Michael Ackermann

 

Editorial

 

 

Nicht nur in den Augen mancher Gründungsmitglieder stellen die 25 Jahre, die von der »Antiparteien-Partei« bis zu den Bündnisgrünen in einer rot-grünen Regierung vergingen, eine Geschichte der Anpassung und der Aufgabe des kritischen Verstandes dar. Rainer Trampert hat das im Neuen Deutschland (13.1.04) mit dem Spruch »Die Grünen – einer der letzten Züge ins System« auf den Punkt gebracht. »Ermüdete Kämpfer« und »Abtrünnige« hätten sich schnell der »Resignation« hingegeben, und insgesamt habe eine »Mutation der Menschen zu Systemtrotteln« stattgefunden. Und warum das alles? Weil »alternde Revoluzzer« »einmal an der Seite der Sieger stehen« wollten und deshalb schon 1985 bereit waren, »den Interessen des hinter den USA und Japan drittgrößten Imperialisten mit allem Drum und Dran zu dienen. Anders ist Regieren in diesen Verhältnissen nicht zu haben«.

Aber war der Sieg der »Realos« über die »Fundis« wirklich nur ein Verrat an den einmal als richtig erkannten Positionen? Lag es nicht doch eher daran, dass bestimmte linke Positionen nicht zu halten waren? Es geht nicht um die Apologie bündnisgrüner Politik, wenn man festhält: Das Auslaufen der außerparlamentarischen Bewegungswellen hat weniger mit dem Verrat der Bündnisgrünen im Parlament oder der feigen Anpassung an die Modi der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu tun als vielmehr, gewiss verkürzt gesagt, mit der Janusköpfigkeit der Bewegungen selbst. Erstens haben Erfolge oder Teilerfolge – Illusionen über die Reformierbarkeit des Systems hin oder her – die Gesellschaft in vielfältiger Hinsicht verändert, die Bewegungen also tatsächlich etwas bewirkt. Zweitens waren die in ihnen vorhandenen systemkritischen Elemente von einem stetigen Prozess der Auszehrung ihres utopischen und sozialrevolutionären Potenzials begeleitet. Der Untergang des Reichssozialismus hat diesen Prozess nur beschleunigt. Sein Scheitern und seine Erbfolgekriege waren nicht einfach dem Sieg des potenteren Kapitalismus oder des aggressiveren US-Imperiums geschuldet, sondern hatten mit der Erosion eines geschichtstheoretischen Emanzipationsmodells zu tun – mit all seinen verheerenden Begleitererscheinungen in Menschenbild, Ökonomie und  Ökologie. Desavouiert war damit nicht nur ein konkretes Sozialismusmodell, sondern  ein ganzer Strang von Systemtranszendenz. Diese Einsicht blieb meist unausgesprochen und unbearbeitet. Für Rudolf Bahro etwa galt das nicht. Aber seine Prophezeiung einer apokalyptischen Zuspitzung der ökologischen Frage und die Aussicht auf eine massenhafte »Umkehr«, ein Ausstieg aus dem Kapitalismus, konnten in der Realität der Bewegungen nicht überzeugen. Sein Rückzug in die Kleingruppe stellte auch einen Bruch mit utopischen Großtheorien dar – und eben nicht »Verrat«.

Seitdem ist systemkritsches Analysieren mit Aussicht auf »Ausstieg« aus dem Kapitalismus noch schwieriger geworden. Dieses Problem wird auch durch den Essay von Werner Bätzing unterstrichen, der den fundamentalen Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft beschreibt. Eingebunden in eine entfaltete Warengesellschaft, erhöhen sich die Anstrengungen des Einzelnen für Widerständigkeit enorm. Sich dem Gesamtzusammenhang zu entziehen, fällt nicht nur dem Einzelnen schwerer. Im Zuge der Blockauflösung haben sich mit der Etablierung eines realen Weltmarktes auch die Gestaltungsspielräume innerhalb des Nationalstaates verengt.

Was im zuvor behaupteten Kontext fatal wirkt, erscheint angesichts der Folgen der gigantischen Flutkatastrophe wieder in einem anderen Licht. Denn plötzlich bekam man über die verwertungsinteressierte Medien- und Bewusstseinsmaschinerie, ja selbst mittels des ökonomisch und ökologisch umstrittenen Massentourismus in die »dritte Welt«, erneut eine Ahnung von der Herausbildung einer «Weltöffentlichkeit«. Sah sich nicht selbst die mächtige Bush-Administration wegen nationaler Borniertheiten in der Defensive? Auf einmal kam die UNO wieder zu einem Mandat, und für diesmal schlug die Konkurrenz von Nationalstaaten in Hilfssummen-Ranking um. Natürlich ist Skepsis berechtigt, was langfristige Hilfe angeht. Aber besteht nicht auch die Chance, dass Begriffe wie »eine Welt« oder »Erdpolitik« dem hoch sensibilisierten Alltagsbewusstsein der Menschen tatsächlich entsprechen und zugleich ein reales Handlungsfeld der internationalen Institutionen markieren?

Die Entwicklung eines »Kosmopolitismus« vollzieht sich allerdings auf der Basis der sich ausweitenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse, und darin unterscheiden sich Asien, die USA und eine sich erweiternde Europäische Union wahrlich nur wenig. Wie voraussetzungsvoll allein schon das »Projekt Europa« ist, wie schwer es sein wird, den politischen Ort einer Staaten- und Bürgerunion zu bestimmen und Zerfallstendenzen aufzuhalten, das diskutieren in diesem Heft Adolf Muschg und Joscha Schmierer. Und auch ein Vergleich zwischen der unstrittigen Einschlussfähigkeit der Einwanderer in den USA mit den in Europa sich verschärfenden nationalen Migrations- und Türkeidebatten (siehe »Thema«, Martin Altmeyer, und die Dokumentation der Hannah-Arendt- Preis- Verleihung) lässt für zentraleuropäische Überlegenheitsgefühle wenig Platz.