Nicht nur in den Augen mancher
Gründungsmitglieder stellen die 25 Jahre, die von der »Antiparteien-Partei« bis
zu den Bündnisgrünen in einer rot-grünen Regierung vergingen, eine Geschichte
der Anpassung und der Aufgabe des kritischen Verstandes dar. Rainer Trampert
hat das im Neuen Deutschland (13.1.04) mit dem Spruch »Die Grünen – einer der
letzten Züge ins System« auf den Punkt gebracht. »Ermüdete Kämpfer« und
»Abtrünnige« hätten sich schnell der »Resignation« hingegeben, und insgesamt
habe eine »Mutation der Menschen zu Systemtrotteln« stattgefunden. Und warum
das alles? Weil »alternde Revoluzzer« »einmal an der Seite der Sieger stehen«
wollten und deshalb schon 1985 bereit waren, »den Interessen des hinter den USA
und Japan drittgrößten Imperialisten mit allem Drum und Dran zu dienen. Anders
ist Regieren in diesen Verhältnissen nicht zu haben«.
Aber war der Sieg der »Realos«
über die »Fundis« wirklich nur ein Verrat an den einmal als richtig erkannten
Positionen? Lag es nicht doch eher daran, dass bestimmte linke Positionen nicht
zu halten waren? Es geht nicht um die Apologie bündnisgrüner Politik, wenn man
festhält: Das Auslaufen der außerparlamentarischen Bewegungswellen hat weniger
mit dem Verrat der Bündnisgrünen im Parlament oder der feigen Anpassung an die
Modi der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu tun als vielmehr, gewiss
verkürzt gesagt, mit der Janusköpfigkeit der Bewegungen selbst. Erstens haben
Erfolge oder Teilerfolge – Illusionen über die Reformierbarkeit des Systems hin
oder her – die Gesellschaft in vielfältiger Hinsicht verändert, die Bewegungen
also tatsächlich etwas bewirkt. Zweitens waren die in ihnen vorhandenen
systemkritischen Elemente von einem stetigen Prozess der Auszehrung ihres
utopischen und sozialrevolutionären Potenzials begeleitet. Der Untergang des
Reichssozialismus hat diesen Prozess nur beschleunigt. Sein Scheitern und seine
Erbfolgekriege waren nicht einfach dem Sieg des potenteren Kapitalismus oder
des aggressiveren US-Imperiums geschuldet, sondern hatten mit der Erosion eines
geschichtstheoretischen Emanzipationsmodells zu tun – mit all seinen
verheerenden Begleitererscheinungen in Menschenbild, Ökonomie und Ökologie. Desavouiert war damit nicht nur
ein konkretes Sozialismusmodell, sondern
ein ganzer Strang von Systemtranszendenz. Diese Einsicht blieb meist
unausgesprochen und unbearbeitet. Für Rudolf Bahro etwa galt das nicht. Aber
seine Prophezeiung einer apokalyptischen Zuspitzung der ökologischen Frage und
die Aussicht auf eine massenhafte »Umkehr«, ein Ausstieg aus dem Kapitalismus,
konnten in der Realität der Bewegungen nicht überzeugen. Sein Rückzug in die
Kleingruppe stellte auch einen Bruch mit utopischen Großtheorien dar – und eben
nicht »Verrat«.
Seitdem ist systemkritsches
Analysieren mit Aussicht auf »Ausstieg« aus dem Kapitalismus noch schwieriger
geworden. Dieses Problem wird auch durch den Essay von Werner Bätzing
unterstrichen, der den fundamentalen Wandel von der Industrie- zur
Dienstleistungsgesellschaft beschreibt. Eingebunden in eine entfaltete
Warengesellschaft, erhöhen sich die Anstrengungen des Einzelnen für
Widerständigkeit enorm. Sich dem Gesamtzusammenhang zu entziehen, fällt nicht
nur dem Einzelnen schwerer. Im Zuge der Blockauflösung haben sich mit der Etablierung
eines realen Weltmarktes auch die Gestaltungsspielräume innerhalb des
Nationalstaates verengt.
Was im zuvor behaupteten Kontext
fatal wirkt, erscheint angesichts der Folgen der gigantischen Flutkatastrophe
wieder in einem anderen Licht. Denn plötzlich bekam man über die
verwertungsinteressierte Medien- und Bewusstseinsmaschinerie, ja selbst mittels
des ökonomisch und ökologisch umstrittenen Massentourismus in die »dritte
Welt«, erneut eine Ahnung von der Herausbildung einer «Weltöffentlichkeit«. Sah
sich nicht selbst die mächtige Bush-Administration wegen nationaler
Borniertheiten in der Defensive? Auf einmal kam die UNO wieder zu einem Mandat,
und für diesmal schlug die Konkurrenz von Nationalstaaten in
Hilfssummen-Ranking um. Natürlich ist Skepsis berechtigt, was langfristige
Hilfe angeht. Aber besteht nicht auch die Chance, dass Begriffe wie »eine Welt«
oder »Erdpolitik« dem hoch sensibilisierten Alltagsbewusstsein der Menschen
tatsächlich entsprechen und zugleich ein reales Handlungsfeld der internationalen
Institutionen markieren?
Die Entwicklung eines
»Kosmopolitismus« vollzieht sich allerdings auf der Basis der sich ausweitenden
kapitalistischen Produktionsverhältnisse, und darin unterscheiden sich Asien,
die USA und eine sich erweiternde Europäische Union wahrlich nur wenig. Wie
voraussetzungsvoll allein schon das »Projekt Europa« ist, wie schwer es sein
wird, den politischen Ort einer Staaten- und Bürgerunion zu bestimmen und
Zerfallstendenzen aufzuhalten, das diskutieren in diesem Heft Adolf Muschg und
Joscha Schmierer. Und auch ein Vergleich zwischen der unstrittigen
Einschlussfähigkeit der Einwanderer in den USA mit den in Europa sich
verschärfenden nationalen Migrations- und Türkeidebatten (siehe »Thema«, Martin
Altmeyer, und die Dokumentation der Hannah-Arendt- Preis- Verleihung) lässt für
zentraleuropäische Überlegenheitsgefühle wenig Platz.