen Überlegungen vielleicht nicht bei Israel oder Palästina oder
irgendeinem anderen kleinen Nationalstaat jüngeren Datums oder in der Mache
anfangen sollte, sondern am besten bei Frankreich, der gereiften Mutter aller
Nationalstaaten. Es ist hier an den Gemeinplatz zu erinnern, das die moderne
Geschichte nicht linear verläuft und keine flächendeckende »Gleichzeitigkeit«
kennt. Wenn ein kleines Volk sich ohne eigenen Staat ausgesetzt und schutzlos
fühlt, wird es sich auch im 21. Jahrhundert nicht an irgendeinem allgemeinen
Stand der politischen Entwicklung orientieren, sondern an seinen spezifischen
Erfahrungen und Lebensinteressen. In unserer besorgten Frage liegt ein
eklatanter Mangel an Vorstellungskraft: Was wüssten wir denn – sofern wir keine
Juden sind – von einer Situation, in der uns der eigene Staat überfällt,
verfolgt, vertreibt und massakriert. In der sich also der eigene, der
vermeintlich eigene Staat als der Todfeind schlechthin entpuppt?
Fortschrittsvisionen und Geschichtstheorien wie die vom Auslaufsmodell
Nationalstaat können nur im Schoße unangefochtener, stabiler, rechtsstaatlich
und demokratisch organisierter Nationalstaaten entwickelt werden. Ein Land,
eine Gesellschaft, eine Nation muss nach der Erfahrung der Existenzangst, der
veritablen Existenzbedrohung zuerst die Erfahrung der Existenzsicherheit
gemacht haben, muss ganz durchdrungen, gesättigt sein von dieser neuen
besänftigenden Erfahrung, ehe sie sich auf ein zukunftsweisendes Experiment der
Staatenbildung ernsthaft einlassen wird. Überspringen lässt sich in diesen
Lebensfragen nichts. Angst, Trauma, Hysterie lassen sich nicht wegdekretieren,
sondern nur allmählich abarbeiten oder relativieren. Das kann man von der
klassischen Arbeit des ungarischen Politologen István Bibó über Die Misere
der osteuropäischen Kleinstaaterei (1946) lernen, die leider im
Zusammenhang mit der Kosovo-Frage so gut wie nie zitiert wird.
Glücklicherweise bringt das
viel gescholtene Völkerrecht mehr Verständnis und mehr Respekt für die Anliegen
kleiner Völker auf als der seltsam versteinerte Zeitgeist. Der angesehene
deutsche Völkerrechtler Jochen Frowein, kürzlich eine Zeit lang Gast der
Akademie der Wissenschaften und Künste in Prishtina, kommt in einem Beitrag zum
Selbstbestimmungsrecht im Fall des Kosovo zu dem Ergebnis, dass dem Land, das
heißt der albanischen Mehrheitsbevölkerung im Kosovo, keine politische Lösung
einfach oktroyiert werden kann – auch nicht vom Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen: »Firstly, any political settlement as envisaged in Resolution 1244
and in the Constitutional Framework must respect the right to
selfdetermination. This means that no final political settlement could be brought about
without a certain participation of the people of Kosovo. Either by a referendum
or by elections the people of Kosovo must give its consent to any political
settlement. A settlement against the clear will of the people of Kosovo
expressed in a referendum or in elections could, I submit, not be seen as being
in line with the right to self-determination.« ( Jochen Frowein, The Protection
of Human Rights in Europe and the Right to Self-Determination, in: Studime
10, 2003, Academia Scientiarum et Artium Kosoviensis, Prishtine 2004) Ein
ungewohnter Ton im Diskurs über das Kosovo. Dabei garantiert auch die Verfassung des neuen, von der EU erzwungenen
Staatsgebildes »Serbien und Montenegro« ein Referendum nach drei Jahren. Es
geht nicht anders, der Macht- und Gestaltungswillen der Großen Mächte findet
hier seine klare Grenze. Man wird es vielleicht nicht glauben wollen, aber das
gilt auch für das Kosovo. In der Kosovo-Frage scheinen historisch ältere, schon
versunken geglaubte Großmacht-Allüren wieder erstehen zu wollen. In welcher
Epoche wir uns in Wirklichkeit befinden, kann man etwa bei Michael Ignatieff (Empire
lite, Hamburg 2003) nachlesen. Es ist eine Zeit, deren »zentrale
Überzeugungen« sich den antikolonialistischen Kämpfen des 20. Jahrhunderts
verdanken: »die Idee der Gleichheit aller Menschen und die Idee, dass jedes
Volk ein Recht habe, sich selber frei von äußerer Einmischung zu regieren«. Es
ist eine Zeit, in der imperiale Interventionen immer noch oder schon wieder
dringend notwendig sein können – wie auch das Kosovo der Jahre 1998/1999 wieder
schlagend demonstriert hat, aber andererseits keinesfalls mehr über den
Spielraum und den grenzenlosen Zeitrahmen früherer Epochen verfügen. Im Kosovo
scheint jene äußerst knappe Zeitspanne, die heute einem solchen
Ordnungseingriff von außen gesetzt ist, bereits überdehnt und überzogen zu
sein.
Wie könnte man es
verantworten, einem Land die politische Souveränität einzuräumen, das die
Grundrechte seiner Minderheiten nicht achtet? Man muss zunächst einmal den Spieß umdrehen: Weil das
Protektorat sich in einem halben Jahrzehnt außerstande gezeigt hat, diese
Rechte zu sichern. Und was spräche dafür, dass die UN-Verwaltung im Laufe eines
weiteren halben Jahrzehnts erfolgreicher wäre? Wie wiederholt von unabhängiger
und ausgewiesener Seite aufgezeigt, war die in der Formel »Standards vor
Status«-Strategie eine Fehlkonzeption – eine Fehlleistung deshalb, weil sie die
Minderheitenfrage künstlich aus dem politischen Kontext herausschneidet, mit
dem sie im Kosovo unablösbar verklammert ist. Solange die kosovarischen Serben
sich von Belgrad und seinen Territorialansprüchen instrumentalisieren lassen –
wie erneut in dem nahezu geschlossenen Wahlboykott vom Oktober –, werden sie im
Kosovo nicht frei und unangefochten leben können – jedenfalls nicht überall im
Land. Die Staatengemeinschaft ist wesentlich mitverantwortlich für einen
Zustand, in dem sich die faktisch wohl längst illusionären Hoffnungen der einen
und die faktisch wohl hysterisch übersteigerten Ängste der anderen Seite immer
noch aneinander reiben, aufladen und entzünden können. Auch die Roma sehen sich
in diese unter UN und KFOR letztlich unkontrollierbar fortschwelende Anomie
hineingezogen, obwohl auch führende albanische Politiker heute offen von der
»Tragik« dieser Minderheit sprechen. Ein Teil Roma sei in den Jahren der
Milosevic-Herrschaft zur Zusammenarbeit mit der terroristischen Staatsmacht
gezwungen worden, und die ganze Volksgruppe müsse heute die Rechnung dafür
bezahlen. Ein selbständig arbeitender Handwerker in einem der Roma-Dörfer von
Plementina bei Prishtina sagt uns im Gespräch, dass die März-Ereignisse – vor
allem auch die Vertreibung der Ashkali in Vucitrn, einer Stadt etwas nördlich
von Prishtina – wie ein Alb auf seinen Leuten laste. Aus Angst wagten viele bis
heute nicht, ihre Siedlungen zu verlassen.
Das Insistieren der Unmik
und der hinter ihr stehenden Staaten auf den Minderheitenrechten – bei
gleichzeitigem Immobilismus in der Statusfrage – sieht sich heute übrigens auch
von liberalen und rechtlich denkenden Albanern zunehmend hinterfragt: Man
bekommt in Prishtina öfters zu hören, dass die »Minderheitenrechte« in der
Öffentlichkeit angemessener als »Menschenrechte« präsentiert und eingefordert
werden sollten.
Die Kernfrage in diesem
Zusammenhang ist: Wo bleibt der albanische Citoyen? Wie kommt die schweigende
Mehrheit im Kosovo, die jene gemeine Gewalt gegen die Schwachen und Schwächsten
missbilligt, aus ihrer verheerenden Passivität heraus? Sie läuft ja doch auf
eine Duldung der Entrechtung hinaus. Wo waren eigentlich die anderen, als im
März der Mob zuschlug? Hat es hinterher eine öffentliche Auseinandersetzung
darüber in den albanischen Medien gegeben? Man hat im Gespräch gelegentlich den
Eindruck, dass die Frage nicht einmal verstanden wird. Unter welchen
Bedingungen kann sich hier eine politische und moralische Öffentlichkeit
entwickeln, die den Namen verdient und die Isolierung der Extremisten offenbart
oder vielmehr erst unübersehbar vollzieht? Auf dem ganzen Land liegt und lastet
nach wie vor so etwas wie ein ungeschriebenes Verbot, laut zu denken und die
eigene Meinung unüberhörbar kundzutun. Woher es stammt und welche Erfahrungen,
Zwänge, Strukturen es bis heute aufrechthält, können wohl nur die Albaner
selbst beantworten. Hoffentlich tun sie es bald in aller Öffentlichkeit. Es ist
noch sehr die Frage, welche Rolle die Staatengemeinschaft in diesem
gesellschaftlichen und mentalen Erneuerungsprozess überhaupt spielen kann. Mit
Sicherheit nicht die der Bevormundung – sie hat sich nach dem halben Jahrzehnt
Unmik definitiv verschlissen.
Seit Anfang Dezember 2004
hat die Provisorische Regierung in Prishtina einen neuen Premierminister:
Ramush Haradinaj, 36, 1998/1999 Kommandant der UCK in der Region Dukagjini –
der Kampfzone um die Städte Peja und Gjakovo im Westen des Kosovo, heute Chef
der »Allianz für die Zukunft von Kosova« (AAK), der drittgrößten politischen
Partei des Landes (8 % der Stimmen bei den Parlamentswahlen im Oktober). Das
politische Prishtina ist mit der Ernennung und parlamentarischen Bestätigung
Haradinajs zweifellos ein großes Risiko eingegangen: Es ist nicht
ausgeschlossen, dass der Politiker vor dem Strafgerichtshof in Den Haag wegen
Kriegsverbrechen angeklagt wird. Sollte das geschehen, dann noch in diesem Jahr
– dem Tribunal läuft die Zeit davon. Vor dem Hintergrund der gewalttätigen Ausschreitungen
im März 2004 kreist die Berichterstattung bei uns um die mögliche Gefährdung
der Stabilität: Was passiert im Land, wenn es tatsächlich zur Anklage kommt?
Warum hat Sören Jessen-Petersen, seit Sommer 2004 Chef der Unmik-Verwaltung,
die Entscheidung der Albaner überhaupt akzeptiert? Der neue Mann selbst bleibt
ein Schemen, eine Unperson fast. Keine Interviews, keine biografischen Skizzen,
keine Fragen zur Person. Er ist nur der mutmaßliche Kriegsverbrecher, die
normale journalistische Neugier scheint in diesem Fall auszusetzen. Aber wer
ist dieser Ramush Haradinaj eigentlich?
Nach dem Gespräch in der
Parteizentrale im Zentrum von Prishtina erhält der Besucher ein schmales Buch.
Es handelt sich um den persönlichen Erfahrungsbericht des Ex-Kommandanten über
den bewaffneten Widerstand der UCK gegen das Milosevic-Regime. Der ins
Englische übersetzte Text ist in der Form eines langen und eingehenden
Zwiegesprächs gehalten und reicht zeitlich von April 1998, als Haradinaj aus
dem Ausland in das Kosovo zurückkehrt, bis zum Bombardement der NATO und zum
Abzug der serbischen Truppen 1999. (Bardh Hamzaj, A Narrative about War and
Freedom. Dialog with the commander Ramush Haradinaj, Prishtina 2000). Das Überraschende daran ist zunächst einmal, dass es
keine Propagandaschrift ist, sondern ein authentisches Dokument, wie selbst von
kritischen Intellektuellen vor Ort nicht bestritten wird. Das Büchlein ist denn
auch in einem renommierten Verlag erschienen. Die Fragen, die es strukturieren
und zusammenhalten, haben zudem Niveau und zeugen von beträchtlicher
Sachkenntnis. Die genauere Lektüre vertieft den Eindruck, dass wir es hier mit
einer nüchternen, um Genauigkeit und Aufrichtigkeit bemühten Bilanz zu tun
haben.
Zwei Momente seien hier
hervorgehoben: Nirgends beschönigt Ramush Haradinaj die sich im Verlauf der
blutigen Krise mehrfach wandelnde, aber immer prekäre Beziehung der UCK zu den
albanischen Volksmassen im Kosovo. Vor allem zu Beginn ihrer Aktivitäten und
dann wieder nach der verheerenden, beinahe vernichtenden Niederlage gegen die
serbische Offensive im September 1998 sieht sich die UCK einem grassierenden
Zweifel in ihre Kraft, in ihre Strategie, in ihre Erfolgsaussicht ausgesetzt.
Erst mit dem Auftauchen der OSZE-Beobachter unter dem unbestechlichen William
Walker im Land gewinnt die Guerilla politisch wieder etwas an Boden in der
breiten Bevölkerung. Der zweite bemerkenswerte Punkt wäre die Politikferne oder
besser: die politische Marginalisierung dieser Zonen-Kommandanten. Sie sind
nach diesem Zeugnis viel zu unerfahren, zu wenig kompetent, um etwa die
Anwesenheit führender Vertreter der Staatengemeinschaft – man denke nur an
Richard Holbrooke – für sich nutzen zu können. Die für sie doch schließlich
entscheidenden Verhandlungen in Rambouillet vermögen sie nur durch den Schleier
der Halbinformation zu verfolgen. Einmal bezeichnet Ramush Haradinaj sich und
seine Mitkämpfer als »Novizen«, und er meint offensichtlich beides: die
gravierenden Mängel der militärischen Organisation und die Unreife des
politischen Handelns.
Auch im Gespräch selbst
(zuletzt August 2004) wirkt Ramush Haradinaj bei allem Selbstbewusstsein
sachlich und unautoritär. Aber auch noch unfertig, tastend, suchend. Im
Mittelpunkt steht der Aufbau der Partei, die demokratischer, basisnäher werden
soll. Das ist das Konkreteste, der Rest mutet noch recht verschwommen oder
unbestimmt an. Die hier zu Lande gebräuchlichen Allüren des politischen
»Führers« bleiben hingegen aus. Dieser Politiker scheint sich tatsächlich als
einen Lernenden zu begreifen (nicht nur im Bereich der Ausbildung: Haradinaj
hat kürzlich an der Universität in Prishtina seinen Jura-Abschluss gemacht).
Auch ein so intimer Kenner der politischen Klasse in Prishtina wie Migjen
Kelmendi, Herausgeber der kritischen Wochenzeitung Java, bestätigt die
eher intuitive Wahrnehmung: Ramush Haradinaj sei unter den führenden
Persönlichkeiten der kosovarischen Politik der Einzige mit einer echten
Bereitschaft zum Dialog und zur Verständigung mit anderen – anders als Ibrahim
Rugova, Hashim Thaci und sogar Veton Surroi, der neue Stern der noch ziemlich
kleinen liberalen und linksliberalen Schicht im Kosovo, die alle monologisch
agierten oder hierarchisch dächten. Aber auch sonst trifft man im heutigen
Prishtina nicht selten auf ein verständnisvolles und sogar wohlwollendes Urteil
über Ramush Haradinaj. Und durchaus nicht nur auf der Straße, sondern auch bei
den höchst angesehenen und informell einflussreichen alten Männern im
Hintergrund: bei Mahmut Bakalli zum Beispiel, der unter Tito einmal der
mächtigste Kommunist im Kosovo war und Haradinaj heute politisch berät; oder
auch bei Rexhep Ismajli, dem gegenwärtigen Präsidenten der Akademie der Wissenschaften
und Künste. Auch für diese Leute, die man ohne Übertreibung als abgeklärte
kosovarische Patrioten charakterisieren könnte, hat der politische Aufstieg
eines Haradinaj und eines Thaci nichts Fragwürdiges. Sie sehen darin vielmehr
die schrittweise Herausbildung einer demokratischen politischen Landschaft, die
– wenn sie denn genuin pluralistisch werden soll – die Erfahrung des
bewaffneten Befreiungskampfes nicht ausgrenzen darf. Dennoch und bei allem
Kredit: Die eigentliche politische Bewährung liegt noch vor Ramush Haradinaj.
Der erste große Test könnte sehr wohl die Einlösung des Versprechens sein, sich
widerstandslos dem Gericht in Den Haag zu stellen.
Ernst Köhler