Marko Martin

 

»Es gibt keine aufgeteilte Verantwortung«

 

Der niederländische Soziologe Paul Scheffer im Gespräch über Migranten, Multikultur und Demokratie

 

 

 

Migration – Integration, ein europäisches Hauptproblem, hat an Schärfe zugelegt. In Deutschland läuft die Diskussion in Parametern wie demokratischer Rechtsstaat und Einwanderer-Patriarchat, Universalität der Menschenrechte und Scharia-Recht in abgesonderten Teilgesellschaften. Und sie läuft auf der konkreten Ebene der Erfahrungen im Zusammen- oder Nebeneinanderleben.
Der niederländische Soziologe PAUL SCHEFFER kritisiert im Gespräch mit MARKO MARTIN einen falschen Toleranzbegriff, der in Wirklichkeit politisch korrekt geschminkte Indifferenz verbirgt. Er fordert eine Rechtskultur, die im Sinne eines »bürgeraktiven Wir« beiden Seiten Verantwortung zumutet. Dazu rollt FRANK ECKARDT im ersten Teil seiner »Holländischen Zustände« ein politisches Bild der Niederlande nach dem Mord an Theo van Gogh auf.
An jenen Mord knüpft die Psychoanalytikerin MAHROKH CHARLIER an, die ihre Eindrücke vom letzten Film van Goghs zum Ausgangspunkt für Betrachtungen über die Geschlechtertrennung im Islam nimmt. Auf die Gesellschaft kommt »eine neue Aufgabe der Aufklärung« zu. PETER MOSLER nahm Berlin-Neukölln unter die Lupe. Jeder dritte Einwohner ist Migrant, die Arbeitslosigkeit hoch, Verbrechen »im Namen der Ehre« sind keine Seltenheit, Deutsche ziehen, wenn sie können, weg.
Schließlich greift KURT EDLER eine Titelgeschichte des »Spiegel« auf, der die Rechtlosigkeit islamischer Frauen in Deutschland behandelt. Zwei Werte-Welten stehen sich gegenüber – wie kann ein demokratischer Wertekonsens erreicht werden?

 

 

Als Sie im Januar 2000 Ihren Essay »Das multikulturelle Drama« veröffentlichten, gab es in der holländischen Öffentlichkeit beträchtliche Aufregung, inklusive einer zweitägigen Parlamentsdebatte. War das nicht recht ungewöhnlich für eine funktionierende Zivilgesellschaft, von der man doch meinen sollte, dass in ihr jeden Tag Debatten stattfinden und in streitbarer Weise Themen verhandelt werden?

Das Selbstbild, das eine pluralistische Gesellschaft von sich hat, ist eben das eine, und die Realität das andere: In ihr existieren sehr wohl Tabus. Im Übrigen war ich nicht der Erste, der das Schweigen gestört hat. Bereits Anfang der Neunzigerjahre hatte sich Frits Bolkenstejn, damals Vorsitzender der liberalen Parlamentsfraktion und bis vor kurzem EU-Kommissar unter Romano Prodi, sehr vernehmlich zur Thematik von Islam, Demokratie und Gesellschaft geäußert. Da dies allerdings noch ziemlich spezifisch war mit dem Blick auf den Islam, habe ich versucht, die Problematik etwas weiter zu fassen. Es stellt sich nämlich auch eine neue soziale Frage, wenn man sieht, wie viele Immigrantenfamilien in einer sozial marginalen Situation leben. Und – es gibt das Thema der kulturellen Vielfalt und Unterschiede, dem man sich bis jetzt noch kaum gestellt hat.

 

Tatsächlich nicht?

Nicht, wenn man genau hinschaut. Nicht, wenn man an ein wirkliches Verständnis denkt angesichts dessen, was Einwanderung bedeutet: Menschen siedeln von einem Land in ein anderes um und begeben sich damit nicht nur auf eine geographische, sondern auch auf eine kulturelle und mentale Reise, die für sie ebenso neue Bedingungen schafft wie für jene, die schon immer an diesem Zielort lebten. Beides, das Soziale wie das Kulturelle, gehört zusammen gedacht. Was religiöse Unterschiede betrifft, so wurde vorher durchaus einiges von konservativer Seite vorgebracht, während demgegenüber die Sozialdemokraten das soziale Feld beackerten: So war jeder jahrzehntelang irgendwie zufrieden und die eigene Klientel beruhigt, während sich unabhängig davon ein Drama aufbaute, das keiner sehen wollte. Zuwanderung wurde weder geplant noch in ihrer Ambivalenz gesehen: Sie galt ziemlich pauschal als Bereicherung und verschaffte ihren wohlwollenden Interpreten gleich noch gratis die Reputation, besonders tolerant und aufgeschlossen zu sein.

 

Betraf das nicht eher die Linke?

Nicht unbedingt. Auch Liberale schlossen sich dieser bequemen Lesart an – ihrer Programmatik nach hatten sie schließlich für freien Personen- und Warenverkehr zu sein. Die Christdemokraten schließlich vermieden eine Islam-Debatte, um nicht über Religion und Schulen auf religiöser Grundlage generell diskutieren zu müssen.

 

Im Unterschied zu Flamen, Frankreich und Österreich gab es dagegen nie wirklich starke Rechtspopulisten oder Extremisten in den Niederlanden.

Nun, die Furcht, als Feind der Toleranz zu gelten, sitzt in unserem Land schließlich tief – und eigentlich ist das ja eine wunderbare, in Jahrhunderten gewachsene Tradition. Die Schattenseite ist freilich ein Konformismus, der sich scheut, bestimmte Probleme anzusprechen oder sie überhaupt wahrzunehmen. Ich hatte diese Scheu nicht. Ich komme aus der Linken, habe mich in den Achtzigerjahren für die Dissidenten des Ostblocks eingesetzt und lieber, um es zugespitzt zu sagen, ein Interview mit dem verfemten Robert Havemann geführt, als mich à la SPD auf einen glättenden »Dialog« mit der diktatorischen SED einzulassen. Damals hieß die Vokabel übrigens »Wandel durch Annäherung«, mit der – wie später dann mit einem völlig pervertierten Toleranz-Begriff – sichergestellt werden sollte, dass keinesfalls irgendwelche heißen Eisen angefasst werden würden. Nun, ich hatte und habe mich von so etwas nie erpressen lassen. Was nun aber die Reaktion in den Niederlanden auf meinen Essay im Jahre 2000 betrifft: Es schien, als habe die Gesellschaft auf so etwas gewartet, als sei die Zeit reif gewesen für Überlegungen, die von einem Intellektuellen kamen, von einem sozusagen von Wörtern lebenden Bürger ohne parteipolitisches Kalkül. Schließlich wollte ich weder Wählerstimmen gewinnen noch suchte ich nach billiger Popularität. Gerade deshalb mussten diese Reflexionen unsere hiesige Mittelklasse zuerst einmal verstören: Lange Zeit ermöglichte es ihr nämlich die Segregation, demographische und damit auch mentale Veränderungen, wie sie zum Beispiel in Amsterdam oder Rotterdam stattfanden, zu verdrängen. Es gab da eine Art verhängnisvoller Arbeitsteilung: Jene, die über eine multikulturelle Gesellschaft redeten, lebten nicht in ihr, und diejenigen, die in ihr lebten, redeten nicht darüber. Diese Einheimischen zogen aus den betreffenden Vierteln weg, stimmten quasi mit den Füßen ab und mussten sich nicht selten von unserer in idyllisch-homogener Abgeschiedenheit lebenden Mittel- und Oberschicht sagen lassen, sie seien recht eigentlich bornierte Tröpfe, die eben mit ethnischer und kultureller Vielfalt nicht umgehen könnten. Mit der weiteren Zunahme der Einwanderung ließ sich aber dieses folgenlose Gutmenschensein immer schwieriger zelebrieren, von Mal zu Mal stärker wurde man mit der Nase auf die veränderten Umstände gestoßen. Vor diesem Hintergrund habe ich dann über die Grenzen meiner eigenen Toleranz, meines eigenen Unbehagens gesprochen und Fragen nach der Zukunft unseres gemeinsamen Zusammenlebens gestellt. Es ist ja auch nicht so, dass die Trennlinie nur zwischen Einheimischen und Immigranten verliefe: Auch untereinander gibt es genug Bruchstellen, so etwa zwischen Türken und Marokkanern. Und auch der Hass, der unserer Parlamentsabgeordneten Ayaan Hirsi Ali wegen ihrer Abrechnung mit den frauendiskriminierenden Elementen im Islam entgegenschlägt, artikuliert sich nicht selten derart, dass sie nicht nur als »Abtrünnige«, sondern vor allem als Frau, und zwar als schwarze Frau beschimpft wird.

 

Und doch bezeichnen Sie all das nicht als »Tragödie«, sondern als »Drama«, was ja impliziert, dass eine Lösung nichtsdestotrotz noch möglich wäre ...

Ich hätte meinen Text nicht geschrieben, wenn ich auf Grund all dieser Probleme fatalistisch geworden wäre. Im Gegenteil: Seit der Publikation des Essays gibt es Hunderte von Kommentaren, dazu Kommentare über die Kommentare, es kamen Einladungen zu Podiumsdiskussionen, ins Fernsehen, ja selbst in Moscheen – eine Aufmerksamkeit, die doch trotz allem hoffnungsvoll stimmt. Wobei es jedoch nicht nur um »Dialog« als Selbstzweck gehen darf – solchen Riten, die keinem weh tun, hat man sich schließlich auch zuvor unterzogen, ohne dass es irgend etwas genützt hätte. Sie zeigten lediglich, wie wenig uns das Toleranzgebot noch bedeutete. Historisch betrachtet, war Toleranz doch immer pragmatisch und aktiv gewesen: In einem geographisch sehr überschaubaren Land voll religiöser Minoritäten musste sich ein jeder anstrengen, um ein friedliches Zusammenleben zu bewerkstelligen. Das Bewusstsein von der Notwendigkeit dieses Handelns, das ja mehr war als nur ein passives Hinnehmen, ist jedoch mit den Jahren immer geringer geworden. Solange der Sozialstaat alles übernahm, so die verhängnisvolle Logik, könne man durchaus bequem neben- statt miteinander leben. Die Konsequenz dessen hat sich gezeigt, als ich zur Diskussion in einige Moscheen gegangen bin. Was ich dort zu hören bekam, war Folgendes: Endlich, sagte man mir, spricht einer mit uns auf gleicher Augenhöhe, anstatt uns einfach nur auf die Schulter zu klopfen und mit einem »Wie bereichernd und schön, dass Ihr hier seid« alsbald wieder zu verschwinden.

 

Toleranz als eine Art politisch korrekt geschminkter Indifferenz?

Genau. Jahrzehntelang haben wir keine Fragen gestellt, weil wir überhaupt nicht an den möglichen Antworten interessiert waren, weil wir die Immigranten nie wirklich als Mitbürger wahrgenommen haben, sondern lediglich als Passanten, als zeitweilig Ansässige. Sie selbst übrigens haben sich lange Zeit ebenso wahrgenommen, und so potenzierte ein falsches Bild das andere. Der Respekt vor der Privatsphäre des anderen wurde so unter der Hand zu einer Gleichgültigkeit, deren Programm der amerikanische Soziologe Christopher Lasch einmal mit den drastischen Worten beschrieb: Let them rot in their own privacy. Genau das hat in Holland stattgefunden, und eigentlich dürften wir uns nicht wundern, was diese Praxis dann für Blüten getrieben hat. Ein Gedankenaustausch über die Werte von Freiheit und gesellschaftlicher Teilhabe fand nicht mehr statt, und so konnte es auch kommen, dass viele islamisch geprägte Einwanderer durch die Stimme ihrer Imame oder Repräsentanten Freiheit vor allem in dem Sinne zu definieren begannen, dass ihnen die Mehrheitsgesellschaft selbstverständlich immer größere Freiräume für religiöse und nicht selten fundamentalistische Betätigungen zu öffnen habe.

 

Ein Roll-back in jene Zeit Europas, als Staat und Kirche noch nicht voneinander geschieden waren?

So kann man es bezeichnen. Ironischerweise wurden und werden diese Versuche stets unter dem Banner der Toleranz und Meinungsfreiheit gestartet – eine wahrlich geschickte Umwertung von bis dahin positiv besetzten Begriffen. Davon darf man sich jedoch nicht einschüchtern lassen, und für den Intellektuellen wie auch für den so genannten »einfachen Bürger« ist es von großer Wichtigkeit, sich selbst zu klarem Denken anzuhalten, Begriffe und das, was sie in der Realität tatsächlich bedeuten, immer wieder einander gegenüberzustellen. Nebulöses Denken fördert unklares Sprechen fördert konfuses Handeln.

 

Spielen Sie damit auch auf die Aura des Wortes Multikulturalismus an?

Das tue ich. Bleiben wir ganz hart bei den Vokabeln, verlieren wir uns nicht in Ideologie, sondern ziehen Empirie und gesunden Menschenverstand zu Rate: Bedeutet Multikulturalismus nicht zuerst einmal, Menschen allein aus ihrer Herkunft zu erklären und sie – natürlich immer mit den besten Absichten – darin einzusperren? Und ist er wirklich so tolerant, wie er behauptet, wenn er letztendlich dann doch von einer monokulturellen Rechtskultur begrenzt ist? Wer wirklich in aller Konsequenz Multikulti will, dürfte sich nämlich logischerweise dann auch nicht gegen die »historisch gewachsene« Scharia und das Steinigen von »ehebrecherischen« Frauen aussprechen. Aber unsere Rechtskultur ist nun einmal nicht neutral, sie nimmt entschieden Partei für den Grundsatz der Gleichberechtigung – eine Errungenschaft, die übrigens in liberalen und demokratischen Freiheitskämpfen hart im Inneren des Westens durchgesetzt werden musste, die jahrhundertelang ebenfalls »gewachsene Strukturen« ins Feld führten, um allein erziehenden Frauen oder Homosexuellen die gleichen Rechte zu verweigern. Um den Preis unserer Identität und Würde können und werden wir dahinter nicht zurückfallen, darüber gibt es keinerlei Diskussion, was aber auch bedeutet: Kein Kompromiss zwischen uns und dem System der Scharia, unter dem ja Muslime am meisten leiden. Schon das zeigt, dass Kulturen nicht in sich abgeschlossen und unveränderbar sind. Der Westen des Jahres 2005 ist nicht jener des Jahres 1505, und ebenso ist es eine Tatsache, dass die rigideste Form des islamischen Rechtssystems auch von jenen als beengend empfunden wird, die Teil einer muslimisch geprägten Kultur sind. Sollen wir ihnen etwa sagen: Akzeptiere und erfreue dich an den kulturellen Differenzen und sieh zu, dass du wieder völlig identisch mit deiner Ethnie wirst? Etwas Inhumaneres kann ich mir nicht vorstellen. Anstatt auf »Kulturen« zu schauen, sollten wir uns eher mit Generationen und deren Kontinuität und Brüchen beschäftigen. Tatsache ist, dass die Abstände in den Familien, etwa zwischen erster und zweiter Generation, immer größer werden. Amerikanische Soziologen, Forscher der Chicago School of Sociology, hatten sich bereits in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts in wahren Klassikern der Immigrationsforschung damit beschäftigt, was innerhalb der »Kulturen« geschieht, wenn etwa der sizilianische Vater, daheim Ernährer und unbestrittene Autorität der Familie, dieser Funktion im neuen Land verlustig geht und nicht selten auch in den Augen der eigenen Kinder zum »Looser« mutiert. Es gibt Abstoßungs- und Trotzreaktionen, Kontrollverlust und ein Nachlassen familiärer Bindekräfte, doch für all diese hochkomplexen Dinge gilt: Der Theorie, besser: der Ideologie, des Multikulturalismus geraten nicht einmal diese empirischen Tatsachen in den Blick.

 

Der viel gelobte »Euro-Islam« scheint weniger in die muslimischen Länder auszustrahlen als umgekehrt eine Jihad-Stimmung hinein in viele europäische Gemeinden.

Ja, aber die kommt nicht immer aus den Ursprungsländern. Mohammed Atta und van Goghs Mörder Mohammed B. wurden weniger durch eine traditionelle, hierarchisch strukturierte Gemeinschaft geprägt als vielmehr durch eine Art »Internet-Islam«, in dem jeder eine Fatwa aussprechen kann und Rang- und Reputationsunterschiede nichts mehr gelten. Das ist ein völlig neuer und gefährlicher Prozess ohne Präzedenz. Was aber die konventionelle Einflussnahme von außen betrifft: Sowohl die marokkanische wie die türkische Regierung üben sie aus, um »ihre Gemeinden« auf Kurs zu halten, wobei sie weniger Radikalisierung als Demokratisierung fürchten. Besonders die marokkanische Regierung ist nicht an der Entwicklung eines europäischen Islam interessiert, der dann auch zurückstrahlen könnte ins Herkunftsland. Deshalb auch ihr Engagement für doppelte Staatsbürgerschaften, von den hiesigen Multi-Kulti-Leuten natürlich lange bejubelt. Im Grund genommen aber ging es allein darum, die als »eigene Leute« Betrachteten weiterhin unter Kontrolle und in Abhängigkeit zu halten, sie konkret also auch den in Marokko geltenden Gesetzen zu unterstellen.

 

Im Zuge des Kopftuchverbotes an staatlichen Institutionen Frankreichs und der Diskussion darüber in Deutschland war oft die Sorge zu hören, dass durch derlei rigiden Laizismus gerade die von Ihnen erwähnten moderaten Muslime zurückgestoßen und womöglich sogar radikalisiert würden.

Ich glaube, das Gegenteil ist wahr: Deren Position wird dadurch gestärkt. Das Kopftuch ist ja per se kein religiöses, sondern ein politisches Symbol, die Manifestierung einer unterdrückerischen Idee. Der öffentliche Raum sollte frei davon sein. Ich will von Beamten, Polizisten oder Lehrern schließlich auch nicht wissen, ob sie Mormonen sind, radikale Abtreibungsgegner, Vegetarier oder Homosexuelle. Es gehört zu den mühsam genug errungenen und immer wieder wachsam zu verteidigenden Erfolgen unserer Gesellschaft, dass Privates – und Religion ist ebenso privat wie die eigene Sexualität – nicht mit der Tätigkeit in öffentlichen Funktionen verquickt wird. Sobald wir uns im öffentlichen Raum begegnen, machen wir Kompromisse und zeigen nur einem Teil von uns: Ich halte das für eine Zivilisationsleistung sondergleichen. Es geht ja nicht nur um das Kopftuch. Es geht auch um die Frage, ob wir dann in unseren Schulen überhaupt noch die Evolutionstheorie unterrichten dürfen, ob muslimische Mädchen an Sexualkunde- und Sportunterricht oder an Klassenfahrten teilnehmen sollen. Genauso geht es um den Fremdsprachenunterricht und dessen angeblichen »Eurozentrismus«, wenn Englisch, Französisch oder Spanisch gelehrt wird anstatt Türkisch oder Arabisch. Selbst der Geschichtsunterricht gerät ins Visier, denn es ist nun mal kein Einzelfall, wenn Fundamentalisten dagegen protestieren, dass ihre Kinder etwas über den Holocaust erfahren. Hier steht eine Menge auf dem Spiel. Frankreich hat nun mit dem Kopftuchverbot auch diesen Tendenzen einen Riegel vorgeschoben und siehe da: Ein Großteil der muslimischen Eltern akzeptiert das neue Gesetz. Wenn man bestimmte Grenzen definiert, wird auch das Gegenüber zum Nachdenken gebracht, man könnte sogar sagen: gezwungen, denn es ist nun einmal so, dass sich eine offene, tolerante Gesellschaft nur in einem klar gesetzten Rahmen behaupten kann. Innerhalb dieser Grenzen sollte sich dann allerdings jeder nach Belieben entfalten können. Andererseits bedeutet praktizierte Glaubensfreiheit aber auch, dass diese Religion dennoch Teil einer gelebten Demokratie ist und selbstverständlich auch Objekt von Kritik sein darf. Ich werde jedenfalls immer ganz hellhörig, wenn ich von christlich konservativer Seite Ratschläge höre, wie weit diese Kritik dann gehen dürfe, welche Art der Ironisierung gerade noch erlaubt sei, et cetera. Die Kirchen mussten lernen, es mit Atheisten oder Agnostikern auszuhalten, vice versa gilt das Gleiche – und es spricht nichts dagegen, auch den Moscheen auf europäischem Boden diesen letztendlich für alle Beteiligten segensreichen Lernprozess zuzumuten. Leider beginnt diese Debatte erst sehr spät. Was ich akademischen Modevokabeln, wie etwa »Diversität«, und ihren Verfechtern deshalb vorwerfe, ist dieses kleinmütige Sich-Herumschummeln um die Frage, was denn eine Gesellschaft als Reservoir an Gemeinsamkeit benötigt, um auf produktive Weise miteinander streiten zu können. Demokratie lebt vom Streit, und dennoch darf nicht jeder Meinungsunterschied dazu führen, dass die Grundlagen in Frage gestellt werden und alles in Gewalt endet. Um es paradox auszudrücken: Um entspannt zu bleiben, benötigt man eine gewisse Anspannung und Anstrengung.

 

Der Publizist Hannes Stein beschrieb Demokratie treffend als »permanenten Bürgerkrieg, der nicht stattfindet«.

Er findet aber nur dann nicht statt, wenn man vorher wagt, ihn zumindest zu denken, ihn als Möglichkeit zu analysieren, anstatt in jenes besinnungslose Relaxtsein abzutauchen, das sich spätestens seit dem Mord an Theo van Gogh als so verhängnisvoll für unsere Gesellschaft herausgestellt hat. Das gilt übrigens auch für Deutschland, und ich sage hier nur: Mölln, Rostock, Hoyerswerda. Wenn man vor diesen Konflikten, vor der immer vorhandenen Möglichkeit der Barbarei, nicht die Augen verschließt, wird man auch erkennen, dass der Balkan gar nicht so weit entfernt ist, dass die Geschehnisse in den Neunzigerjahren auch ein Menetekel für uns darstellen.

 

André Glucksmann sprach einmal vom töricht optimistischen, sich an seinen eigenen Phrasen berauschenden Humanismus, der abgelöst werden müsse von einem Bewusstsein dafür, dass das Schlimmste immer möglich sei, weil ja auch wir Menschen immer zum Schlimmsten fähig seien.

Paul Valéry hatte 1919, nach dem Schrecken des Ersten Weltkrieges, den berühmten Satz geschrieben: »Wir Kulturvölker wissen jetzt, dass wir sterblich sind.« Nur mit dieser Skepsis sind wir als Gesellschaft überlebensfähig. Ich erinnere mich daran, was mein Großvater aus Köln 1933 in einem Aufsatz innerhalb eines Buchs über Nietzsche geschrieben hatte – ich zitiere sinngemäß: »Ist es nicht traurig zu sehen, dass sich all unsere humanistischen Abstraktionen über die Menschheit letztlich als so ohnmächtig erweisen gegenüber so etwas wie Rasse oder Blut und Boden?« Als er schließlich 1942 in Amsterdam starb, hatte die deutsche Besatzungsmacht gerade eine neue Verordnung erlassen, und so kam es, dass fast alle, die dann um sein Grab standen, zum ersten Mal den gelben Davidstern auf ihrer Brust tragen mussten. Er hat damals, glaube ich, eine sehr wichtige Frage gestellt: Wie kann man diese Universalia verteidigen in einer konkreten Situation, die immer wieder neu ist, in der Politik oder in der Gesellschaft? Ich denke, wenn wir das Wort Wir als obsolet ansehen und es der Geschichte überlassen – weil es nur noch die Unterschiede zwischen uns sind, die verbinden, weil nur noch individuelle oder identitätsbezogene Selbstbehauptung zählt –, werden es andere übernehmen, Sinn und Begriff des Wortes kapern. Ich denke an Haider, an Le Pen und deren Botschaft: Ihr, die anderen, die Nicht-Franzosen oder Nicht-Christen, Ihr werdet nie dazugehören. Eine Ausgrenzung, der als Gegenreaktion noch mehr Einkapselung folgen würde, mehr oder minder aggressiv. Wenn uns zu der Wirklichkeit einer historisch gelebten Gemeinschaft nur noch ein Achselzucken einfällt, milder Spott oder allein die Rhetorik des Verdachts, dann werden andere eine Antwort nach ihrer Art geben. Unreflektierter Kosmopolitismus führt zu jenem Populismus. Das Vorpolitische aber, die Erfahrung eines gemeinsamen geschichtlichen oder sprachlichen Raums, muss seinen Platz finden innerhalb des Politischen, des demokratisch Institutionalisierten. Es darf weder dominieren noch sollte es geleugnet werden.

Stichwort Volkssouveränität. Wenn sich zwischen Volk und Souveränität ein Abgrund auftut, wird die eine Seite nur noch für die rationale Macht- und Verwaltungstechnik zuständig sein, die andere aber Gefahr laufen, sich immer stärker von nun nicht mehr steuerbaren Affekten und diversen Irrationalismen treiben zu lassen. Kurz: Ein jedes Volk würde wieder völkisch und setzte ab nun sein ganz eigenes historisch Gewachsenes als Kampfkeule gegen andere ein. Wovon aber lebt eine Kultur? Nicht zuletzt von dem, was ein holländischer Schriftsteller einmal »das Gespräch mit unseren Ahnen« genannt hat, von der Rückversicherung, der Diskussion mit den Verstorbenen und deren Ideen, Einsichten oder auch Fehlern. In einer säkularen Gesellschaft ist das Verhältnis zur Vergangenheit eine nichtreligiöse Form, ein Verhältnis zwischen Lebenden und Toten aufzubauen. Das ist mehr als der übliche Erinnerungs-Talk, das ist ganz konkret: Denn wenn wir uns freiwillig abschneiden von unser Geschichte, wissen wir auch nicht mehr, wie sich all die Normen und Werte, nach denen wir heute wie selbstverständlich leben, historisch und sozial entwickelt haben, wie die jeweiligen Konstellationen ausgesehen haben und welche Kämpfe etwa geführt werden mussten, um so etwas wie die Trennung von Staat und Kirche oder das Selbstbestimmungsrecht der Frauen durchzusetzen. Ohne dieses Bewusstsein von gelebter Geschichte und Kontinuität, das die Wahrnehmung von Brüchen mit einschließt, ist meines Erachtens aktive Bürgerschaft überhaupt nicht möglich. Das, was Ihr deutscher Schriftstellerkollege Bodo Morshäuser einmal als »negativen Nationalismus« bezeichnet hat, der nur einen Größenwahn gegen den anderen tauscht, kann jedenfalls keine Alternative sein. Ja, es geht auch darum, auf emanzipatorische Weise das legitime Wort von der »Schicksalsgemeinschaft« von seinem Ruch nach Blut und Boden und Ausgrenzung zu befreien und sich in aller Verantwortlichkeit der Tatsache zu stellen, dass bis auf weiteres menschliches Handeln nun zuerst einmal in einem nationalen Rahmen stattfindet. Um es mit einem Paradox zu sagen: Man muss um die eigene partielle Determiniertheit wissen, um nicht dem Determinismus, unter welchem Vorzeichen auch immer, anheim zu fallen. Die Nation als ...

 

... nach Ernest Renan als ein tägliches Plebiszit.

Ja, aber eben nicht nur. Die Nation auch als gemeinsame historische Erfahrung, in deren Rahmen man dann eben sein tägliches Plebiszit ausübt.

 

Aber schließt solch eine Zusatz-Definition nicht die Neuangekommenen aus?

Wieso denn? In gewisser Weise sind wir doch alle Neuankömmlinge. Ich wurde Anfang der Fünfzigerjahre geboren, was mich jedoch nicht hindert, mich mit deutscher Okkupation und holländischem Widerstand, aber auch mit der Kollaboration zu beschäftigen und Verantwortlichkeit anzunehmen für die Untaten meines Landes während des indonesischen Unabhängigkeitskrieges, der trotz 100000 Toten jahrzehntelang immer nur als »Polizeiaktion« dargestellt, das heißt verschwiegen wurde. Eine historische Erfahrung macht man, man eignet sie sich in einem bewussten Reflexionsprozess an und schreibt sie damit aktiv weiter. Sie ist nämlich das Gegenteil von völkisch-homogener Gefühligkeit – auch wenn manche Rechte dies erhoffen und noch mehr Linke dies zu befürchten scheinen. Stattdessen kann man auf dieser Basis sowohl emotional wie pragmatisch ein Interesse an der Verteidigung unseres Rechtsstaates entwickeln; der Mord an Theo van Gogh war da ein Fanal.

 

Wäre ein Verfassungspatriotismus à la USA nicht die beste Lösung, um den Akt der Einbürgerung, das Einschwören auf die Verfassung zu einem auch emotional bindenden und verbindenden Erlebnis zu machen?

Sicher. Aber vergessen Sie nicht, dass dieser Verfassungspatriotismus nicht nur von den Werten der Verfassung geprägt ist, sondern auch von der geschichtlichen Erfahrung, genau diese Werte als Basis anzusehen und nicht etwa religiöse oder ethnische Zugehörigkeit. Das uns mitunter irritierende Tremolo dieser Zukunftsgewissheit aber hat seine Wurzeln bei den Pilgrim Fathers, bei den Pionieren et cetera. Genau das meinte ich mit der Versöhnung des Vorpolitischen mit dem Politischen. Alain Finkielkraut hat einmal geschrieben: »Ich will nicht wählen zwischen Loyalität und Toleranz. Ich will nicht wählen zwischen dem eigenen Erbe und Offenheit gegenüber anderen.« Darum geht es. Europa muss diese Balance aushalten – und braucht keine arrogante Elite, die mit dem Kopf in den Wolken von den Wonnen der Multikulturalität schwärmt und alle Skeptiker abkanzelt. Es reicht eben nicht, so launig-flapsig wie der deutsche Bundeskanzler zu kontern: »Patriotismus ist, was ich jeden Tag tue.« Man muss ein Bewusstsein dafür bekommen, dass in der Geschichte nicht alles nur Diskontinuität ist – wofür der Zivilisationsbruch von Auschwitz steht, dessen Erfahrung ein Günter Grass etwa geradezu skandalös banalisierte in seiner Forderung, wegen des Holocaust sei die deutsche Wiedervereinigung moralisch unmöglich. Deshalb nochmals ein Paradox: Wenn es eine Kontinuität gibt, auf die man als Bürger des Westens stolz sein kann, dann die Fähigkeit eben dieses Westens, seine Diskontinuitäten, Verbrechen und dunklen Seiten weder zu leugnen noch anderen in die Schuhe zu schieben: Erkenne dich selbst. Oder wie Glucksmann sagt: Nichts Unmenschliches sei dir fremd. So wappnet man sich, so entgeht man eurozentristischer Hybris, denn auch so etwas wie Kolonialismus- oder Rassismuskritik konnte selbstverständlich nur auf dem Boden einer mit den Jahrhunderten immer selbstreflexiver gewordenen Gesellschaft entstehen. Warum sollte man darauf, bei aller Demut, nicht auch stolz sein?

 

Besteht nicht die Gefahr, dass genau dies nur ein Salongespräch, eine Selbstvergewisserung unter ohnehin bereits aufgeklärten Intellektuellen bleibt?

Nicht, wenn man sich die möglichen Konsequenzen vor Augen führt, die dann das Alltagsgeschehen der gesamten Gesellschaft betreffen können. Ich erwähne hier nur eine ab jetzt ungleich bewusstere Immigrationspolitik, Sprachkurs-Verpflichtungen et cetera. Um auf die Überlegungen zu den Geschichtsbildern zurückzukommen: Ich hatte bereits die Beschäftigung mit der Nazi-Okkupation und danach mit den holländischen Kolonialverbrechen erwähnt. Das ist ja auch eine konkrete Einladung, über die Kenntnis der Schattenseiten innerhalb der Gesellschaft aktiv zu werden und sie verbessern zu wollen, was ja impliziert, dass man sie einer Verbesserung für würdig erachtet und ihre Existenz nicht nur passiv hinnimmt. Das sage ich auch immer wieder im Gespräch mit den Muslimen, damit sie sich nach der Ermordung Theo van Goghs endlich klar positionieren. Ich sage, dass es keine kollektive Schuld gibt, wohl aber eine kollektive Verantwortung, und ich fordere von ihnen – wie auch von jedem anderen, wie auch von mir –, dass sie angenommen wird, umso mehr diese Muslime ja durchaus Möglichkeiten besitzen, in ihre eigene Community hineinzuwirken. Wenn umgekehrt nämlich Moscheen brennen, kann ich mich ja auch nicht einfach zurücklehnen und sagen »Schlimm, schlimm, aber das taten keine wahren Niederländer, also betrifft es mich nicht«. Nein! Es gibt keine geteilte Verantwortung, nur eine gemeinsame – und im besten Fall kann daraus ein neues, bürgeraktives »Wir« entstehen.

 

Paul Scheffer, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.

 

 

Paul Scheffer, Jahrgang 1954, ist einer der renommiertesten niederländischen Soziologen und Publizisten. Seine Essays und Artikel erscheinen u. a. im NRC Handelsblad, ZEIT, FAZ oder Frankfurter Hefte. Er drehte Dokumentar-Porträts u. a. über V. S. Naipaul, Martin Walser, Edward Said und Wolf Biermann. Scheffer, Professor für Stadtsoziologie an der Universität Amsterdam und Mitglied diverser angesehener Forschungsinstitute, veröffentlichte zahlreiche Bücher, u. a. über niederländische und europäische Geschichte.