Russische Männer – prall
von Traditionen und für die Zukunft schlecht gerüstet
Der »Untergang des
Vaters« ist ein Schlüsselbild im Essay unserer Autorin. Schon in einer sich
modernisierenden Gesellschaft haben der Wandel und die teilweise Auflösung der
Familie tief greifende Folgen auch für die Rolle des Mannes. In einer
Gesellschaft wie der russischen, in der der Neuanfang misslungen ist und die
Vergangenheit voll schlechter Vorbilder steckt, kann sich eine
Entwicklungsbarriere perpetuieren, wenn eine gewisse Machtvorstellung nicht
überwunden wird.
Einen schlimmeren Ruf als
den des russisch-sowjetischen Mannes kann man kaum noch haben: schlecht
bezahlt, alkoholisiert, faul, unrasiert – und zugleich ein Pascha, der sich von
den Frauen bedienen lässt. In der russischen Bevölkerungsstruktur sind die
Männer mit 47 Prozent deutlich in der Minderheit, obwohl heute diese
demographische Asymmetrie nicht mehr so drastisch wie in der Nachkriegszeit
ausgeprägt ist. Ihre Ursprünge liegen im Bürgerkrieg 1918–1922 und im
stalinistischen Terror der Dreißigerjahre, als die Männer die bevorzugten Opfer
waren. Die Folgen des zweiten Weltkrieges kann man als eine demographische
Tragödie bezeichnen: 1959 betrug das statistische Verhältnis der beiden
Geschlechter in der Altersgruppe zwischen 35 und 40 Jahre: 642 Männer auf 1000
Frauen. In der Altersgruppe zwischen 40 und 45 Jahre waren es gar nur 623
Männer auf 1000 Frauen.(1) Wenn man zahlreiche Invalide, Alkoholabhängige und
Gefängnisinsassen aus diesen Zahlen abzieht, dann kann man grob einschätzen,
dass in der Nachkriegszeit gut die Hälfte der russischen Frauen keine Chance
auf einen Lebensgefährten hatte. Durch die geschlechtsspezifischen Berufe wie
Militär, durch Projekte wie Industrialisierung und Neulanderschließung wurden
viele Männer »aus dem Verkehr gezogen« und in ihren »Männergettos« gefangen
gehalten. Aber ihren Höhepunkt hat die Männersterblichkeit in den
Neunzigerjahren erreicht, da »starben 3,5 Millionen Männer, von denen fast
jeder Dritte im arbeitsfähigen Alter war. In den Altersgruppen der Männer
zwischen 20 und 64 lagen die Sterberaten 2001 um mindestens 40 Prozent höher
als ein Jahrzehnt zuvor, bei den Männern zwischen 45 und 54 Jahren sogar um 60
Prozent, und bei den Frauen zwischen 20 und 59 um 30 Prozent höher als
1970.«(2) Heute kann man sich freuen: Die durchschnittliche männliche
Lebenserwartung hat sich auf 60 Jahre erhöht. Der Tiefpunkt lag 1994 bei 56 bis
57 Jahren. Eine Frau hier zu Lande hat die Chance circa 13 Jahre länger als ein
Mann am Leben zu bleiben. Kein Wunder, dass die Vorstellung vom Mann als einer
»Mangelware«, um die man kämpfen muss, in der Erfahrung vieler Generationen
russischer Frauen tief verwurzelt ist. Ihre angebliche Bereitschaft, sich gehorsam
und traditionstreu zu präsentieren, ist nichts anderes als weibliche
Kampftaktik in einer harten Konkurrenz um einen Mann.
Der Weltöffentlichkeit
stehen einige krasse Bilder der männlichen politischen Elite Russlands vor
Augen: Chruschtschow am Rednerpult der UNO-Vollversammlung mit seinem Schuh in
der Hand; »Bruderkuss« zwischen Breschnew und Honecker; ein zügelloser »Demokrat«
Jelzin dirigiert ein Orchester, stolpert auf dem roten Teppich, verschläft,
blau wie eine Frostbeule, ein diplomatisches Treffen in Shannon. Und last, but
not least Wladimir Putin, der mit bleiernem Gesicht und mit Hand auf dem Herz
für die »neue« altsowjetische Hymne stramm steht.
Dazu die Gegenbilder:
kämpferische Intellektuelle, Dissidenten, Märtyrer, die für die Befreiung des
Volkes heldenhaft durch Straflager und Psychiatrieanstalten, durch Asyl und
Verbannung gegangen sind. Das asketische Konterfei von Alexander Solschenizyn,
das prophetische Gesicht von Lew Kopelew, die traurigen und zugleich
unbeugsamen Augen Sergei Kowaljows, des Putin-Kritikers. Sind vielleicht diese
Männer die Hoffnungsträger? Immerhin ist der gängige Trinkspruch der
sowjetischen Dissidenten: »Auf den Erfolg unserer hoffnungslosen Mission!«
gegen alle Erwartungen der Trinkenden in Erfüllung gegangen ...
Wenn es um Trinken geht,
dann sind wir erst richtig beim Thema.(3) Die Trunksucht russischer Männer ist
beinahe zu ihrem Markenzeichen geworden. Hier ist man auf die eigene
Trinkfestigkeit stolz. Man fühlt sich dank dieser Fähigkeit den anderen
Nationen überlegen. Es gilt als eine Art Volksweisheit, dass ein Mann ohne zu
trinken seine Identität und seine Seele nicht bewahren kann. Wie ist diese
merkwürdige Überzeugung zu Stande gekommen? Es gibt keine eindeutige Antwort,
obwohl als Grund oft die Tradition, soziale Unfreiheit und das harte russische
Klima genannt werden. Auch getrunken wird im harten Stil: Schwerer Alkohol, der
begehrte Wodka, glas-, flaschen- und literweise, zu jeder Tageszeit und zu
jedem Essen. Der Tag soll schon in aller Frühe mit einem Gläschen Wodka
anfangen – zur Ernüchterung nach dem Gelage vom Vorabend. Die Tradition
schreibt vor, dass zum Frühstück dem leidenden Mann von seiner verständnisvollen
Ehefrau das erste Gläschen als »Medizin« serviert wird.
2002 sind in Russland 40121
Menschen an Alkoholvergiftung gestorben, das sind 28 auf 100000. Nach
verschiedenen Einschätzungen liegt der Alkoholkonsum im Durchschnitt bei 11 bis
14 Liter pro Kopf, wobei nach WHO-Standard schon 8 Liter pro Kopf als
gefährlich gelten. 40 Prozent des gesamten Alkoholumsatzes fallen auf illegalen
Umsatz. Es gibt in Russland 2,207 Millionen offiziell registrierte
Alkoholkranke; das Verhältnis zwischen den Geschlechtern: eine Frau auf sechs
Männer.(4)
In jeder Kultur ist die
Vaterfigur ein wichtiges Element in der symbolischen Weltordnung, sie
beeinflusst entscheidend alle Vorstellungen vom (persönlichen) Gott, so Jaques
Lacan. In Russland wurden im zwanzigsten Jahrhundert die symbolträchtigen,
identitätsstiftenden Figuren vom Väterchen Tzar, Lenin, Väterchen Stalin und
allen nachfolgenden kommunistischen Führern konsequent demontiert. Die Religion
wurde als Staatsideologie durch Atheismus ersetzt. Die Vaterfigur hat sich dann
quasi aufgelöst. Die postsowjetische Kultur sinnierte über diesen Tatbestand in
vielfältigen künstlerischen Experimenten. In den multimedialen
Kunstinstallationen war in den Neunzigerjahren ein Sujet besonders populär: ein
virtueller »Familienvater«. Auf diese Gestalt wurden alle
Wunschvorstellungen einer vaterlosen Gesellschaft projiziert. Die Künstlerin
Olga Toberluts hat eine ganze Reihe von Bildern entworfen, die unter dem
Obertitel «Familienvater« gefasst sind. Eigentlich sind diese Bilder alte
Männerfotos aus den Dreißiger- bis Sechzigerjahren, die sie mit dem Computer
vergrößert, bemalt und verfremdet hat. Der nächste Schritt – die mit Computer
frei hergestellten Vaterimages, die nicht mal Fotos als Vorlage haben: Der
nicht vorhandene Vater wird im Bereich des Irrealen angesiedelt, wo man ihn
nach dem Prinzip do it yourself beliebig formen, replizieren und
manipulieren kann wie etwa einen Tamagochi oder eine männliche Barbie-Puppe.
Eigentlich ist die
Vaterlosigkeit keinesfalls ein speziell russisches Problem. In der westlichen
Gesellschaft ist sie auf einem anderen Wege und in einem anderen sozialen Kontext
entstanden: im Zuge der Moderne, einer erfolgreichen wirtschaftlichen und politischen
Entwicklung und der Emanzipation der Geschlechter, ohne Krieg, Terror und Armut.
Das lässt für die weniger modernen Gesellschaften wie Russland keine Hoffnung
auf die Wiederherstellung einer »Normalität« – der Westen zeigt, dass es kein
Zurück zu einer intakten Familie gibt.
Drei neueste russische Filme
haben die Krise der Vaterrolle in einem extrem tragischen Lichte in den
Mittelpunkt gestellt: Vater und Sohn (2004) von Alexander Sokurov, Die
Rückkehr (2003) von Andrej Zwjaginzew und Gesegnet sei die Frau
(2003) von Stanislaw Goworuchin.
In der Zeit erntet
Sokurov für Vater und Sohn hohes Lob: »… das Kino sollte Gott auf Knien
danken, dafür, dass es einen wie Alexander Sokurov gibt«.(5) Im Film handelt es
sich um Vater und Sohn, die in einer südlichen Stadt eine kleine Dachwohnung
zusammen bewohnen. Alle Männlichkeitsklischees werden dabei über Bord geworfen:
Die Protagonisten, beide in militärischer Berufsbahn, erscheinen extrem
sensibel und verletzbar – dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die
Männer oft nackt agieren; ihre gegenseitige Liebe scheut keinesfalls körperliche
Nähe und Zärtlichkeit. Der erwachsene Sohn, Kadett an einer Militärschule,
rettet sich in die Arme seines Vaters vor bösen Albträumen. Zwischen Vater und
Sohn wird mehrmals ein rätselhafter, auf das Evangelium bezogener Satz
ausgetauscht: »Die Liebe des Vaters kreuzigt, die Liebe des Sohnes wird
gekreuzigt«.
Der zweite Film, Die
Rückkehr, ist in jeder Hinsicht die Sensation des Jahres 2003. Für
Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann und alle drei Hauptdarsteller ist es ein
Debüt. Die erzählte Story ist die biblische Parabel »des verlorenen Sohnes«,
die hier auf den Vater übertragen wird: Nach zehn Jahren Abwesenheit kehrt er
in die Familie zurück, nimmt seine beiden Söhne auf die Reise mit und versucht,
sie im eigenen Sinne zu Männern zu erziehen. Der aus dem Nichts aufgetauchte
Vater schlägt seine Söhne, bestraft sie, spielt mit ihnen Mutproben. Der Zusammenstoß
von Charakteren unterwegs und auf einer geheimnisvollen Insel, wo der Vater
einen Schatz hebt, führt zum tragischen Finale. Der Vater kommt ums Leben, und
seine Leiche versinkt im See samt seinem Schatz, den er offensichtlich an die
Söhne weiterreichen wollte. Ist in diesem Film nicht der Sohn, sondern der
Vater der Gekreuzigte? Leben wir in einer Zeit, in der nicht mehr die Söhne
(Isaaks), sondern die Väter, die Patriarchen, auf den Opferaltar geschickt werden?
Das bestätigt der dritte
Film, Gesegnet sei die Frau vom politisch engagierten Stanislaw
Goworuchin. Er erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens, das in den
Dreißigerjahren einen Offizier heiratet und mit ihm alle Katastrophen, Wirren
und Nöte des Terrors, des Krieges und der Nachkriegszeit teilt. Der Regisseur
bewundert ihre Treue, ihre Kraft und Selbstlosigkeit; der männliche Protagonist
verkörpert eine typische sowjetische Antinomie: Er ist ein Revolutionär in
seinen politischen Ansichten und ein Erzkonservativer im privaten Leben. Als
Offizier verliert er alle Kämpfe, gerät sogar in deutsche Gefangenschaft. Durch
diese »Schande« ist seine Person in Grund und Boden zerstört. Noch schlimmer
ist, dass er sich als brutaler und gefühlloser Vater entpuppt. Den Sohn aus der
ersten Ehe verleugnet er und schickt ihn weg aufs Internat. Er vergisst ihn für
immer, als ob er nie existiert hat. Als seine junge Frau schwanger wird, zwingt
er sie zur Abtreibung unter dem Vorwand, die Zeit sei zum Kinderkriegen nicht
gut. Dieser exemplarische Patriarch zieht sich aus der Vaterrolle zurück. Noch
bevor er alt wird, stirbt er an einem Herzleiden, ohne Nachkommen zu
hinterlassen. Russisches Modell: Ein vaterloses Patriarchat?
Als Inbegriff des russischen
Mannes dienten schon in der klassischen russischen Literatur des vorigen
Jahrhunderts zwei Bezeichnungen: entweder »der überflüssige Mensch« oder »der
kleine Mensch«. Der Erste symbolisierte einen gebildeten und wohlhabenden
Aristokraten wie Onegin, Petschorin, Oblomow(6), der für sich keine Verwendung
findet, der Zweite – einen kleinen Beamten, dessen Menschenwürde von der
Obrigkeit mit Füßen getreten wird. Die bekannteste dieser Figuren ist Akakij
Akakievitsch Baschmatschkin aus Gogols Novelle Der Mantel. Die russische
Frau konnte auch negativ dargestellt werden, zum Beispiel als eine Egoistin,
eine Lügnerin, eine Unmoralische oder eine Rücksichtslose. Doch war kein
einziger Kunstschaffender je auf die Idee gekommen, eine russische Frau als
eine »kleine« oder »überflüssige« darzustellen. Diese Definition war immer dem
Mann vorbehalten.
Ein Zeitgenosse, Viktor
Jerofejew, amüsiert sich über die Natur des russischen Mannes in
einem bissigen Essay: »Das Geheimnis des Russen besteht darin, dass er einen
Riss hat. Oder ein Loch. Oder ein Leck, um einen Begriff aus der Seefahrt zu
verwenden. Jedenfalls hat er mit Sicherheit nichts Hermetisches. Wo ein Riss
ist, da ist auch Gespaltenheit, Zerschlagenheit und Entleertheit. … Mit einem
Riss kann man unmöglich normal leben. Mit einem Riss kann man nicht fleißig
arbeiten, sich über den Alltag Gedanken machen, sich eine glückliche Familie
anschaffen und Seidenkrawatten kaufen. Mit einem Riss baut man keine Strasse
ohne Löcher und wird nicht Apotheker … Durch den Riss beobachtet die russische
Seele unmittelbar, ohne das banale menschliche Sehvermögen zu Hilfe zu nehmen,
die Welt und kommuniziert direkt mit dem Gott … Durch den Riss entschwindet die
ganze Lebensenergie. In den Riss dringt der ganze Müll der Welt ein«.(7)
Ein seltsames Bild ergibt
sich aus der russischen Literatur: Der Mann ist entweder »klein« oder
»überflüssig«, dabei ständig alkoholisiert, hat immer einen »Riss«. Die Frau
ist das Gegenteil – eine Heldin, eine Heilige und selbst als Prostituierte ein
Schutzengel und eine Retterin (Sonja Marmeladova in Schuld und Sühne von
Dostojewskij, Katja Maslova in Auferstehung von Leo Tolstoj). Die Frauen
holen die Kinder aus dem brennenden Haus, greifen einem durchgegangenen Pferd
in die Zügel, folgen ihren verurteilten Männern in die Verbannung, steigen für
die Befreiung des Volkes aufs Schafott. Der russische Mann dagegen – ein ewiger
Taugenichts. Was auch immer er versucht, er scheitert: als Geschäftsmann, als
Soldat, als Politiker, als Ehemann und als Vater.
Die russischen Frauen lehnen
den westlichen Feminismus in jeder Hinsicht ab – als Weltanschauung, als
politische Strategie und als Zukunftsprojekt. Der Grund dafür ist die schlichte
Tatsache, dass die Frauenbewegung im Westen einen völlig anderen Mann als in
Russland im Visier hat. Der westliche Mann ist vergleichsweise selbstbewusst,
erfolgreich und frei. Er beherrscht das Leben, die Familie und die Frau. Er
braucht weder Erlösung noch Mitleid. In Russland sind beide Geschlechter
historisch gesehen die Opfer der Obrigkeit. Die russische Frau findet sich
ständig in einem zweiseitigen Konflikt, anders als ihre westliche Schwester,
die es immer mit einem Mann und nicht unbedingt mit einem Staat zu tun hat. Durch
die erste Phase der Emanzipation muss die russische Frau zusammen mit dem Mann
gehen, erst danach kann sie sich nun ausschließlich mit dem Problem des
männlichen Chauvinismus konfrontieren.
Wieso hat die schwere Heimat
Russland ausgerechnet dem Mann dermaßen zugesetzt? Warum haben die Frauen die
Rolle der Stärkeren auf sich genommen? Wie entsteht die bizarre Kombination aus
Macht und Schwäche bei den russischen Männern?
Die Erziehung im heutigen
Russland verläuft in den althergebrachten sexistischen Bahnen: Den beiden
Geschlechtern werden in den Familien ihre geschlechtsspezifischen Rollen
beigebracht. Mit den russischen Erziehungsmethoden gelingt es nicht, die Menschen
mit Initiative, Aktivität und Selbstwertgefühl auszustatten – kein Wunder, weil
die Erzieher selbst über diese Qualitäten nicht verfügen. Im Grunde bleibt das
Menschenbild in den russischen Erziehungskonzepten irgendwo im vorletzten
Jahrhundert stecken: Die Jungs werden auf Stärke und Härte getrimmt (wie im
Film Die Rückkehr) und zugleich von starken Müttern überbehütet und
manipuliert. Die Eltern haben kein Vertrauen zur sozialen Umgebung und
versuchen, bewusst oder unbewusst, ihre Kinder vor der gefährlichen Außenwelt
zu schützen. Von klein an lernen die Kinder mit der allumfassenden Korruption
zu leben – zu Hause, im Alltag, in der Schule, später im Beruf und im sozialen
Umfeld. Ohne zu zögern schreiben die Eltern für ihre Kinder falsche Entschuldigungen,
die Ferien werden um eine Woche vor dem Schluss und um noch eine Woche nach dem
Schulanfang verlängert. Die Jungs muss man von der Einberufung retten, sie
werden entweder freigekauft oder versteckt. Manche Familien entscheiden sich
wegen ihrer heranwachsenden Söhne sogar zur Auswanderung. Familien, die ganz
»unten« sind, können es nicht verhindern, dass ihre Söhne eingezogen werden.
Man kann sich vorstellen, welche bürgerlichen »Tugenden« den jungen Leuten auf
diesem Weg mitgegeben werden.
Es gilt als normal, dass die
erwachsenen Kinder, auch nachdem sie heiraten, mit den Eltern weiter
zusammenleben. Schuld daran ist nicht ausschließlich die Wohnungsnot, sondern
eher die Tradition. Die festen familiären Bande haben eine schützende Funktion,
zugleich aber verhindern sie radikal, dass die neuen Generationen als selbstbewusste
Bürger in ihrer Eigenverantwortung und bei voller Entfaltung ihres innovativen
Potenzials in der Gesellschaft agieren. Die Familien sorgen weiterhin
massenhaft für einen Menschentyp, der für ein autoritäres System ideal geeignet
ist. In breiten Bevölkerungsschichten, einschließlich Intellektuellen und
Kunstschaffenden, gilt es als schick, die eigene politische Indifferenz zur
Schau zu stellen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich daran kaum
etwas geändert. Die kulturellen Mechanismen sind stärker als die politischen,
sie zeigen sich gegen alle Einflüsse resistent. Die neu errichteten
demokratischen Institutionen sind von vornherein ausgehöhlt, weil in dieser Gesellschaft
keine Demokraten vorhanden sind.
Das Besondere an der
russischen Gesellschaft ist ihre grundsätzliche Spaltung: Die Staatsmacht mit
ihrem Apparat (die Armee, die Beamten) und die Bevölkerung stehen immer
gegeneinander auf den beiden Seiten der Barrikade. Das Volk fügt sich der Obrigkeit,
aber es identifiziert sich nicht mit ihr. Die Männer werden schon bei der Wahl
ihrer Karriere mit einem schweren ethischen Dilemma konfrontiert: Die
Machtelite muss mit schlechtem Gewissen und mit Schuldgefühlen leben, die
Unterdrückten müssen mit der Armut und Minderwertigkeitskomplexen ringen. Der
Begriff »Karriere« ist in der russischen Sprache wie kaum ein anderer belastet,
beinahe ein Synonym für ein Verbrechen. In welche sozialen Rollen und Nischen
soll der Mann schlüpfen, um nicht gegen sein eigenes Gewissen handeln zu
müssen? Was bedeutet dann ein sozialer Erfolg? (Weiter unten einige Beispiele
für die möglichen Lebensoptionen, die den Männern in Russland offen bleiben.)
In der Sowjetunion stand an
der Spitze der Gesellschaft eine geschlossene soziale Gruppe der
Parteibürokratie, die ausschließlich aus Männern bestand: die kommunistische
Nomenklatur. In dieser rein männlichen Subkultur haben sich ritualisierte Verhaltensformen
herausgebildet, die homoerotisch erscheinen – zum Beispiel geschlossene
Saunakreise, die in einem Einparteisystem als Lobby wirkten; oder der besagte
»Bruderkuss«, mit dem sich die alten Männer vom Politbüro gegenseitig
begrüßten.(8)
Nehmen wir an, der Mann hat
es geschafft, ganz nach oben zu gelangen. War es dann eindeutig ein Erfolg? In
der offiziellen Perspektive schon, aber in einem gespaltenen Land mit stark
ausgeprägtem Doppeldenken wie in der späten Sowjetunion war sich die
Nomenklatur ihrer Sache nicht mehr sicher. Das Politbüro, das ZK, der KGB verkörperten
nach siebzig Jahren ihrer desaströsen Herrschaft etwas Schlimmeres als das
Böse: Sie waren out of fashion; ihre Zeit war vorbei; sie waren, anders
als Dissidenten, nicht mehr »sexy«. Die Angehörigen der offiziellen Machteliten
wurden am Ende der sowjetischen Epoche dermaßen verunsichert, dass sie in
manchen Fällen die moralische Rettung beim »Gegner« suchten: Um Eindruck zu
machen, prahlten sie in privaten Gesprächen, zusammen mit prominenten
Dissidenten Wodka getrunken zu haben, was übrigens nicht unbedingt erfunden
war.
Die Nomenklatur war keine
Bildungsschicht; die Intellektuellen haben die Machthabenden zu Lachfiguren
degradiert, ihre Art zu sprechen und sich zu benehmen lieferten Themen für die
Witzfolklore. Im postsowjetischen Russland wurde die moralische Autorität und
Glaubwürdigkeit der politischen Eliten noch viel schneller als in der kommunistischen
Sowjetunion verbraucht, der frische »Wind Of Change« der Achtzigerjahre verwandelte
sich mit Beginn des Reformprozesses zuerst in den kalten Wind des sozialen
Abbau und schnell danach in den stinkenden Wirbelsturm der Korruption und
autoritären Herrschaft.
Eine weitere Option für eine
typisch männliche Staatskarriere bietet das Militär. Vor der russischen
Armee braucht heute niemand mehr Angst zu haben. Diese Armee ist demoralisiert.
Russland ist heute eine zahnlose Supermacht ohne nationale und staatliche Idee,
die mit einem Bettelsack in der Welt herum geht; ihre Soldaten und Offiziere müssen
ohne jede glaubwürdige Begründung ihrer Mission leben, sie wissen nicht, worin
ihre Ehre und ihr Pflicht noch bestehen. Die Verhältnisse in der Armee liegen
irgendwo zwischen Gefängnis und Leibeigenschaft. Oft müssen die Soldaten für
die eigene Ernährung selbst aufkommen. So ernten sie auf dem Lande Weißkohl und
rote Beete, schuften wie Dienstboten in den Haushalten ihrer Offiziere, klauen
den Proviant in der Nachbarschaft und bringen sich gegenseitig mit Dienstwaffen
um. Außerdem leben sie in ständiger Angst, in Tschetschenien, in Zentralasien
oder gegen das eigene Volk eingesetzt zu werden. Der Sold wird oft monatelang
nicht ausgezahlt.
Das Fazit: Der Aufstieg in
die sowjetische und postsowjetische Elite konnte einem russischen Mann Geld und
Macht verschaffen, aber nicht den Respekt der Mitbürger und den Frieden mit dem
eigenen »Ich«.
»Zwischenschicht im
Überbau«: Intelligenzler
In der kommunistischen
Ideologie gab es für die Intellektuellen eine offiziell festgeschriebene
Definition: »Zwischenschicht«; angesiedelt wurde sie in einem »Überbau«,
außerhalb der tragenden sozialen Gesellschaftsstruktur, zu der Arbeiter und
Bauer zählten. Die Begriffe »Zwischenschicht« und »Überbau« bringen zum
Ausdruck, dass den Herrschenden diese Bevölkerungssparte ziemlich verdächtig
vorkam. Und das nicht ohne Grund. In Russland fühlt sich die Bildungsschicht
nur dann in ihrem eigenen Element, wenn sie der Obrigkeit die Stirn bietet.
Eine gute Karriere bedeutet für einen russischen Intelligenzler nicht, sich bis
zu einem erfolgreichen Rechtsanwalt oder Arzt durchzuarbeiten, sondern als
Prophet und Märtyrer für das Volk zu leiden. Die ideale Biografie eines
Intelligenzlers verzeichnet Verbote, Verfolgung, Verbannung, Gefängnis. Früh
schon ist er mit der Frage konfrontiert: »Soll ich mich verkaufen oder soll ich
mich opfern?« Die Vorstellung von einer höheren Mission liefert der
Intelligenzija ein einwandfreies Alibi für die Vernachlässigung ihrer
alltäglichen Pflichten; man kann das Leben in endlosen Diskussionen mit viel
Wodka verbringen mit der Begründung, aus Überzeugung mit dem System nicht
kollaborieren zu wollen oder gar gegen dieses System zu kämpfen. Dabei kommt
»Mann« weder zu Geld noch zu Macht, manchmal jedoch zu Popularität in einem
Kreis von Verehrern und Verehrerinnen. In den Neunzigerjahren gab es Symptome
dafür, dass die Situation zum ersten Mal angefangen hat, sich in Richtung der
Professionalisierung von Intellektuellen zu verändern. Heute, zehn Jahre
danach, hat der autoritäre Regierungsstil von Wladimir Putin die Nachfrage nach
den Gerechten und den Propheten wieder belebt, und an einem Angebot fehlt es
nicht.
Unter den Intelligenzlern
nimmt der Dichter eine besondere Nische ein. Weder im alten Zarenreich noch im
kommunistischen Russland war eine normale politische Opposition möglich. Ihre
Funktion hat sich die Literatur zu Eigen gemacht. Der russische Schriftsteller
wird symbolisch als »die Stimme des Volkes« und als »Gewissen der Nation«
bezeichnet, und das soll immer ein Mann sein – ein Stereotyp, das im 19.
Jahrhundert mit Puschkin entstand. Die Gesellschaft, insbesondere die
Intelligenzija, solidarisiert sich seitdem mit dem Dichter gegen die
Staatsmacht, die Staatsmacht korrumpiert einige Vertreter der Künstlerelite,
und zwischen den Korrumpierten und Unbestechlichen wird ein endloser ritueller
Kampf geführt, eine Art Ritterturnier, bei dem die Kontrahenten in Schwarz und
Weiß gehüllt sind. Zwischen dem »weißen Ritter« (einem unbestechlichen Dichter)
und dem Publikum entwickelt sich eine intensive erotische Affinität. In der
stagnierenden Sowjetunion der Sechziger- und Siebzigerjahre war der Dichter und
Liedermacher Wladimir Wyssozkij die spektakulärste Kultfigur dieser Art; seinen
»schwarzen« Kontrahenten verkörperte der linientreue Schriftsteller Wsewolod
Kotschetov. Durch solche Figuren wurde gesellschaftliches Leben polarisiert und
dynamisiert: Die Öffentlichkeit war aufgeregt, alle guckten zu, alle hatten
eine eigene Meinung, rezitierten mit Pathos Gedichte, sangen Lieder in
Begleitung einer übel klingenden Gitarre, dabei wurde die Alltagsmisere
vergessen und verdrängt, man kam sich wichtig vor. In Russland verkörpert diese
erotische Dichterfigur stellvertretend die männlichen, bürgerlichen und
göttlichen Tugenden. Nur für die Vaterfigur steht sie nicht – der russische
Dichter darf nicht bodenständig sein, ganz im Gegenteil, er soll am besten
obdachlos, alkoholkrank und unverheiratet sein, dann ist er bestens geeignet
als Projektionsfläche für weibliche Fantasien und politisierte männliche
Solidarität. Er kann dann nicht nur bewundert, sondern auch bemitleidet werden.
Er darf nichts als sein Publikum haben, das ihn leidenschaftlich in Schutz
nimmt.
Die historischen Kulissen
verändern sich, das Spektakel aber wiederholt sich immer wieder. Dass der
schwarz-weiße Kampf inszeniert ist, wissen inzwischen die Beteiligten, aber sie
geben es nicht zu, und die Fremden, die ihm zusehen, merken es nicht. Der
Eindruck der Echtheit wird dadurch verstärkt, dass die kämpfenden Seiten das
Spektakel oft mit dem Leben bezahlen.
Mit dem »Tauwetter« (Ende
der Fünfzigerjahre) bekamen die russischen Männer aus den Reihen der
Intelligenzija endlich die Chance, ihr Image des ewigen Verlierers und
»überflüssigen« Menschen loszuwerden. Mehr noch: Sie konnten sich sogar zu
Helden stilisieren. Sie fingen an, eine Protestkultur aufzubauen. Es entstand
die Dissidentenbewegung, die überwiegend von Männern getragen und
repräsentiert wurde: A. Solschenizyn, A. Sacharow, A. Sinjawsky, J. Daniel, A.
Amalrik, A. Martschenko und andere. Frauen als prominente Dissidentinnen waren
ein seltenes Phänomen. Der Feminismus fand bei den männlichen Helden der
Dissidentenbewegung weder Verständnis noch Unterstützung. Ganz im Gegenteil, in
der Dissidentenbewegung ist der Archetyp des konservativen Widerstandes der
Dekabristinnen(9) wieder lebendig geworden: Die Frauen sollten an der Seite der
männlichen Helden als treue und zuverlässige Freundinnen erscheinen, bereit,
Not und Leid ihrer Ehemänner zu teilen und ihnen bis nach Sibirien zu folgen.
Die Dissidenten und die kommunistische politische Elite mit Gorbatschow an der
Spitze wetteiferten um die Ehre, als die Totengräber des totalitären
sowjetischen Regimes in die Geschichte eingehen zu können. Aber nach dem
Zusammenbruch des Systems waren beide nicht mehr im Spiel, das Land hat ohne
ihren nennenswerten Einfluss seine heutigen Konturen angenommen.
»Negative Elite«:
Neureiche
Der Reformprozess hat eine
neue soziale Schicht hervorgebracht, in der die Frauen eine verschwindende
Minderheit bilden: Die »Neureichen Russen« als Kulturtyp sind von Männern
verkörpert. – Die wenigen an der Spitze der Pyramide werden als Oligarchen
bezeichnet. Sie haben unter sich das ganze Land und die ganze Macht aufgeteilt:
Die von ihnen bezahlten Politiker sitzen im Parlament, die von ihnen gekauften
Medien machen Stimmung in der Bevölkerung. Alle wissen, dass sie die
Drahtzieher sind, aber sie zeigen sich nicht gerne in der Öffentlichkeit. Das
Image von »Neureichen« prägen die komischen Machos mit ihren Markenzeichen:
rote Jacken, schwere Goldketten, Pistolen, Sechshunderter-Mercedes und teuer
bezahlte blonde Schönheiten. Sie demonstrieren ihren Reichtum ohne jede
Rücksicht auf Armut und Elend, die gleichzeitig mit dem Reichtum der wenigen in
immer größerem Maße um sich greifen.
Inzwischen ist es klar, dass
die neue wirtschaftliche Elite unter der Bevölkerung genauso wenig Respekt oder
Vertrauen genießt wie die alte kommunistische Nomenklatur. Die russischen
«Neureichen« haben die nationalen Gefühle des eigenen Volkes aufs Tiefste verletzt,
indem sie sich als unzivilisierte Menschen entblößt haben. Die Nation hatte an
sie die Hoffnung geknüpft, sich endlich an die westliche Zivilisation
anzuschließen, aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Was kann das
Volk mit den Neureichen anfangen? Nichts anderes als das, was man mit dem
Politbüro schon immer gemacht hat: sie auszulachen und ihnen danach den Rücken
zuzukehren.
Einem russischen Sprichwort
zufolge sind Knast und Bettelsack jedermanns Schicksal. Für einen Knastaufenthalt
schämt man sich in Russland nicht, eher ist man darauf stolz. Die Straflager
und die Häftlinge haben die sowjetische Kultur und den Alltag stark geprägt,
schon von der Dauer her: Das Terrorregime dauerte nicht wie in Deutschland 12
Jahre, sondern 75. Zuerst verschwanden Millionen von Menschen in den
Straflagern, danach ist die Gesellschaft selbst zur Kopie eines Straflagers
geworden. In den Gefängnissen sind eine besondere Häftlingssprache, »Fenja«,
eine Folklore mit Mythen, Kultfiguren, symbolischen Tätowierungen und Liedern
sowie eine spezifische (Über-)Lebensweise entstanden.
Obwohl in den Straflagern
viele Frauen gefangen gehalten wurden, präsentiert sich die Gefängniskultur als
ausschließlich männliches Phänomen. Sie besitzt trotz ihrer Brutalität einen
beinahe unwiderstehlichen Charme. Die zivile Kultur, vor allem aber die
Literatur, hat sich auf ein intertextuelles Spiel mit ihren Symbolen und
Inhalten eingelassen: Die Gefängnissprache »Fenja« wurde in die Umgangssprache,
in die Publizistik und in die zeitgenössische Literatur integriert. Alles, was
ein bisschen besser als Gefängnis ist, wird von der Bevölkerung als
Lebensstandard akzeptiert. Die Hygiene in den Eisenbahnwaggons, Kantinen,
Krankenhäusern, Ferienheimen und in öffentlichen Räumen weist den Einfluss des
Gefängnisses auf.
Die Gefängniskultur hat die
Vorstellungen über die Männlichkeit und die Rolle des Mannes sehr stark
geprägt. Die in den Straflagern entwickelten Überlebenstechniken haben sich im
Alltag eingenistet. Ein Beispiel dafür geben die in Armut lebenden
Männergruppen, die sich im »Untergrund« versteckte Freiheitsräume eingerichtet
haben.
In den engen Wohnungen, in
denen nur fünf Quadratmeter Raum pro Person vorgesehen sind, können sich die
Familienmitglieder ein eigenes Zimmer nicht leisten. Der Hausfrau steht die
Küche als ihr kleines »Reich« zur Verfügung. Und dem Mann? Immer nur vor dem
Fernseher hocken? Das ist nicht jedermanns Sache. Die »überflüssigen«
russischen Männer mussten sich etwas einfallen lassen. Sie brauchten dringend
eine Unterkunft, in der sie, ohne von ihren Nächsten beobachtet zu werden, mit
den Kumpeln ein Gläschen Wodka genießen, ihren handwerklichen Hobbys nachgehen
oder ihre kleinen Affären abwickeln konnten. Also besetzten sie die
versiegelten Kellerräume in den Plattenbauten oder gruben sich Keller in den
Garagen, in denen sie sich dann nach eigenem Bedarf und Geschmack einrichteten.
In unterirdischen Männerlöchern wird heftig getrunken, diskutiert und Domino
gespielt. Entlang den Wänden stehen Kanister mit Benzin, in der Ecke blubbert
ein Gerät mit dem selbst gebrannten Hochprozentigen. Aber die Idylle erweist
sich als trügerisch. In solchen Räumen explodieren regelmäßig Kanister wegen
einer unbekümmert weggeworfenen Zigarette, endet Streit in einer Messerstecherei,
es ersticken Betrunkene im eigenen Erbrochenen oder Menschen werden von
einstürzenden Wänden lebendig begraben. Ab und zu gelingt es nicht, Polizei und
Behörden von der illegalen Unterkunft fern zu halten, und die liebevoll
eingerichtete Nische wird dann zugeschüttet und dem Erdboden gleich gemacht.
Dann steht der kleine russische Mann wieder obdachlos und überflüssig auf der
Erdoberfläche, kratzt sich am Kopf und fragt sich, wieso es in diesem riesigen
Land keinen einzigen Ort gibt, an dem er sich heimisch fühlen kann.
Was kann man abschließend
über die russischen Männer noch sagen? Zum Teil unterscheiden sich ihre
Probleme von denen der westlichen Männer nicht wesentlich: Hier und dort
stecken althergebrachte soziale Rollen in der Krise, hier und dort müssen die
Männer sich an schnelle Veränderungen anpassen, hier und dort kommen sie mit
dem Leben, der Freiheit und ihren Beziehungen zu den Frauen nicht zurecht. Der
wichtigste Unterschied besteht wohl darin, dass den russischen Männern ein
Erfolgserlebnis so gut wie unbekannt ist.
Der Bedarf an der
Emanzipation des starken Geschlechtes wird gesellschaftlich nicht anerkannt und
thematisiert. Man verwechselt die Emanzipation mit der Machtstellung, obwohl es
klar sein muss, dass Macht und Privilegien zu haben und emanzipiert zu sein
lange nicht ein und dasselbe sind. Anders als für die Frauen gibt es für die
Männer hier und dort weder Aufklärung noch Förderprogramme. Viele russische
Männer sterben sinnlos und leichtsinnig wie Fliegen: Wodka, Tabak, Autounfälle,
ungesundes Essen, schlaflose Nächte, kein Sicherheitsschutz am Arbeitsplatz –
der russische Lebensstil schlechthin bringt sie ums Leben. Auf dem steinigen
Weg ihrer Emanzipation sind sie sich selbst überlassen.
Heute wird in Russland das
Ideal des Mannes vom Präsidenten Wladimir Putin verkörpert. Nach so vielen
Verlusten und Demontagen soll es auf die Bevölkerung wohltuend wirken, an der
Spitze des Staates endlich eine Vaterfigur zu haben, für die man sich nicht
schämen muss. Putins autoritärer Regierungsstil, der im Westen auf Kritik
stößt, genießt in der russischen Bevölkerung beinahe uneingeschränkte
Unterstützung. Die Auswirkungen der »demokratischen« Jelzin-Ära waren für das
nationale Selbstbewusstsein verheerend. Wie früher Rasputin oder Breschnew,
stand Jelzin als Symbol für Zerfall, Korruption und Altersschwäche. Durch ihn
wurde der Gründungsmythos kompromittiert, noch bevor die Gründung des neuen
Russlands ihre erste Phase durchlief. Umso größer ist die Anerkennung für
seinen jüngeren Nachfolger, der nüchtern, konsequent und volksnah erscheint.
Oppositionelle Parteien wie »Jabloko« oder »Frauen Russlands« sind nach und
nach aus der Duma verschwunden. Neuesten Meinungsumfragen zufolge (Anfang
Oktober 2004) genießt der Präsident die Unterstützung von 81 Prozent der
Bevölkerung, und das ungeachtet der Terroranschläge von Beslan und der
Aufhebung sozialer Vergünstigungen für die Armen, die im Oktober auf seine
Initiative von der Duma beschlossen wurde. Im ersten Quartal des Jahres 2004
waren es sogar 89 Prozent der Bevölkerung, die seine Arbeit als ausgezeichnet,
gut und befriedigend eingeschätzt haben (siehe Tabelle im Heft). Anders
als sein weißrussischer Amtsgenosse Alexander Lukaschenko braucht der russische
Präsident die Wahlergebnisse nicht zu fälschen, um seine Projekte
durchzusetzen.
Diese stabilen Zahlen lassen
die Vermutung zu, dass die omnipotente Vaterfigur des Staatsoberhauptes nach
wie vor das am meisten begehrte Identifikationssymbol darstellt. In ihrer fast
bedingungslosen Unterstützung für diese Figur äußern die Menschen ihre
Ablehnung anderer sozialer Repräsentanten wie Neureiche, Kriminelle oder
örtliche Bonzen, die im postsowjetischen Russland für die Neue Ordnung stehen.
Es ist klar, dass die Demokratie unter den gegebenen Umständen eher im Bereich
eines negativen Wertekanons positioniert werden kann. Die ansonsten westlich
orientierten russischen Eliten lehnen sich gegen die Modernisierung der
althergebrachten Geschlechterrollen auf. Angesichts des misslungenen Neuanfangs
werden die alten Männerrollen, Klischees und Hierarchien wieder aufgewertet und
als erprobte Alternative in der um sich greifenden Krise angeboten. Wie die
nach solchen Mustern geformten russischen Männer mit einer globalisierten und
dynamischen Zukunftswelt fertig werden, bleibt dahingestellt.
1
Perewedenzev, V.: »Bevölkerungsdynamik in der UdSSR und in
Russland in der Nachkriegszeit« (Russisch: Poslevoennaja dinamika naselenija
SSSR i Rossii), in: POLIS, Nr. 2, 1995.
2
Nicolas Eberstadt: »Russia:
To Seek to Matter? Vodka and heart disease weaken the Russian bear«, in: Policy
Review 95, 1999, zit. nach: Sonja Margolina: Wodka. Trinken
und Macht in Russland, Berlin: Wolf Jobst Siedler Verlag 2004, S. 153.
3
In Details beschäftigt sich mit dem Thema des Alkoholkonsums
Sonja Margolina in ihrem gerade erschienenen Buch, siehe FN 2.
4
www4man.ru/articl.php?id=867
5
Anke Leweke: »Tänzeln über dem Nichts«, in: Die Zeit,
12.8.04.
6
Es handelt sich um die Romane Eugen Onegin von A. Puschkin,
Ein Held unserer Zeit von M. Lermontow und Oblomow von A.
Gontscharow.
7
Viktor Jerofejew: »Der russische Riss«, in: Kursbuch,
Nr. 103, Berlin: Rowohlt, März 1991, S. 45–47.
8
Sieh dazu: Claudia Schimmel: »Der ›sozialistische
Bruderkuss‹«, in: Berliner Osteuropa Info, Heft 11/1998, S. 81–84.
9
Die Dekabristinnen waren die Ehefrauen der russischen
Adeligen, die sich im Dezember 1825 zum ersten Aufstand gegen die Obrigkeit
erhoben haben. Nach dem Scheitern dieses Aufstandes sind die Ehefrauen ihren verurteilten
Männern in die Verbannung nach Sibirien gefolgt. Sie gelten seitdem als
moralischer Maßstab für die weibliche Treue.
10
(zur Tabelle im Heft) Swetlana Klimova: »Dynamik der
Einschätzungen von Wladimir Putin: Dominanten. Meinungsfeld«, in: Soziologische
Mitteilungen der Stiftung »Öffentliche Meinung«, Nr. 41 (771) 14.10.04,
www.fom.ru (auf Russisch). Repräsentative landesweite Umfrage, durchgeführt in
100 Orten, die auf 44 Regionen Russlands verteilt sind. Interviews wurden immer
am Wohnort geführt, Zahl der Befragten: 1500 Menschen.