Ausharrendes Fragen, beständiges Scheitern – Grundlegendes schaffen
Immer noch steht eine Heidegger-Kritik im Raum, von der die Autorin meint, dass sie »einmal vielleicht als ein Paradebeispiel bei der Beschreibung jenes geistigen Zustands der Republik etwa ab 1960 dienen wird, der sich mit der Zeit zu einem fast uniformierten öffentlichen Verständnis verfestigte«. Sie hingegen stellt den Philosophen in den historischen Bogen von Erstem Weltkrieg und Nachkriegszeit, von Radikalisierung des Denkens, von philosophischer Revolution und Scheitern und einem »Ende der Philosophie«. Wurde die Kritik an Heidegger vielleicht deshalb so heftig geführt, weil er – im Gegensatz zu vielen anderen Intellektuellen, die der NS-Verführung zumindest zeitweilig erlagen – eben kein Apologet der Nazi-Ideologie war?
Die Lektüre ausgewählter
neuerer Veröffentlichungen zu Martin Heidegger vermittelt zuweilen den
Eindruck, dass auch in der Heidegger-Forschung die Nachkriegszeit langsam an
ihr Ende kommt. So gewinnen beispielsweise textkritische Arbeiten und vergleichende
Forschungen an Bedeutung,(1) durch die einmal der Polemik allmählich den Rang
abgelaufen werden könnte und die auch selbst schon ansatzweise Gegenstand
philosophisch-historischer Darstellung wird.(2) Die methodisch-thematische
Ablösung in der Heidegger-Rezeption spricht auch für einen Generationswechsel
unter den Heidegger-Forschern. Ein markantes Beispiel ist das von Dieter Thomä
herausgegebene Heidegger-Handbuch,(3) in dem Autoren überwiegen, die in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren sind.
Wenn es allerdings um den so
genannten Fall Heidegger geht, steht ein echter Durchbruch von nüchterner
Sachlichkeit anscheinend erst noch bevor. Nach jahrelanger Beschäftigung mit
dieser Materie bin ich nunmehr zum Schluss gekommen, dass hier so gut wie alles
anders ist als allgemein gehandelt und verbreitet. Das hat mit Anfälligkeit für
respektive Immunität gegen konformes Denken beziehungsweise unterschiedlichen
Perspektiven und Wahrnehmungen zu tun. Zuletzt begann sich eine Meinung zu
etablieren, derzufolge die Arbeiten des Freiburger Historikers Hugo Ott eine
»geschichtliche Kehre in der Diskussion um die politische Kehre Heideggers«(4)
einleiteten. Ich möchte das stark in Frage stellen. Es ist zwar wahr, dass Ott
einige neue aufschlussreiche und interessante Dokumente ausfindig und zur
Grundlage seiner biografischen Skizzen machte. Allerdings relativiert die
einseitige Art, in der er diese Quellen auswertete, die Ausbeute und seine
Verdienste doch sehr stark. Der Doyen der Heidegger-Forschung, Otto Pöggeler,
unterstreicht immer wieder, wie simpel die Hauptthese Otts über Heideggers
Fehltritt ist: »Der Glaubensverlust führte zum politischen Irrtum« – und lässt
es dabei bewenden.(5) Diese verkürzte, letztendlich verkehrte These Otts ist an
sich schon kritikwürdig. Mag man auch Jürgen Busche zustimmen, wenn er
schreibt, »die Kritik an Heidegger ist expansiv bis zur Lächerlichkeit – eine
Kritik der Heidegger-Kritik findet nicht statt«,(6) so wäre es dennoch
vergeudete Zeit, so etwas wie bloße »Kritik der Heidegger-Kritik« zu betreiben.
Denn, der so genannte Fall
Heidegger hat nicht einfach mit diesem Philosophen und der Person Heideggers zu
tun, sondern stellt an sich einen Fall der bundesrepublikanischen
Nachkriegskultur dar, der einmal vielleicht als ein Paradebeispiel bei der
Beschreibung jenes geistigen Zustands der Republik etwa ab 1960 dienen wird,
der sich mit der Zeit zu einem fast uniformierten öffentlichen Verständnis
verfestigte, das alle Fragen, alle Unruhe des Geistes erwürgt. Zumindest wenn
es um Heidegger geht, hat man sich lange gleichsam dafür entschuldigen müssen,
seinem Denken wissenschaftliche Aufmerksamkeit überhaupt zuwenden zu wollen.
Und so – wenn alle alles zu wissen scheinen – konnte man den Eindruck gewinnen,
dass zunächst das Feld von Klischees und Stereotypen bereinigt werden müsste,
ehe man zum heideggerschen NS-Engagement als einem wirklich komplexen Problem
gelangen kann. Das kann hier nicht weiter verfolgt werden. Nichtsdestotrotz
kann man wenigstens auf eine beharrliche Methode im Umgang mit Dokumenten der
Vergangenheit und Quellen hinweisen: Es handelt sich dabei um eine bestimmte
Art der Selektivität, die ihre Auswahlkriterien weder offen legt noch erklärt
und schon gar nicht in der Sache selbst begründet. So bedient sich Ott Dokumenten,
die teils schwer, teils überhaupt nicht öffentlich zugänglich sind, und
präsentiert sie in Fragmenten, dem Leitfaden seiner Konstruktion folgend; er
baut beispielsweise die Bedeutung einzelner jugendlicher, katholisch-konservativer
Texte Heideggers nach eigenen subjektiven Auswahlkriterien enorm auf, ohne die
naheliegendsten Erfahrungen anderer Richtung oder die erstaunliche
Interessenbreite des jungen Studenten zu berücksichtigen.(7) Solch selektives
Lesen macht Otts Ergebnisse, die von nachfolgenden Autoren kritiklos übernommen
werden,(8) nicht übermäßig glaubwürdig. Zumindest empfindet man es oft während
der Lektüre als dringend erforderlich, die von ihm verwendeten Quellen ganz und
im Original sehen beziehungsweise lesen zu können.
Insbesondere ist auf die
erstaunliche Tatsache hinzuweisen, dass die neueren Untersuchungen über
NS-Verstrickungen einer überwältigenden Zahl von Gelehrten, die nach 1945 das
akademische und intellektuelle Leben in der Bundesrepublik prägten, von der
kritischen Heidegger-Forschung kaum zur Kenntnis genommen wird, und zwar nicht
einmal dann richtig, wenn man Bücher mit Titeln wie Heidegger im Kontext
schreibt.(9) Dabei werfen die Enthüllungen der Karrieren der Gründerfiguren der
modernen bundesrepublikanischen Geisteswissenschaften, von denen nicht wenige
SS- oder SD-Angehörige waren, von selbst ein anderes Licht auf den ein Jahr
amtierenden ersten NS-Rektor Heidegger.
»Geistige Erneuerung« als
Antwort auf die »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts
Der Berliner
Medienwissenschaftler Friedrich Kittler schreibt: »... das Kreuz mit Heidegger
… schrumpft daher fast auf eins des Wissens.«(10) Das kann man auch so verstehen,
dass die Glaubwürdigkeit bestimmter Interpretationen vom Wissen der Rezipienten
abhängt, das heißt davon, wie ernsthaft man sich mit Heideggers Werk selbst
auseinander gesetzt hat.
Daher ist es allemal
ergiebiger, sich mit Heidegger selbst als mit seinen Kritikern eingehend zu
beschäftigen. Und man muss nicht zu jenen gehören, die sich schon im Voraus in
der Verurteilung einig sind, um sich die Frage zu stellen, wie es denn kam,
dass Heidegger die Machtergreifung Hitlers und der Nazis begrüßte und bereitwillig,
ja entschlossen, als Rektor der Freiburger Universität, also an führender
politischer Position, sich daran machte, die Universität und das akademische
Leben im Sinne der nationalsozialistischen Revolution umzugestalten. Die
Beantwortung dieser Frage kann hier naturgemäß nur in groben Zügen und
skizzenhaft angegangen werden, das heißt es handelt sich dabei eher um ein
Prolegomenon über die Methode. Bei der Suche nach Antwort soll man sich in
einem solchen Fall auf die Zeit einlassen, die Heideggers schwer wiegender
Entscheidung vorausgegangen war, und nicht – wie so oft bislang – die Ereignisse
aus einer rückwirkenden Perspektive, gleichsam aus dem Wissen über Entstehung
und Niederlage des totalitären Regimes, den Eroberungskrieg und die Vernichtung
des europäischen Judentums zu deuten versuchen. Der Bedeutung, die die
Katastrophe des Ersten Weltkrieges für den jungen Heidegger hatte, ist bislang
kaum angemessene Beachtung geschenkt worden, und zwar unabhängig von den
jeweiligen Positionen in der so genannten Forschungskontroverse.(11) Aus für
alle zugänglichen Dokumenten und Texten geht eindeutig hervor, dass eine
fundamentale, revolutionäre Änderung des akademischen Lebens und des Umgangs
mit dem Wissen, die angestrebte Weckung eines neuen lebendigen Geistes eine
Herzensangelegenheit des jungen Heidegger war; nach seiner eigenen Beteuerung –
die durch Textanalysen mühelos untermauert werden kann – standen diese
»praktischen« Visionen in enger Verbindung mit seinem philosophischen Denken
und führten später zu seiner »Parteinahme für den Nationalsozialismus«,(12) den
es freilich als »Bewegung« nicht in Ansätzen gab, als Heidegger anfing, von
einer geistigen Erneuerung (durch »Sammlung«) und der dafür nötigen »neuen
Grundstimmung« zu träumen. Es handelte sich am Anfang seiner Lehrtätigkeit –
Einsatz im »Lebenszusammenhang der Universität« – zunächst um eine ganz andere
Haltung in dem akademischen Milieu, die eine neue Herangehensweise an
philosophische Probleme mit sich brachte und den jungen Heidegger unter der akademischen
Jugend fast über Nacht berühmt machte – also noch bevor er sein Hauptwerk
(1927) veröffentlichte und Ordinarius wurde. Über das Faszinosum Heidegger gibt
es viele Zeugnisse – die eindringlichsten sind jene seines »treuesten« Schülers
Hans Georg Gadamer,(13) der im März 2002 im hohen Alter von 102 Jahren
verstorben war: Was Heidegger damals in die Hörsäle brachte, war Avantgarde,
expressionistische Sprache, modernste Fragestellungen verknüpft mit
aufgewühltem Alltag.
Einige neuere Veröffentlichungen
vermitteln Spuren, die zu einer möglichen Erklärung dieser intensiven Haltung
Heideggers führten. Da sind zunächst die faszinierenden beiden Briefe an seinen
ältesten Schüler, Karl Löwith, aus dem Jahr 1921 und 1927. Der erste steht im
Zusammenhang mit Löwiths bevorstehender Promotion und der zweite mit seiner
bevorstehenden Habilitation. Um die volle Bedeutung dieser Briefe im Zusammenhang
des frühen Denkens Heideggers zu erfassen, müsste man dieser Thematik eine
eigene Studie widmen, wenn einmal alle Dokumente veröffentlicht werden.(14)
Hier kann man nur streifen, wie Heidegger sein offenes, aufrichtiges
Lehrerverhältnis – ohne Kitsch und Gehabe – dem Schüler gegenüber exponiert und
dabei seine philosophische Grundeinstellung expliziert: »An einer Definition
der Philosophie« liege ihm »gar nichts – sondern nur, sofern sie zur
existenziellen Interpretation der Faktizität mitgehört … Zu dieser meiner
Faktizität gehört – was ich kurz nenne –, dass ich ›christlicher Theologe‹
bin. … und ich bin das im Lebenszusammenhang der Universität.« Er
untermauert ferner: »Was ich beim Lehren an der Universität will, ist: dass die
Menschen zugreifen.«(15) Sechs Jahre später schreibt er Löwith als direkte
Kritik: »Sie führen ontisch zwar scheinbar etwas Objektiveres als die
›Existenz‹ ins Feld und sind gleichwohl nicht imstande – nach dem bisherigen
mindestens –, ontologisch die universale Orientierung zu gewinnen und zu
fundieren, die es ermöglicht, in die zentrale Kommunikation mit der bisherigen
Philosophie zu kommen, die ich anstrebe.«(16) Auch wenn die beiden Stellen in
ihrem Zusammenhang hier nicht eingehend interpretiert werden können, deuten sie
so zumindest Heideggers Grundhaltung an, die er gleichsam aus seinem
christlichen Habitus mit in die ›philosophische Existenz‹ übernommen hatte: so
etwas wie Dinge (die Faktizität) aktualisierend (im Sinne urchristlicher
Aktualität bzw. Verwirklichung) anzugehen und die Verbindung mit der Grundfrage
der Philosophie überhaupt herzustellen. In seinem Aufsatz über die Vorlesung
zur »Phänomenologie des religiösen Lebens« (WS 1920/21) findet der
amerikanische Heidegger-Experte Theodore Kisiel, der sich um die Erforschung
des Frühwerks verdient gemacht hat, weitere Anhaltspunkte für die enge
Verbindung zwischen philosophischen (phänomenologisch-hermeneutischen) Fragestellungen
und der Vision eines christlich authentischen Lebens in der konkreten
Faktizität vor Heideggers Abwendung vom Katholizismus, als Versuch, eine
Verbindung der christlich gelebten Zeitlichkeit mit »a kind of authentic
everydayness«(17) herzustellen.
Jene Briefe, die Heidegger
in dem Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg (die ersten davon noch in den
letzten Tagen des Krieges und von der Front) an Elisabeth Blochmann schrieb,
bestätigen in authentischer Weise, wie er auch nach seiner vehementen Abkehr
von Katholizismus und Religion überhaupt diese intensive Lebenshaltung
beibehielt und auf Unmittelbarkeit im Umgang mit der Umgebung setzte:
»Weil der Geist als Leben allein wirklich ist, kann lebendiges Für-einander-Sein
solche Wunder wirken«; und schon damals bildet diese Haltung den Ansatz seiner
Kritik am akademischen Leben: »Diese einfache ruhige Linie geistigen Seins u.
Lebens ist unseren Universitäten verloren gegangen …«(18) In dem Brief »Vom
Felde« (7. November 1918) schreibt er dann, er hätte für das Sommersemester
1919 angekündigt, »Vom Wesen der Universität« zu lesen. Es sei ungewiss, »wie
das Leben überhaupt sich gestalten wird nach diesem Ende, das kommen musste u.
unsere einzige Rettung ist«. »Gerade jetzt« aber solle man »nicht zu schwach«
werden; was gefordert werde, sei »eine entschlossene Führung« von »wahrhaft
geistigen Menschen«, die »das Volk zur Wahrhaftigkeit u. echten Wertschätzung
…erziehen« müsste. Von dieser Vorlesung über die Universität sind keine
handschriftlichen Aufzeichnungen, sondern nur eine partielle Nachschrift von
Oscar Becker überliefert.(19) Diese Edition dokumentiert – wenn auch
bruchstückhaft – was Heidegger als Antwort auf die Katastrophe des Weltkrieges
sich vorstellte. So viel wird klar: Heidegger versuchte, die Faktizität und das
situativ bestimmte Dasein so miteinander zu denken, dass der Grund der
Universität, des akademischen Lebens in einer Not nach ihm und
nach dem Wissen überhaupt begründet wird. Das ist schon damals geschichtlich
und nicht etwa anthropologisch gedacht: Das geschichtliche Moment hieß für ihn
damals auch, dass das Nachvollziehen der Katastrophe des Weltkrieges eine
radikale Wende in der durch die Neuzeit geprägten menschlichen Existenz
einleiten sollte, ja müsste, wodurch »ein anderer Anfang« ermöglicht werde.(20)
Diese Motive – die Stichworte: Faktizität – Situation/Gestimmtheit –
Dasein/Existenz – Geist/Leben – sind stets bei Heideggers Ausarbeitungen von
Fragen und Problemen beziehungsweise in seiner Lehrtätigkeit zwischen den
Kriegen präsent, ob es um den Begriff der Zeit, die Logik oder um die Sprache
im Herder-Seminar(21) oder die Wahrheit bei Platon geht. Genaue Verbindungen
könnte erst eine ausführliche Untersuchung nachweisen, aber auch mit einer groben
Skizze, die auf die Entfaltung der inneren philosophischen Problematik gänzlich
verzichten muss, lässt sich der intellektuelle Zusammenhang andeuten, der den
Hintergrund von Heideggers Affinität für die nationalsozialistische Bewegung
bildet, freilich so, wie er diese Bewegung verstand. »Bewegung« und
»Sammlung« (mit der gesamten Mehrdeutigkeit und wahrscheinlich nicht ohne das
Echo der alten Bezeichnung »ecclesia«), »Stimmung«, »geistige Wandlung« sind
Ausdrücke, die auch in privat mitgeteilten Ansichten und Bemerkungen ebenso oft
vorkommen, wie immer wieder Vorstellungen darüber, »in der Jugend« sollte ein
neues Bewusstsein, das dem Wissen und so fort offen ist, geweckt werden.
Wortwörtliche Übereinstimmungen finden sich in diesen frühen Schriftstücken und
jenen des zur Tat drängenden Rektors 1933/34. In diesem Zusammenhang,
beziehungsweise als konkrete kritische Haltung gegenüber der alten Universität,
prägte Heidegger den Ausdruck der »Kampfgemeinschaft«, die er und Jaspers dann
auch in gewissem Sinne schließen oder sich zumindest über die Notwendigkeit
einer Erneuerung der Universität durch eine »große Gesamtabrechnung« (Jaspers)
einig sind.(22) Zum Verständnis sowohl dieser Haltung als auch der damaligen
Atmosphäre ist die Berücksichtigung der überwältigenden Auswirkung der
Katastrophe des Weltkrieges unabdingbar. Bei Heidegger finden sich verstreut
Hinweise auf das Ungeheuere dieses Ereignisses, dem die Historiker erst in
letzter Zeit, nachdem neue Perspektiven aus der zeitlichen Distanz und der
Epochenvollendung im Jahre 1989 gewonnen wurden, mehr Aufmerksamkeit schenken.
Ich weise hier auf eine Stelle aus Heideggers Freiburger Vorlesung aus dem WS
1929/30 hin, die fast wie ein Schrei anmutet: »Wir müssen erst wieder rufen
nach dem, der unserem Dasein einen Schrecken einzujagen vermag. Denn wie steht
es mit unserem Dasein, wenn ein solches Ereignis wie der Weltkrieg im
wesentlichen spurlos an uns vorübergegangen ist?«(23) Doch selbstverständlich
müsste dieser bisher in der Forschung vernachlässigte Komplex erst systematisch
ausgearbeitet werden.(24) Über das schon Erwähnte kann ich hier lediglich auf
ein paar biografische Fakten hinweisen: Heidegger – geboren in gleichem Jahr
wie Charlie Chaplin, Ludwig Wittgenstein und Adolf Hitler – ist beim Ausbruch
des Krieges 25 Jahre alt. Ein Jahr zuvor hatte er mit einer Arbeit aus der
Logik promoviert und konnte im ersten Kriegsjahr seine Habilitationsschrift
abfassen, da er wegen seines Herzleidens vom Militärdienst zunächst
freigestellt wurde,(25) im Sommer 1915 wird er erneut militärisch erfasst und
der militärischen Postüberwachungsstelle in Freiburg zugestellt, erhält aber
ebenfalls die Berechtigung an der Hochschule zu lehren, sodass er im WS 1915/16
in der Theologischen Fakultät Logik liest. 1916 heiratet Heidegger und erhält
einen Lehrauftrag beim vakanten Ordinariat für mittelalterliche Philosophie;
dann wird er erneut mobilisiert und erhält nunmehr eine reguläre militärische
Ausbildung sowie zusätzlich eine meteorologische Schulung in Berlin. So kommt
er gegen Ende des Krieges in die Nähe des Schlachtfeldes bei einer
Frontwetterwarte vor Verdun. Nachdem die Deutschen – das neutrale Belgien
überfallend – bei Ypern zum ersten Mal in der Geschichte der Kriegsführung
Giftgas als Kriegsmittel eingesetzt hatten, das fortan auch von anderen
Kriegsparteien angewandt wurde, bekam die Wettervorhersage eine neue militärische
und prekäre Bedeutung. So wurde Heidegger unmittelbarer Zeuge des Vorgangs, bei
dem die in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aufblühende Naturwissenschaft
kriegstauglich geworden war.(26) Ich kenne zwar keine Textstelle, die
direkt auf diesen unmittelbar erlebten Zusammenhang rekurriert, aber die
Annahme, dass er für Heidegger bedeutsam war, ist zumindest nicht abwegig.
Vieles von den mentalen
Dispositionen, die für die Kriegszeit charakteristisch waren und eingehend
erforscht sind,(27) teilte Heidegger ebenso wie die verbreiteten Reaktionen auf
die Urkatastrophe(28) und später die Begeisterung für Hitler. Aber es gab so
vieles in der Haltung Heideggers, was ihn von der allgemeinen Gesinnung
wesentlich unterschied. Für die Frage von Heideggers NS-Engagement könnte
jenes, wodurch er herausragte, abweichend, anders und unverwechselbar war, von
größerer Bedeutung werden, als die Elemente, die er als Zeitgenosse dieser
bestimmten Epoche mit seiner Umwelt teilte. Das legen auch die Ausführungen in
den Lehrveranstaltungen nahe, die er in der NS-Zeit abhielt. Im Sommersemester
1933 elaboriert Heidegger unter dem Titel »Die Grundfrage der Philosophie« das
zuvor in der Rektoratsrede Vorgetragene und bemüht sich in unvergleichlicher
Weise um Einfachheit sowohl im Gedankengang wie im Ausdruck, das heißt es geht
ihm jetzt, nachdem die »Bewegung« gleichsam »gesiegt« hat, darum, der Jugend
die Notwendigkeit des Wissens und der Philosophie beizubringen. Das liest sich
gleichsam als eine philosophische Begründung der »Revolution«. Wenn es um die
»Grundfrage der Philosophie« geht, stellt er fest: »Wir sind ihr nicht mehr
gewachsen gewesen, und daher muß erst eine wirkliche Not und eine höchste
Notwendigkeit uns bedrängen und uns zum erneuten Fragen der Grundfrage
drängen.«(29) Besteht eine solche Not, dann ist ein höchster existenzieller
Einsatz erforderlich, daher »am Schluß meiner Antrittsvorlesung« der Hinweis
auf den »Einsatz der Existenz«. Es geht Heidegger jetzt darum, wie die
Philosophie mit der in große Stimmung versetzten deutschen Jugend (»die
deutsche Studentenschaft ist auf dem Marsch«(30)) »zur Wirklichkeit« gemacht
werden könnte. Hier liegen eindeutig die Motive für sein Engagement und sein
Wirken in der Anfangsphase des NS-Regimes. Man kann das abscheulich, lächerlich
oder überdreht finden. Aber entspricht diese Position einer üblichen
NS-Gesinnung seiner Zeitgenossen?(31)
Doch diese »Not«, als
ermöglichender (existenzieller) Grund für radikale Umwandlung, war Produkt der
Einbildung Heideggers und so auch die Verbindung mit der Bewegung und die
angebliche Notwendigkeit eines höchsten Einsatzes. Allerdings ahnt Heidegger zu
gleicher Zeit, dass das, was sich abspielt, doch nicht unbedingt seinen
Erwartungen entsprechen kann. Diese Ahnung äußert sich in Form von Kritik und
Warnungen: So seien es »recht viele, auch unter denen, die jetzt Parteiabzeichen
und dergleichen tragen, bei denen in der Existenz und Grundhaltung sich nicht
das Geringste gewandelt hat«; dabei » … hofft man, es möge wieder so werden wie
früher, nur daß eben alles jetzt nationalsozialistisch heißt«. Und dann gibt er
sich doch noch ›optimistisch‹ im Sinne einer herbeigesehnten fundamentalen
Wandlung: »…. Das deutsche Volk hat seine Metaphysik noch nicht verloren … weil
es seine Metaphysik noch nicht besitzt … [und] erst gewinnen muß …wir sind ein
Volk, das noch ein Schicksal hat.«(32) Aber worauf richteten sich Heideggers
Hoffnungen?
Im Wintersemester 1933/34
liest Heidegger über »Platons Lehre von der Wahrheit« und das berühmte
Höhlengleichnis(33) aus dem Dialog »Der Staat« und nimmt dabei immer wieder
Bezug zu aktuellem Geschehen. Er lässt in groben Zügen in die Geschichte der
Ideenlehre zurückschauen, ordnet Hegel in Bezug zu ihr, rechnet mit
Marxismus,(34) Liberalismus, »einem bodenlosen Christentum« ab, um den
aktuellen geschichtlichen Augenblick ins Zentrum zu stellen: »Dieser ungeheure
Augenblick, in den der Nationalsozialismus heute gedrängt ist, ist das Werden
eines neuen Geistes der Erde überhaupt.« (Kursiv i. O.)(35) Die heutigen
Leser dieser Zeilen müssen sich hier die Augen reiben und nochmals lesen. Aber,
wenn man eine ungefähre Ahnung darüber hat, worauf Heidegger mit diesem »neuen
Geist der Erde« hinauswollte, stutzt man erst recht über diese Verknüpfung mit
dem Nationalsozialismus. Ja, man möchte meinen, Entfernteres kann es gar nicht
geben. Aber Heidegger hatte auch dieses Fantasma über das deutsche Volk, dem er
eine kontingente »Metaphysik« und ein »Schicksal« zuschrieb! Und es war er
selbst, der diese Gedanken zunächst als mit dem Nationalsozialismus kongenial
betrachtete. Was soll das sein: die Metaphysik des deutschen Volkes? Es kommt
einem wie eine Art missionarisches Deutschtum vor, was man auch in Heideggers
späterem »Denken des Deutschen« ausgehend von einer Art Apotheose Hölderlins
bestätigt finden kann, mit dem er ab Mitte der Dreißigerjahre versuchte, einen
überaus deutlichen Abstand von der zuvor gesuchten Nähe zum Nationalsozialismus
zu gewinnen und worauf er sich in seiner Rechtfertigungsschrift berief. Und wie
passt das alles zu einem Denken, das zugleich mit höchstem Engagement eine
»Überwindung der Metaphysik« betreibt?(36)
Die ausgewählten Stellen aus
Platons »Staat« liest er – der Philologe – genau, um immer wieder in die
daseinsanalytische (wenn auch schon seinsgeschichtlich abgewandelte)
Interpretation zu springen. Dabei richtet er sein Augenmerk auf jene Phase der
platonischen Geschichte, in der es um die Lösung der Fesseln und die Befreiung
aus der Höhle geht, das heißt darum, dass die Befreiung kein plötzlicher
Sprung, sondern ein Prozess ist: »... die Wegnahme der Fesseln ist keine
wirkliche Befreiung.«(37) Die Ausführung kann man wie eine Art Plädoyer für die
permanente Revolution lesen, das heißt eine lange Periode der
»Steigerung der Freiheit«, da eine solche Wendung aus dem Schatten in das Licht
und die Freiheit einer langsamen Umgewöhnung und sogar der »Gewalt« bedarf. Die
»Steigerung der Freiheit« meint nicht, wie Heidegger betont, immer größere
»Ungebundenheit«, sondern eine immer ursprünglichere »Bindung des
Menschen … in die Wurzeln seines Daseins«. Es beschlich ihn doch offenkundig
immer wieder der Verdacht, dass die national-sozialistisch »bewegte« Jugend
seinen Ausführungen nicht ganz folgen kann. Daher erklärt Heidegger an dieser
Stelle: »Das sind Thesen und Dinge, die der heutige Mensch schwer versteht.
Alles wissenschaftliche Erkennen stellt nur dann die Nähe zum Seienden
sicher, wenn es aus einer geschichtlichen Bindung des Menschen ans
Dasein erwächst.« Zusätzlich vermerkt er noch: »Dies ist nicht zu Zwecken der
›Gleichschaltung‹ vorgetragen. Auch habe ich es nicht nötig, mich zu verteidigen
… Eine Umwandlung unseres ganzen Dasein ist notwendig, die nur schrittweise
erfolgen kann und nicht allein vom Wissen erledigt werden kann.«(38)
Im Januar 1934 rechnet
Heidegger im Unterricht vehement mit einem damals viel gelesenen
Schriftsteller, Befürworter des NS-Regimes und Kulturfunktionär bei der
Preußischen Akademie der Künste(39) ab, der einen öffentlichen Vortrag in
Freiburg gehalten hatte. Heidegger prangerte das biologistische Denken des
Vortragenden scharf an und verknüpfte die Kritik mit dem Thema seiner
Vorlesung: »Er ist an die Schatten gebunden … er denkt und redet im Schema
einer Biologie, die er vor 30 Jahren kennengelernt hat«. Freilich ist das, was
Heidegger da gerade anprangerte – insbesondere den Sozial-Darwinismus als ein
historisch obsoletes Ideologem(40) – nicht nur gängig gewesen, sondern stellte
bekanntlich den zentralen Gedanken der nazistischen Rassenideologie dar. Seine
Vision der NS-Revolution verteidigte er gegen Hitlers Hauptideologen und diesen
selbst: »Der Bürger wartet dann, bis dieser Prozeß zu Ende ist, ... Für diese
Taktik beruft man sich natürlich auf ein Wort des Führers: die Revolution zu
Ende, es beginnt die Evolution. Ja – wir wollen doch keine Falschmünzerei
treiben. Evolution – gewiß, aber eben da, wo die Revolution zu Ende ist. Aber
dort, wo wie im Geistigen und z. B. im Schulwesen die Revolution noch nicht nur
nicht zu Ende ist, vielmehr nicht einmal begonnen hat, – wie steht es da?«(41)
Heideggers Ausführungen sind jedenfalls von ungeheuerlicher Radikalität: »Der
Höhlenmensch sitzt in seinem Gehäuse und weiß nichts von der Geschichte der
gewaltsamen Befreiung und höchsten Bindung.«(42)
Was sagt uns dieser
Radikalismus? Es sagt uns, dass Heidegger in gewisser Weise durchgedreht war –
er war von revolutionärem Wahn ergriffen. Revolutionärer Wahn scheint
eine medizinisch noch nicht beschriebene psychopathologische Erscheinung zu
sein. Man könnte von einem Fall »revolutionärer Psychopathologie« sprechen. Das
20. Jahrhundert wimmelte nur so von Revolutionskranken – ein geschichtlich
bedingtes Phänomen. Bei Heidegger handelte es sich um einen akuten »Befall«,
der zwar gewisse Vorstadien der Anfälligkeit vorwies, aber doch relativ jäh
verklang. Woran erkennt man die Revolutionskrankheit? Typisch ist, dass man die
Gefahren in der Realität, die direkt vor den Augen des vom revolutionären Wahn
Befallenen geschehen, abwiegelt und sich eine übergroße Möglichkeit entwirft,
sich einen Horizont von großartigen Lösungen vorgaukelt, die bald greifen
werden und die Wende bringen. Typisch ist außerdem ein gewisses Gefühl der
Omnipotenz und natürlich die Neigung zu Höhenflügen, bei denen man sich auf
Augenhöhe mit dem Schicksal der ganzen Welt und den charismatischen Führern
wähnt. Diesen Typus Mensch könnte man noch am besten im Umkreis der
kommunistischen Revolution studieren. Mit seiner revolutionären Radikalität
kommt Heidegger ohnehin dem Typus des anarchistischen Revolutionärs oder des
kommunistischen Idealisten näher als dem des Nazi-Biedermanns.(43) In diesem
menschenverachtenden Irrsinn des äußersten Nihilismus will Heidegger, der
zeitweilige Vollstrecker des Anfangs eines Unrechtsregimes, allem eine andere,
eine geistige Wende geben, zugleich noch »wertvolle« (das schon!) Kollegen,
Schüler, Bekannte retten. Das wirkt so verrückt, dass man sich kaum eine
rationale Erklärung dieses Zusammenhangs vorstellen kann. In seiner
Rechtfertigungsschrift führt Heidegger seine philosophischen Beweggründe in
ziemlich allgemeinen Formulierungen an; aber was hätte er sonst noch als
Erklärung angeben können? Dass er Deutschland 1933 in der historischen
Schicksalsstunde wähnte, dem Kairos zum Greifen nah (»die Stunde unserer
Geschichte hat geschlagen!«(44))? Dass er eine Koinzidenz zwischen seinen
philosophischen Ansätzen und der »Bewegung«, eine geschichtliche Ursprünglichkeit
gekommen sah, nachdem das ausgehöhlte System Christentum ausgedient habe, dem
griechischen Quellgrund des Abendlandes ähnlich? Dass er der Faszination Hitler
erlag und in dem kleinen Mann aus niederen Sozialverhältnissen einen mit großem
Willen und der Begabung zu führen, sah? Dass er an den »Führer« glaubte, der
die Nation hinter sich sammelte, eigentlich an das Führerprinzip und noch mehr
an die Gefolgschaft, weil er meinte, dass so die nötige, epochale Grundstimmung
entsteht, eine Unmittelbarkeit für einen »anderen Anfang« und Chancen für die
»Umwandlung unseres ganzen Daseins« inmitten einer »echten« Gemeinschaft sich
anbahnen? Er konnte sich doch nicht noch lächerlicher machen als schon
geschehen. Aber in seiner Rechtfertigung hat Heidegger nicht etwa gelogen. Er
sagt klipp und klar: »Ich sah damals in der zur Macht gekommenen Bewegung die
Möglichkeit zu einer inneren Sammlung und Erneuerung des Volkes und einen Weg,
zu seiner geschichtlich-abendländischen Bestimmung zu finden. Ich glaubte, die
sich selbst erneuernde Universität könnte mitberufen sein, bei der inneren
Sammlung des Volkes maßgebend mitzuwirken.«(45) Die Wirklichkeit nahm er aber –
um es im heutigen Jargon auszudrücken – durch einen »Tunnelblick« wahr.
Heideggers zahlreiche
Kritiker suchen nach dem Nazi-Heidegger und sammeln »Beweisstücke« wie für ein
fingiertes Strafverfahren gegen einen »Täter«. So wird versucht, den Eindruck
zu erwecken, irgendwelche Sachen, die Heidegger in seinem ominösen
Rektoratsjahr sagte oder machte, seien absichtlich im erwähnten Bericht und
auch sonst verschwiegen gewesen, was geradezu einem Verbrechen gleichkomme.(46)
Diese Vorgehensweise ist natürlich methodisch unhaltbar und sie ist
wissenschaftlich unredlich. Aber darüber hinaus ist sie samt ihrer Intention
lächerlich: Denn sie unterstellt, dass es gleichsam objektive Kriterien
dafür gebe, woran man sich erinnern »müsse« oder wie jemand Rechenschaft über
sein Handeln abzulegen habe. In dieser Welt der simulierten Nazi-Bekämpfung
wird Heidegger nicht nur zum fiktiven »Angeklagten«, sondern es wird ihm
gleichsam vorgeworfen, die Belastungsbeweise gegen sich selbst nicht gesammelt
und vorgelegt zu haben – solche natürlich, die ihn nach den Vorstellungen der
eingebildeten »Richter« belasten würden. Das steht im Zusammenhang der
Erwartung, die schon Karl Jaspers hegte, Heidegger würde aus der
Nachkriegsperspektive sein Handeln während des Unrechtsregimes überprüfen,
besser: verurteilen. Bloß, Heidegger teilte diese Perspektive nicht; das war
nicht seine Republik. Im Unterschied zu Jaspers gab es für ihn hier – anders
als nach dem Ersten Weltkrieg – keinen neuen Anfang. Deshalb konnte Heidegger
den Erwartungen, die an ihn aus dem Geist des Nachkriegsdeutschlands gestellt
wurden, niemals entsprechen.
Wenn Heidegger-Kritiker
allerdings etwas tiefer schürfen, dann merken sie, dass das, was Quellen,
Zeitdokumente und Zeugnisse tatsächlich bieten, zum Bild von einem
Nazi-Intellektuellen nicht so recht passen. Solcherart Befunde regen
normalerweise Neugier und Willen zur erneuten Prüfung von Sachverhalten, die
sich nicht reimen wollen, an, es sei denn, man ist erpicht, die im Voraus
aufgestellte These aufrechtzuerhalten. Und so kommt es, dass man lieber
merkwürdigste Konstruktionen wagt und auf sinnwidrige Beschreibungen
zurückgreift, als die eigene Interpretation auf ihre Stichhaltigkeit hin
kritisch abzuklopfen. Was soll beispielsweise »Darwinismus des ›Geistes‹«
bedeuten? Doch der amerikanische Heidegger-Kritiker Georg Leaman stellt fest,
dass Heidegger kein Vertreter des nazistischen Rassedenkens, des Biologismus
beziehungsweise Sozialdarwinismus war,(47) ja, er habe »im Unterschied zu
anderen Philosophen … nicht einmal so getan, als ob er dies [sc.
Rasse-Gedanken] akzeptieren würde«, und denkt sich dann diese vollkommen
sinnwidrige Bezeichnung aus. Dieter Thomä wiederum scheint sich nicht
entscheiden zu können, ob Heidegger mit seinem Denken der Erde jene Ideologeme
wenigstens »geschrammt« habe und man die Art, wie er das deutsche Volk dachte,
nicht doch als »geistigen Rassismus« bezeichnen könnte.(48) Auch wenn es das
hölzerne Eisen vom »geistigen Rassismus« geben würde, könnte man dies als
Kennzeichnung einer Nazigesinnung gelten lassen? Wohl kaum!
Wer sich an den Vorgaben aus
einem dem Konsens verpflichteten Zeitgeist orientiert, wird sich diesem
Problem, wie sich Martin Heidegger überhaupt unter Nazis fand, vermutlich nie
annähern können. Mit einer solchen Haltung verfehlt man nämlich gerade jene
widersprüchlichen Stellen, die zur produktiven Kritik führen könnten.
Da man von einer kritischen
Auseinandersetzung zu Recht erwartet, Alternativen zumindest anzudeuten, möchte
ich im Rahmen des vorliegenden kurzen Abrisses – in aller Vorläufigkeit – zwei
mögliche Ansatzpunkte ansprechen. Da ist einmal so etwas wie die Kategorie
der »Unmittelbarkeit«. Es ist keine Kategorie Heideggers, aber man trifft
im Frühwerk immer wieder an zentralen Stellen Begriffe wie »Leben«, Bindung,
echte Gemeinschaft und so fort (wie oben erwähnt), die als Tendenz nach
Unmittelbarkeit zu verstehen sind. In den Vorlesungen aus der frühen NS-Zeit
und auch in Heideggers politischen Reden findet sich eine Reihe solcher
Ausdrücke und Begriffe, die man mit der Bezeichnung »Unmittelbarkeit«
kennzeichnen und (quasi systemtheoretisch) im Sinne eines Strebens nach
Kommunikation von mündlicher Intensität und Qualität, also ohne mediale
Unterbrechung, fassen könnte. Elemente für einen solchen kritischen Ansatz, den
man noch systematisch ausbauen könnte, gibt es: etwa die Vorstellung einer
Neukonstitution der Universität sowie des akademischen Lebens aus der »Not«,
aus dem existenziellen Drang und aus der Unmittelbarkeit des praktischen
Lebens. Auf der anderen Seite muss man sich darüber im Klaren sein, dass ein so
glänzender Transzendentalphilosoph wie Heidegger nicht einfach der
Unmittelbarkeit verfallen kann. Diese »Unmittelbarkeit« steht im Zusammenhang
mit der Kategorie der Lebenswelt der transzendentalen Phänomenologie,
die sein Lehrer Husserl entwickelte und die von ihm verknüpft mit der
Daseinsanalytik verfeinert und im Sinne der Fundamentalontologie vertieft
wurde. Das muss hier als Andeutung genügen: Beide Ansätze, der Husserls und der
Heideggers, richten sich – grob gesagt – auf eine intersubjektive transzendentale
Konstitution der Welt aus dem zunächst Gegebenen und verstehen sich zugleich
als Fundament für eine Kritik der objektivistischen (Natur-)Wissenschaften; das
heißt, dass Heideggers Wendung zu einer »Unmittelbarkeit« in der Praxis als ein
Ansatz der Kritik mit all den in ihr enthaltenen Widersprüchlichkeiten in
Verbindung mit dem weiteren Kontext des transzendental-phänomenlogischen
Versuchs einer Neubegründung der Wissenschaft (in weitestem Sinne) aus der
Lebenswelt eruiert werden sollte. Man könnte von hier aus konkret verfolgen, wo
und weshalb Heidegger in den Dreißigerjahren auf die Irrwege umstieg, die ihn
in die Nähe der NS-Revolution brachten.(49)
Ein weiterer kritischer
Ansatz ergibt sich aus den Merkwürdigkeiten des heideggerschen Volksdenkens. Damit
haben sich bereits mehrere Autoren kritisch auseinander gesetzt.(50) Von einem
Volksbegriff im soziologischen Sinne kann bei Heidegger kaum gesprochen werden,
aber auch die Auseinandersetzungen, die sich kritisch auf Heideggers
»völkisches« Denken stürzen, verfehlen den Punkt. Es handelt sich um einen
begrifflichen Komplex, der ausgehend von der Geschichte um das Konzept
des Volkes kreist, aber nicht als »völkisch« zu charakterisieren ist. In der
Logik-Vorlesung vom Sommersemester 1934, also unmittelbar nach dem Scheitern
seines Rektorats fragt Heidegger nach dem »Wir«, danach, was »das Geschehen der
Gemeinschaft, des Volkes« ist.(51) Die genaue Genese dieses Gedankenkomplexes
gehört freilich zu einer kritischen Auseinandersetzung unbedingt hinzu, wobei
anzumerken ist, dass Heideggers Annäherung an Volks- und ähnliche Konzeptionen
Anfang der Dreißigerjahre und seine kritische Distanzierung ab der zweiten
Hälfte der Dekade eher zu den Brechungen seines Denkweges als zu einem
konzeptionellen Kontinuum gehören. Das oben eingeführte »missionarische«
Element seines Deutsch-Begriffs könnte wahrscheinlich historisch aus der
Tradition des Katholizismus seiner badischen Heimat und des »Kulturkampfes«
seit dem 19. Jahrhundert als eine Quelle zurückverfolgt werden.(52) Dieser
ganze Gedankenkomplex ist voller Ungenauigkeiten und Widersprüche, angefangen
mit dem verfehlten quasi »existenzialistischen« Volksdenken. Aber das
»Völkische« prangert er selbst an, wenn er in direkter Kritik an Hitlers Thesen
das Grundübel des Nationalismus treffend diagnostiziert: »Erhaltung des Volkes
ist nie ein mögliches Ziel.«(53) Wenn Heidegger sich zu Phänomenen wie Volk
oder das Politische äußert, dann fällt ein Mangel an Differenzierung auf, also
etwas, worauf er sich sonst so gut versteht. Man kann durchaus von Unzulänglichkeiten
und Versäumnissen im politischen Denken Heideggers – wie in der Forschung
üblich – sprechen, aber sie in die Nähe von Rassismus ansiedeln zu wollen, kann
man nicht anders als vollkommen verkehrt bezeichnen. Gerade Heideggers Kritik
des Biologismus, der ja die ideologische Grundlage des modernen Rassismus ist,
bietet mit ihrer Art – wie oben angeführt –, diese Konzepte in ihren
ideologischen und historischen Kontext einzuordnen und so in ihrem ideologischen
Gehalt zu destruieren, einen möglichen Ansatz kritisch zurückzufragen: Wo
bleibt eine entsprechende Ideologiekritik des »Volksbegriffes«?
Heidegger versäumte es, nach ideologischen Versatzstücken und deren
geschichtlichen Orten in seinem eigenen Denken des »deutschen Volkes« zu
fragen. Von da aus würde sich eine ganze Palette von Fragen ergeben, mit denen
man in eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Denken hingelangen kann,
ohne dass man ignoriert, dass es eben ganz anders war als das seiner deutschen
Zeitgenossen.(54) Mit solch einem kritischen Verfahren könnte man
wahrscheinlich genauer als mit den Ansätzen aus politikwissenschaftlichen und
soziologischen Theorien der Nachkriegszeit Heideggers politische Vorstellungen
und Visionen aus jener Zeit überprüfen oder zusätzlich beleuchten, als
»Philosophie zur Wirklichkeit« werden sollte.
War dieser Bezug zur
Volkskategorie ein Anachronismus, ein Rückzug in angebliche Verwurzelung in der
badisch-katholischen Provinz – gemäß dem Stichwort »konservative Revolution«?
Oder war dies ein – gewiss gescheiterter – Versuch, einen Gegenpol für die auf
Nichts sich entwerfende, grundlos gründende Transzendenz des Daseins (d. h. des
modernen Subjekts) zu finden?(55) Heideggers Einsatz für den Nationalsozialismus
und sein Glaube, ja seine Illusion, die Deutschen seien von ihrer Geschichte
her für eine besondere, besonders schwierige geistige Aufgabe bestimmt, stehen
– so paradox es manchem erscheinen mag – im Zusammenhang seines Denkens der
Moderne. Unbestreitbar hatte Heidegger einen fast ostentativen antimodernen
Gestus, aber die Kehrseite war, dass er auf der Suche nach einer anderen
Moderne war, eine, die das hybride, abgeleitete Wesen der von Scholastik und
Christentum geprägten Neuzeit abschütteln und aus eigener Ursprünglichkeit
ansetzen könnte; daher immer wieder die Frage, »ob die Neuzeit als ein Ende
begriffen und ein anderer Anfang erfragt ist …«
Heideggers Hineinstolpern in
das System des Nazismus kann so im Zusammenhang seines Versuchs einer
vermeintlich Welt verändernden politischen Praxis verstanden werden. Und es
fragt sich, ob sich diese Verirrung nicht als das Ende der abendländischen
Philosophie selbst lesen ließe. Der schon erwähnte Spruch: »Wir wollen die
Philosophie zur Wirklichkeit machen«, steht in jener geistigen Tradition, die
mit Platon anfing, und das heißt, mit philosophischen Erkenntnissen
weltgründend und daher auch politisch sein will. Heideggers Rektoratsrede wurde
im Zeichen der platonischen Philosophie abgehalten und endete mit einem durch
Übersetzung mächtig symbolhaft überzeichneten Zitat aus Platons politeia.
In den Mittelpunkt der Rede setzt Heidegger Nietzsches Wort »Gott ist tot«.(56)
Es handelte sich um eine kunstvolle Inszenierung, die auf höchste geistige
Dramatik hinaus war, die die Notwendigkeit einer fundamentalen geistigen Wende
vor Augen führt, welche von der erneuerten Universität auszugehen hätte. Wie
oben erwähnt, erläuterte Heidegger während seiner Lehrtätigkeit in dem
Rektoratsjahr diese Ideen ausgehend von Platons Philosophie intensiv und
gründlich. Hier kann man eine interessante Beobachtung machen; so gut wie
durchgängig verfolgt er nämlich eine Doppelstrategie: Einsatz für einen Erfolg
und Grübeln über das Scheitern zugleich. Das deutete auch schon das
Platon-Zitat in der Rektoratsrede und seine schillernde Übersetzung an: »Alles
Große steht im Sturm«. In der ersten deutschen Übersetzung des alten
Schleiermacher hieß es – etwas verlegen: »… ist bedenklich«.(57) Die
Doppeldeutigkeit des Ausdrucks »Sturm« war gewollt, aber man kann auf gar
keinen Fall von einer falschen Übersetzung reden; das griechische Original ist
eben selbst für Auslegung offen. Doch handelt es sich hier um ein Fragment aus
dem Kontext, der Eindeutigkeit bringt. Platon fragt nämlich an dieser Stelle,
wie denn eine Polis (ein Staat) in ihrem Handeln durch Philosophie geprägt
werden könnte, ohne dabei zu Grunde zu gehen. Es ist nun keine unbedachte
Kühnheit, zu behaupten, die Gefahr des Scheiterns ist Heideggers stete
Begleiterin, die aus seinem Bewusstsein nicht weicht. Das bestätigen private
Äußerungen in den Briefen und die Auseinandersetzungen mit dem Thema des
Scheiterns in den Lehrveranstaltungen.(58) Heideggers fast obsessive
Beschäftigung mit dem Scheitern der Philosophie Anfang der Vierzigerjahre
scheint von zwei widersprüchlichen Motiven getragen worden zu sein: einmal um
der Erkenntnis vom Ende der Philosophie (gerade auch versinnbildlicht in seinem
Versuch der akademischen Revolution) auszuweichen und zum anderen sich diesem Thema
gerade anzunähern und damit die Frage über ein Denken nach dem Ende zu
erarbeiten. In den Aufzeichnungen zwischen 1936–1939, die erst postum
veröffentlicht wurden (Bd. 65, 66) reißt Heidegger das Thema der Vollendung
(der Metaphysik, der Neuzeit, der Philosophie) immer wieder auf, trägt aber
erst 1964 die These vom »Ende der Philosophie« und der »Aufgabe des Denkens«
öffentlich vor.(59) Darin nimmt er Bezug zu Marx’ Umkehrung der Philosophie in
die Praxis, und zwar nach der Art, wie er sich schon jahrelang mit der
Philosophie Nietzsches als »umgekehrtem Platonismus«, »Höhepunkt« und
»Vollendung des Nihilismus« auseinander setzte: »Mit der Umkehrung der Metaphysik,
die bereits durch Karl Marx vollzogen wird, ist die äußerste Möglichkeit
erreicht«.(60) Wenn er in seinem Vortrag über »Kants These über das Sein« –
eine der wichtigsten Abhandlungen aus der Spätphase – Bezug nehmend auf die 11.
These ad Feuerbach – fragt: Wenn »von der Philosophie gefordert« wird, »dass
sie sich nicht mehr damit begnüge, die Welt zu interpretieren«, sondern »dass
es darauf ankomme, praktisch die Welt zu verändern«, dann müsste »die so
gedachte Weltveränderung« zuvor verlangen, »dass sich das Denken wandle«,(61)
dann drängt sich förmlich die Frage nach der Bedeutung dieser Kritik für
Heideggers eigene Erprobung der Umsetzung der Philosophie in die Wirklichkeit
auf. Wenn man diese Handlungen zum Prozess der Vollendung der Philosophie
zurechnet, dann müsste man sagen, dass die abendländische Philosophie, so wie
diese Tradition mit Platons Ideenlehre einmal vor mehr als 2000 Jahren
ansetzte, um die Mitte des 20. Jahrhunderts mit einer fundamentalen Verirrung,
dem Irrweg eines Philosophen, der im schlimmsten Regime der Neuzeit die
Möglichkeiten für einen Neuanfang zu erkennen glaubte, zu Ende ging. Ein – für
manche – ungeheurer Gedanke! Vielleicht aber dennoch eine richtige »Aufgabe des
Denkens« für die Zukunft.
1
Michael Friedman: Carnap
Cassirer Heidegger. Geteilte Wege, Frankfurt am Main 2004; Theodore Kisiel:
The Genesis of Heidegger’s Being and Time, 1993; Heidegger’s Way of
Thought. Critical and Interpretative Signposts, New York 2002 (ed. Alfred
Denker/Marion Heinz); Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach.
Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910–1976, Frankfurt am
Main 1990; Johannes Weiß (Hrsg.): Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die
Daseinsanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft,
Konstanz 2001.
2
Tom Rockmore: »Die geschichtliche Kehre oder Otts Verdienst
im Fall Heidegger«, in: Hermann Schäfer (Hrsg.): Annäherungen an Martin
Heidegger. Festschrift für Hugo Ott zum 65. Geburtstag, Frankfurt am
Main/New York 1996, S. 9–22.
3
Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger. Handbuch. Leben – Werk –
Wirkung, Stuttgart 2003.
4
Tom Rockmore, a. a. O., S.
17. Hugo Ott: Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie,
Frankfurt am Main/New York 1988. Hugo Ott kann einem im Grunde wie ein
Kreuzritter der Heidegger-Bekämpfung vorkommen, was kaum zum Titel eines
Heidegger-Biografen passt. Unentwegt beschwert er sich übrigens, er wäre wegen
seiner kritischen Forschung in – nicht näher beschriebenen – Kreisen
angefeindet, die Heidegger stützten. Das ausgerechnet während der Jahrzehnte,
als in der Öffentlichkeit gerade umgekehrt Heidegger-Bashing vorherrscht und
geradezu obligatorisch erscheint. Freilich muss man sich auch an den Kopf fassen,
wenn man manche Überschriften liest, die der Herausgeber gesammelter Zeugnisse,
Heideggers Sohn Hermann, zahlreichen Schriftstücken verpasste (Reden und
andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910–1976, GA, Bd. 16, Frankfurt am Main
2000). So wird darin der vom Rektor Heidegger an die Dekane weitergeleitete
Erlass des Kultusministers zur »Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« wegen
eines verschwiemelten Zusatzes Heideggers: »Ich bitte, für eine restlose und
klare Durchführung des Erlasses vom 6.4.1933 … Sorge zu tragen, andernfalls
läuft die Universität Gefahr, jedes Eintreten für bedrohte Kollegen selbst
aussichtslos zu machen« mit »Eintreten für bedrohte Kollegen« überschrieben (S.
84–85)! Solcherart »Ehrenrettung« bewirkt sicherlich eher das Gegenteil.
5
In Hermann Schäfer, a. a. O., S. 99.
6
»Ein Faszinosum, das zu verdunkeln keiner Bedenklichkeit
gelingen wird«, SZ, (Rezension) 12.9.03. Aber eigentlich wäre etwas schon
gewonnen, wenn in diesem Fall wenigstens die üblichen Standards der kritischen
Geschichtswissenschaft befolgt würden.
7
Der Amerikaner Theodore Kisiel weist zum Beispiel auf
einseitige Gewichtung der Texte in der konservativen katholischen Zeitschrift Akademiker
und Vernachlässigung von gleichzeitiger intensiver Beschäftigung Heideggers mit
fortschrittlicheren katholischen Zeitschriften hin: »… his avid reading of more
avant-garde Catholic journals like Der Brenner (not noted by either Ott
or Farías)«, Kisiel, 2002, S. 4 (Anm. 1).
8
Rüdiger Safranski schreibt in seiner Biografie Ein
Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994, ganze
Passagen von Ott regelrecht ab.
9
Georg Leaman: Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum
NS-Engagement der Universitätsprofessoren, Hamburg 1993.
10
Friedrich Kittler: »Heidegger und die Medien- und
Technikgeschichte«, in: Thomä (2003), a. a. O., S. 500–510, S. 501.
11
Einen kurzen und stark pointierten Überblick bietet D. Thomä
(2003), a. a. O., S. 159.
12
Vgl. Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach
1933, Stuttgart 1986, S. 57.
13
Hans Georg Gadamer: Philosophische Lehrjahre,
Frankfurt am Main 1995.
14
Die spannungsreiche Beziehung zwischen ihm und Löwith, die
durch allerlei Gerüchte begleitet scheint, wäre auch einer nüchternen
historischen Beschäftigung wert. Einen sehr knappen Überblick bietet Reinhard
Mehring: »Heidegger und Karl Löwith. Destruktion einer Überlieferungskritik«,
in: Thomä (2003), a. a. O., S. 373–375.
15
Drei Briefe mit Genehmigung des Sohnes Heideggers abgedruckt
in: Zur philosophischen Aktualität Heideggers (Symposion d. A. v.
Humboldt-Stift./April 1989), Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, hrsg. v.
Dietrich Papenfuss und Otto Pöggeler, Frankfurt am Main 1990 (die Herausgeber
hatten offensichtlich Einsicht auch in dazugehörige unveröffentlichte Briefe
Löwiths), S. 28/29 und S. 31.
16
Ebd., S. 36. Heidegger hielt gerade gegenüber Kollegen,
denen er freundschaftlich begegnete und die er ernst nahm, nicht mit offener
Kritik hinterm Berg. In diesem Brief äußert er sich auch zu diesem Prinzip,
erklärt aber Löwith des Weiteren genau, wie er sich (in dem intriganten
akademischen Milieu) für ihn und seine künftige Karriere einsetzte.
17
Kisiel (2002), S. 184; er hat die Aufzeichnungen und Nachschriften
benutzt, bevor sie in GA, Bd. 60, 1995, veröffentlicht wurden.
18
Der erste Brief an die Jugendfreundin von Heideggers Frau
Elfride vom 15. Juni 1918, Martin Heidegger/Elisabeth Blochmann: Briefwechsel
1918-1969, hrsg. v. Joachim W. Storck, Marbach 1989, S. 7.
19
GA, Bd. 56/57. Es handelt sich um die in ihrer Bedeutung nicht nur für das
frühe Werk kaum zu überschätzenden Vorlesungen im so genannten
Kriegsnotsemester von 1919, und zwar: Zur Bestimmung der Philosophie,
bestehend aus: 1) Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem
(Kriegsnotsemester 1919); 2) Phänomenologie und transzendentale Wertphilosophie
(Sommersemester 1919), 3. Anhang: Über das Wesen der Universität und des
akademischen Studiums (Sommersemester 1919).
20
Dieser Gedanke kommt in zahlreichen Formulierungen vor, so
etwa »ob die Neuzeit als ein Ende begriffen und ein anderer Anfang erfragt ist
…«, S. 134, GA 65 (»Beiträge …«)
21
»Vom Wesen der Sprache. Die Metaphysik der Sprache und die
Wesung des Wortes. Zu Herders Abhandlung ›Über den Ursprung der Sprache‹.«
(Oberseminar SS 1939); GA IV, Bd. 85, Frankfurt am Main 1999.
22
Martin Heidegger/Karl Jaspers: Briefwechsel 1920–1963,
Frankfurt am Main 1990, S. 28 ff. Jaspers am 6.9.1922: »Es wäre doch schön,
wenn wir einmal ein paar Tage in geeigneten Stunden philosophierten, und die
›Kampfgemeinschaft‹ erproben und befestigen.« (S. 32)
23
GA, Bd. 29/30, »Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt
– Endlichkeit – Einsamkeit«, Frankfurt am Main 1983 (WS 1929/30), S. 255–256.
Dieser Gedanke kommt auch noch viel später in Heideggers Rechenschaftsbericht
vom 1945 zur Sprache, freilich resigniert-pessimistisch gewendet: Die
Selbstbehauptung der deutschen Universität; Das Rektorat 1933/43, (SU)
Frankfurt am Main 1983, S. 25.
24
Neben dem bereits erwähnten Briefwechsel mit Elisabeth
Blochmann ist für diese Jahre auch der kürzlich veröffentlichte Briefwechsel
mit Heideggers Lehrer Rickert wichtig: Martin Heidegger/Heinrich Rickert:
Briefe 1912 bis 1933 und andere Dokumente. Aus den Nachlässen hrsg. von
Alfred Denker, Frankfurt am Main 2002. Man kann sich mit ein bisschen
Einbildungskraft leicht ausmalen, dass der Krieg in den Hörsälen auf eine
unübersehbare Weise präsent war: durch das große Sterben unter jungen Kollegen,
durch das Ausbleiben der männlichen Studentenschaft und die für damalige Zeit
auffallende Präsenz vieler jungen Frauen. So schreibt Rickert 1915: »2/3 der
Hörerschaft ist weiblich, … Aber es ist doch sehr angenehm, vor vollem
Auditorium zu lesen, und an Fleiß lassen es die Mädchen nicht fehlen.« (S.
26-27) Einen besonderen Typus stellten die jungen Kriegsversehrten, die
womöglich bei der männlichen Hörerschaft überwogen. Ein Beispiel dafür ist auch
Karl Löwith, der nach schwerer Verwundung und Kriegsgefangenschaft zum ersten
Schüler Heideggers in Freiburg wurde.
25
Am 3.11.1914 schreibt er an Heinrich Rickert: »… So sehr man
sich bei Kriegsausbruch mit aller Philosophie unnütz vorkam, so tiefbedeutsam
wird sie in der Zukunft werden müssen, eine Kulturphilosophie und das System
der Werte zuallererst.« (S. 20)
26
Seine frühen Interessen galten besonders der Mathematik und
Physik, Fächern, mit denen er sein Studium zunächst anfing. Nicht nur war er
bewandert in der damals neuesten Naturforschung, sondern unterstrich deren
Bedeutung mit einem Hinweis auf Einsteins Relativitätstheorie in Sein und
Zeit, also in Bezug auf die Seinsfrage und deren Exposition bzw.
methodischer Absicherung (S. 9). Vgl. »Der Zeitbegriff in der
Geschichtswissenschaft« (Probevorlesung 1915, erstveröff. 1916), wo Heidegger
sich mit Schriften Max Plancks und Albert Einsteins auseinander setzt (S. 420;
423), GA, Bd. 1 (Frühe Schriften), 1978. Heideggers kritische Haltung
gegenüber der modernen Naturwissenschaft und der Technik hatte daher nicht
ihren Grund etwa darin, dass er davon ›keine Ahnung‹ gehabt hätte; vielmehr war
er in mathematischen Methoden der modernen Physik sehr wohl bewandert;
habilitierte sich doch Oscar Becker bei ihm mit einem Thema über Fragen der
Mathematik! Auch Edmund Husserl war ursprünglich Naturwissenschaftler und seine
spätere philosophische Kritik an dem Objektivitätsprinzip der modernen
Naturwissenschaft kam nicht aus ahnungsloser Gedankenspielerei.
27
Die FR hat zum 90. Jahrestag des Beginns des Ersten
Weltkriegs im vergangenen Sommer ein »Dossier« (vgl. FR im Internet)
zusammengestellt, das für die erste Orientierung von großem Wert ist; man
findet dort ausgezeichnete Beiträge namhafter Historiker wie Wolfgang Mommsen,
Hans Ulrich Wehler u. a.
28
Unmittelbare Erschütterung gehörte auch dazu, insbesondere
als bekannt wurde, dass der begabte junge Philosoph und Rickert-Schüler Emil
Lask, den Heidegger als eine Art Vorbild betrachtete (»meine Laskschwärmerei«),
1915 in Galizien gefallen war: »Nun reißt es aber schwere Lücken in die ›badische‹
Philosophenschule«, heißt es in dem Brief an Rickert.
29
GA, II. Abt.: Vorlesungen 1919–1944, Bd. 36/37 , Frankfurt am Main
2001, hrsg. v. Hartmut Tietjen, S. 6. Da heißt es: »das deutsche Volk im Ganzen
kommt zu sich selbst, d. h. findet seine Führung« (S. 3).
30
SU, S.14. Vgl. Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich,
Paderborn 1995.
31
Dieter Thomä will uns das glauben machen (»Heidegger und der
Nationalsozialismus«, a. a. O., S. 141–162). Er gibt zu, dass »die Beurteilung
von Heideggers NS-Engagement« ... »die Bestimmung des Nationalsozialismus
selbst« voraussetze, diese aber »offene Flanke in der Darstellung« bleibe; aus
allem, was er über die NS-Zeit weiß und nicht weiß, proklamiert er die
NS-Ideologie zu einem »Syndrom« mit der bequemen Folge, dass er dann keine
Kriterien braucht, um Äußerungen und Positionen Heideggers zu
»Überschneidungen« mit diesem zu erklären: es wäre »eine fast absurde
Unternehmung«, im »eklektizistischen Charakter« der NS-Ideologie Kategorien
festzumachen, an denen »sich etwa Heideggers Texte wie bei einem Lackmus-Test
prüfen lassen könnten« (146–147). So macht man sich den Weg frei für den ultimativen
»Hinweis darauf…, daß er seinerzeit, vom Innersten seines
philosophischen Werkes kommend [sic!], ins NS-Syndrom passte«. (Kursiv D. M.)
Schachmatt! Wäre es nicht nahe liegend, wenn man vom eklektischen Charakter des
Nationalsozialismus ausgeht, zu folgern, dass dieser alle möglichen
Überschneidungen zulässt, sogar solche mit dem modernen Sozialstaat, wie Götz
Aly mit seiner gründlichen historischen Forschung zeigt? Bloß dann würde dieser
Ansatz schwerlich »Beweiskraft« ausgerechnet für »Überschneidungen« mit dem
»Innersten« des heideggerschen Werks liefern können.
32
»Die Grundfrage der Philosophie« (SS 1933), GA, Bd.
36/37, S. 80.
33
Damit nimmt er erneut die Frage vom Wesen der Wahrheit
ausgehend von Platon wie schon im Wintersemester 1931/32 (vgl. Bd. 33/34 der GA)
in Angriff. Die Vorlesung aus 1933/34 ist im Band 36/37 der GA unter dem
Titel »Sein und Wahrheit« zusammen mit der schon erwähnten aus dem
Sommersemester erschienen. Die Abhandlung »Platons Lehre von der Wahrheit«
veröffentlichte Heidegger zum ersten Mal 1942 in dem von Ernesto Grassi
herausgegebenen Jahrbuch Geistige Überlieferung (2), S. 96–124.
34
»Der Marxismus kann daher nur dann endgültig erledigt
werden, wenn wir uns zuvor mit der Ideenlehre und ihrer zweijahrtausend langen
Geschichte auseinandersetzen«, S. 151.
35
GA, Band 36/37, S. 148.
36
Seit 1934/35 geht Heidegger diesen Weg anhand seiner
Auseinandersetzungen mit einerseits Hölderlins Dichtung und Nietzsches Werk
beziehungsweise dem »europäischen Nihilismus«, wobei vor allem die
Auseinandersetzung mit Nietzsche ausgeprägte Phasen und unterschiedliche
Zielsetzungen hatte.
37
Ebd., S. 141.
38
Ebd., S. 161.
39
Weitere Angaben zu Erwin Guido Kolbenheyer im Apparat des
Herausgebers, GA 36/37, S. 209.
40
Ebd., S. 210; wichtig sei »… daß diese Darwinistische
Lebenslehre nicht etwas Absolutes ist« und nicht einmal »… biologisch,
sondern geschichtlich geistig bestimmt ist von der liberalen Auffassung
des Menschen und der menschlichen Gesellschaft, wie sie im englischen
Positivismus im 19. Jahrhundert herrschte«.
41
Ebd., S. 212.
42
Vgl. S. 212–213. »Evolution – gewiß! Entfaltung, Festigung
und radikal fragende Bindung = Klärung der revolutionären Wirklichkeit. – Aber
nicht: Revolution als eine erledigte Sache und nachher Entwicklung dessen, was
die sogenannten Geistigen dazu meinen. … Entscheidend aber bleibt, die
geschichtlich-politische Wirklichkeit so radikal mit ausgestalten helfen … dass
die neuen Notwendigkeiten des Seins unverfälscht zur Auswirkung und Gestaltung
kommen.«
43
Die Fantasien über Führer wie Stalin und Hitler gehören auch
dazu; von Joachim Fest wird überliefert, dass zu Hannah Arendts Ohren ein
Gerücht kam, wie »… in Todtnauberg tiefsinnige Gespräche über Hitlers
historischen Auftrag« geführt worden wären; Joachim Fest, Spiegel Nr.
38, 13.9.04, S. 146, Auszug aus: »Begegnungen. Über nahe und ferne Freunde«
unter dem Titel »Das Mädchen aus der Fremde«.
44
WS 1934/35, GA, Bd.
39, S. 294
45
SU (1983), S. 23.
46
So Hugo Ott aber auch andere Autoren, wie beispielsweise die
Verfasserin eines Artikels zu Heideggers Hölderlin-Auslegung, Kathleen Wright,
in: Thomä (2003), S. 213–230.
47
George Leaman, a. a. O., S. 124.
48
A. a. O., S. 149.
49
Dieser Ansatz kann auch seine positive Kehrseite haben; mir
scheint sich von da aus ein in der Tat neuer und konstruktiver Weg in
Heideggers Denken der Sprache entfaltet zu haben.
50
Kritische Bemerkungen allgemeiner Art finden sich in älteren
Untersuchungen, so bei K. O. Apel in seinem Hauptwerk Transformation der
Philosophie (2 Bde., Frankfurt am Main 1973), und zwar oft ausgehend von
den sporadischen Bemerkungen aus Sein und Zeit; Ernst Tugendhat: Der
Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1967.
51
GA, Bd. 38 (»Logik als die Frage nach dem Wesen der
Sprache«, SS 1934) Frankfurt am Main 1998, S. 172.
52
Ich nenne in diesem Zusammenhang einen interessanten Titel,
der mir aber noch nicht zur Verfügung stand: Claudius Heitz: Volksmission
und badischer Katholizismus im 19. Jahrhundert, Freiburg (Karl Alber
Verlag) Herbst 2004. Zu beachten ist, dass man historische Bezüge – will man
der Sache gerecht werden – nicht unmittelbar herstellen soll. So will Heidegger
seine »Auseinandersetzung mit dem Christentum« als »Wahrung der eigensten
Herkunft« und »schmerzliche Ablösung davon in einem« verstanden wissen.
Etwas pathetisch fragt er ferner: »Wer nicht wahrhaft verwurzelt war und
zugleich vom Fragen gestoßen wurde, wie mag der die Entwurzelung wirklich
erfahren?« In: »Ein Rückblick auf den Weg« (geschrieben 1937/38), Besinnung, GA
III. Bd. 66, Frankfurt am Main 1997, S. 415 u. S. 416.
53
Bd. 65 (»Beiträge«), S. 99; ganz klar verwirft er die
»totalen« Weltanschauungen, die (statt Gott) das Volk selbst als »Ziel und
Zweck aller Geschichte« ansetzen; ebd., S. 24, 40.
54
Eine äußerst wichtige Komponente in Heideggers
geschichtlichem Volksdenken hat Theodore Kisiel in dem Generationsbegriff
ausfindig gemacht, der sich tatsächlich mit einer gewissen Kontinuität – unter
Abwandlungen – durch Heideggers Denken hindurchzieht: »Der soziologische
Komplex der Geschichtlichkeit des Daseins: Volk, Gemeinschaft, Generation«, in:
Johannes Weiß (Hrsg.), S. 85–104.
55
Einen solchen Bezug habe ich bereits in meiner Untersuchung
über Heideggers Metaphysikkritik bei aller Vorsicht angesprochen: Heideggers
Kritik der Metaphysik und das Problem der Ontologie, Würzburg 1986.
56
SU, S. 13.
57
In einer klassischen englischen Übersetzung heißt es übrigens:
»… is precarious«.
58
In der Schelling-Vorlesung von 1941 wird das Scheitern in
einer Art heroischer Dialektik geradezu umschwärmt: »…dieses zweimalige große
Scheitern großer Denker ist kein Versagen und nichts Negatives. Im Gegenteil.
Das ist Anzeichen des Heraufkommens eines ganz Anderen, das Wetterleuchten
eines neuen Anfangs. Wer den Grund dieses Scheiterns wahrhaft wüßte … müßte zum
Gründer des neuen Anfangs der abendländischen Philosophie werden«. (»Die
Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling«) GA,
Bd. 49 1991, S. 4. Hierzu gehören zwei weitere Veröffentlichungen; »Schellings
Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809)« wurde noch zu
Heideggers Lebzeiten von Hildegard Feick herausgegeben (Tübingen 1971²) und
enthält Heideggers Aufzeichnungen zu Vorlesungen aus 1936 und ausgewählte
Stücke aus 1941. Im Band 42 ist die Vorlesung aus dem Sommersemester 1936
veröffentlicht worden. Eingehend beschäftigt sich Heidegger mit eigenem
»Scheitern« und erklärt, warum er nur den 1. Teil von Sein und Zeit
veröffentlichte. Es heißt u. a.: »[…]der dritte Abschnitt des 1. Teils Zeit
und Sein erwies sich während der Drucklegung als unzureichend […], daß die
bis dahin erreichte Ausarbeitung dieses wichtigsten Abschnittes (I, 3)
unverständlich bleiben müsse. […] Allerdings war ich damals der Meinung, übers
Jahr schon alles deutlicher sagen zu können. Das war eine Täuschung.« Bd. 49, S. 39–40.
59
In: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1976², S.
61<|>ff.
60
ZSD, S. 63; vgl. Heideggers These vom Ende der
Philosophie, hrsgg. von Fresco/van Dijk/Vijgeboom, Bonn 1989.
61
Fast unzählige Ausgaben dieser Abhandlung gibt es; eine der
letzten in Wegmarken 1978, S. 441; als Einzelveröffentlichung: Frankfurt
am Main 1963, S. 6. In späteren Seminaren mit vornehmlich französischen
Beteiligten kommt Heidegger immer wieder auf diese Grundthese Marxens zu
sprechen. Vgl. Vier Seminare (Le Thor 1966, 1968, 1969; Zähringen 1973),
Frankfurt am Main 1977.
Kasten
Tragisches Versäumnis
Nach überaus fleißiger Suche
zahlreicher Heidegger-Kritiker nach »eindeutigen« Stellen fanden sich in seinen
Reden, Gutachten, patriotischen und sonstigen mobilisierenden Ansprachen und
ähnlichen Texten während seiner Amtszeit als Rektor einige Belege, oder wie D.
Thomä schreibt, »einzelne Hinweise« (S. 149), für die Anpassung zur damals gängigen
diskriminierenden Sprache; etwa eine (privat geäußerte?) Warnung vor der
»Verjudung« des deutschen Geistes (ebenda). Was man auch fand, kann eigentlich
im Vergleich in die Kategorie der harmlosesten antisemitischen Äußerungen sogar
eines Thomas Mann (Betrachtungen eines Unpolitischen) eingestuft werden.
Schlimm genug, wird man sagen. Ja, aber im gegebenen historischen Kontext fast
vernachlässigbar. Dieser Hinweis zielt aber nicht auf einen Vergleich, sondern
auf die falsche Art solcher vorsätzlichen Methoden. Historisch-kritische
Interpretationen bestimmter Aussagen in Zeitdokumenten berücksichtigen in der
Regel deren funktionalen und performativen Zusammenhang, und zwar unabhängig
von der Person, die Gegenstand der Forschung ist. Auch wer über Hitler forscht,
hält sich an Fakten und kritische Methoden der Einordnung im Kontext,
Einschätzung durch Vergleiche und so fort, soweit es sich um seriöse Historiker
handelt.
Setzt man das, was man
nunmehr darüber gesichert weiß, in den historischen Kontext, so kann man
feststellen: Während antisemitische Äußerungen bei Heideggers Zeitgenossen und
unter Kollegen zumeist die Regel waren, müssen sie bei ihm eher als Ausnahme
betrachtet werden. Sie finden sich in keiner seiner öffentlichen Reden,
Vorträge, Vorlesungen und natürlich auch in seiner Antrittsrede als Rektor
nicht.(1) Theodore Kisiel betont, Heidegger habe das Wort »Rasse« systematisch
gemieden.(2)
Würde sich denn jemand, der
wirklich antisemitisch eingestellt ist, darüber entrüsten, dass man ihn des
Antisemitismus bezichtigt? Doch rechtfertigt sich Heidegger vehement Hannah
Arendt gegenüber um den Winter 1932/1933 gegen »Gerüchte« und »Verleumdungen«.
Er klärt eingehend sein Verhältnis zu Juden (die »persönlichen Beziehungen zu
Juden« und »erst recht … das Verhältnis zu Dir« stünden für ihn sowieso auf
einem anderen Blatt) und zeigt sich empört über die üble Nachrede seines
angeblichen »enragierten Antisemitismus«.(3) Außerdem: er setzt sich zur Wehr,
obwohl er das gar nicht nötig hatte – er hätte den Brief von Hannah Arendt, in
welchem solche Anschuldigungen gestanden haben mussten, vollkommen ignorieren
können. Wie viele Menschen oder auch nur Universitätsprofessoren konnte es 1933
drängen, sich gegen Vorwürfe des Antisemitismus zur Wehr zu setzen? Vorwürfe,
die darüber hinaus von einer jungen jüdischen Studentin erhoben wurden! Im
damaligen Deutschland wird das wohl nicht ganz üblich gewesen sein. Und auch
heute wird das kein verbreiteter Brauch unter Männern auf hohen und höchsten
Posten sein, ehemaligen Geliebten, die eigentlich vogelfrei und vollkommen
machtlos sind, lange Rechtfertigungsbriefe – worüber auch immer – zu schreiben.
Wer aus »einzelnen
Hinweisen« einen großen Fall fabrizieren will, übersieht das Allernächste. So
zum Beispiel das unbezweifelbare Fakt, dass Heidegger die Verfolgung der Juden
als Gruppe ignorierte. In solchem Hinwegschauen übten sich die meisten Zeitgenossen.
Liegt darin der Grund, dass die Kritiker etwas »Handfesteres« bei Heidegger
(aus)finden wollen als das, was auch alle anderen machten, womöglich auch der
eigene Papa oder Opa? Das Versäumnis, hinzuschauen, wahrzunehmen, stellt
freilich keine Straftat dar. Wie man das einschätzt, hängt folglich auch vom
eigenen moralischen System ab. In meinem Wertesystem – das womöglich als sehr
streng gelten kann – handelt es sich um verwerfliche kollektiv begangene
Handlungen, die durch nichts zu entschuldigen sind. Der »sehr kleine Fall«
Heidegger ist schlimm genug. Letztendlich aber »verewigt« sich sein
Fehlverhalten, den Völkermord an den Juden an sich spurlos vorübergehen
gelassen zu haben, durch die hohe Bleibequalität seines Denkwerkes. Wann immer,
wer immer sich mit diesem künftig beschäftigen wird, wird sich unweigerlich
auch fragen, wie es denn möglich war, dass dieser große Denker dem von
Deutschen begangenen Genozid keine Beachtung schenkte. So gesehen, haftet dem
Versäumnis Heideggers auch etwas Tragisches an.
Dunja Melcic
1
Vgl. Helmut Heiber: Universität unterm Hakenkreuz,
München 1991. Diese bis dato umfangreichste und penibel recherchierte Studie
zeigt, dass Heideggers Rolle als Rektor im Sinne der Gleichschaltung der
Hochschule im Vergleich marginal war.
2
In: Johannes Weiß (Hrsg.), 2001.
3
Briefwechsel, a.<|>a.<|>O., S.
68–69. Woher diese Verdächtigungen rührten, lässt sich anhand dieses Dokuments
nicht klären. Karl Löwith arbeitete ebenfalls emsig mit Verdächtigungen in
seiner Streitschrift Heidegger. Denker in dürftiger Zeit (1953) und in
der erwähnten Autobiographie. Doch sie gehören zu dem Komplex dieses
spannungsreichen Verhältnisses zwischen den beiden Männern und haben für sich
genommen kaum Informationswert.