Ereignisse & Meinungen

Balduin Winter

 

ASEAN – »nicht unerfolgreich«

 

 

Am 14. Dezember 2005 tagten in Kuala Lumpur die Regierungschefs der in der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) vertretenen zehn Staaten im Anschluss an den ASEAN-Gipfel. Außerdem nahmen die Premiers der VR China, von Japan und Südkorea teil. Seit der Asienkrise 1997 wurde ein innerasiatischer Nord-Süd-Dialog anvisiert, auf dem Gipfel 1997 in Kuala Lumpur die Grundlagen des »ASEAN+3« gelegt und mit China ein Freihandelsabkommen (ACFTA) getroffen. Neu am Gipfel 2005 war, dass der ASEAN+3 mit der Teilnahme von Indien, Australien und Neuseeland ein weiteres +3 hinzugefügt wurde, zugleich Verknüpfungen mit der pazifischen Wirtschaftszone APEC und der südasiatischen SAARC. Als Beobachter war Russland anwesend. Die Veranstaltung nannte sich erster »Gipfel von Ostasien«.

Die »Weltöffentlichkeit« hatte ihre Aufmerksamkeit auf den WTO-Gipfel in Hongkong gerichtet – in Europa und in den USA fand Kuala Lumpur nur am Rande statt. Tatsächlich strotzt die Schlusserklärung von blumigen Formeln der Bürokratenpoesie. Auch stimmt es, dass Zusammenschlüssen wie etwa der SAARC wenig Eigengewicht zukommt. Und die Probleme der ASEAN sind mannigfach. Sie wurde 1967 von Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur und Thailand gegründet. Das Sultanat Brunei schloss sich 1984, Vietnam 1995, Birma/Myanmar und Laos 1997 und Kambodscha 1999 an. Als Ziele nannte die Gründungserklärung von 1967 die Förderung des Wirtschaftswachstums, sozialen Fortschritt, kulturelle Entwicklung, Sicherung des regionalen Friedens, Orientierung an Rechtsstaatlichkeit und an den Grundsätzen der UN-Charta – ein schwieriges Unterfangen angesichts so unterschiedlicher Staats- und Gesellschaftssysteme. Laos und Vietnam sind sozialistische Republiken, Brunei ist ein islamisches Sultanat mit Scharia, Myanmar eine Militärdiktatur, Singapur eine parlamentarische Demokratie, in der es im Wesentlichen eine Partei und einen Despoten gibt, in Malaysia, Kambodscha und Thailand existieren konstitutionelle Monarchien, in Indonesien und auf den Philippinen Präsidialrepubliken. Nicht nur im Staats- und Rechtswesen liegen Welten zwischen den einzelnen Ländern, auch wirtschaftlich gibt es große Differenzen zwischen den Armenhäusern Laos, Vietnam und Myanmar und den Reichen wie Singapur und Brunei. Ein schwaches Pflänzchen ist der »regionale Frieden« in dieser strategischen Weltzone. Zumindest die ASEAN-Staaten haben sich seit ihrer Gründung oder ihrem Beitritt untereinander nicht mehr bekriegt – vielleicht eine der wenigen Analogien zu Europa.

Viel scheint man in Europa von ASEAN nicht zu halten. Im Guardian (13.12.05) hängt John Aglionby zwar die Trauben erst hoch. Der »Preis« könnte »schmackhaft« sein: »Eine Gruppierung, die sich von Indien bis Neuseeland und bis Japan und Südkorea erstreckt, mit der Hälfte der Weltbevölkerung und mit einem vereinigten Wirtschaftspotenzial von 4,8 Billionen Pfund Sterling.« Doch dann überwiegt britische Skepsis. Er sieht verschiedene Arten von »crashs« der Gesellschaften, Systeme und Kulturen, wobei er genüsslich den »Fall Birma« hervorhebt, bei dem die ASEAN ihr eigenes Prinzip der Nichteinmischung verletzt habe. Die Erfolge seien »in seiner 39-jährigen Geschichte bemerkenswert klein, mit Ausnahme einiger Verringerungen von Handelszöllen hat es nur zu Erklärungen mit langen Titeln und wenig Substanz gereicht und einem jährlichen Gesprächsfestival der globalen Außenminister, der in diesem Jahr viel von seinem Glanz verloren hat, da sich US-Außenministerin Condoleezza Rice und ihr chinesischer Amtskollege Li Zhaoxing entschieden, wichtigere Verpflichtungen anderswo wahrzunehmen.« Diese Bilanz blendet die Realgeschichte der Region aus, die, noch im Prozess der Dekolonisation, als strategische Zone des Kalten Krieges an der Bruchlinie zwischen Kapitalismus und Kommunismus lag und dies auch militärisch zu spüren bekam.

Vielleicht hört man es im Europa der EU nicht gerne, dass hier nämlich ein Rivale heranwächst, ähnlich und doch ganz anders, der als Staatenbund in der Zukunft eine machtvolle Rolle spielen könnte. In europäischen Köpfen ist Asien vorerst im Wesentlichen ein ökonomischer Faktor, sein intellektuelles Potenzial wird noch weitgehend unterschätzt. Das scheint auch in einem Forschungsbericht für das Jahr 2005 zum Ausdruck zu kommen, der über das Projekt »Kulturelle Grundlagen regionaler Kooperation in Südostasien. Wandel durch Globalisierung(skrisen)?« an der Universität Freiburg Auskunft gibt: »Die dem ASEAN-Regionalismus inhärenten kooperationshemmenden Politikmuster der realistischen Schule der Internationalen Politik wurden dabei entweder übersehen oder unterbewertet. Der Grund dafür war eine unzureichende Berücksichtigung der diesen Kooperationsformen zugrunde liegenden kulturellen Faktoren. Die Asienkrise scheint diesen Befund zu bestätigen. Ihr folgte eine weitgehende Paralysierung nahezu aller Regionalorganisationen im asiatisch-pazifischen Raum, ein Aufbrechen vermeintlich eingehegter bilateraler Konflikte und ein zunehmender Unilateralismus.«

Gesicherte Fakten? Ganz anders liest es sich bei Joseph E. Stiglitz, der im Hinblick auf die Asienkrise 1997 nicht nur die ökonomische Robustheit von Ländern wie Südkorea oder Malaysia hervorhebt und die IWF- und US-Regierungskritik an der »völligen Verkommenheit und Korruptheit der Institutionen der asiatischen Staaten« bezweifelt, zumal sie von Leuten geäußert wurde, die allesamt keine Asienexperten sind (Joseph Stiglitz: Der Schatten der Globalisierung, S. 109 ff.). Er betont im Gegenteil: »Die Länder waren nicht nur trotz der Tatsache, dass sie die meisten Diktate des ›Washington Consensus‹ nicht befolgt hatten, sondern weil sie es nicht getan haben, erfolgreich gewesen.« Diese Meinung bezieht er an anderer Stelle ausdrücklich auch auf die Krisenbewältigung und die Folgezeit, in der auch das China-Abkommen getroffen wurde. In einem anderen Artikel spricht er dem asiatischen Finanzkapital seine Sympathie aus; es unterscheide sich vom westlichen, da die asiatischen Länder voneinander abhängiger sind und folglich einen größeren Ansporn haben, sich gegenseitig zu helfen. Während US-Regierung und IWF die Tiefe und Globalität der Asienkrise zunächst völlig unterschätzt haben, haben die asiatischen Regierungen und Banken relativ rasch viele richtige Maßnahmen ergriffen. Außerdem sieht er im Gefolge der Krise eine Reihe von Verbesserungen auch politischer Natur (»Globalization, Technology and Asian Development«, in: Asian Development Review, 20, 2/2003).

Immerhin organisierte die EU-Kommission schon vor Jahren ein Seminar mit hochrangigen asiatischen (vorwiegend allerdings japanischen und koreanischen) und europäischen WissenschaftlerInnen über »Modelle der Integration in Asien und Europa« (Arbeitspapier der EU-Kommission, hrsg. von Malcolm Subhan und Wolfgang Pape, 2000). Auffallend ist die Erwartung östlicher Denker auf eine Universalität westlicher und östlicher Philosophie, auf ein Sich-Verschränken beider Welten. Die handfesten Unterschiede kamen von Politologen und Ökonomen. Der geglückten französisch-deutschen Versöhnung als eine wesentliche Grundlage der EU stünden in Ost- und Südostasien nach wie vor ungelöste Konflikte gegenüber, fokussiert vor allem auf China (China-Japan, China-Indien), die nun in den neuen Staatenverbund der ASEAN+3 eingebettet sind. Allerdings habe China seit den Neunzigerjahren seine Haltung zum asiatischen Regionalismus grundlegend geändert, seitdem seine Führung erkannt habe, dass Regionalismus und Globalisierung zwei Seiten derselben Medaille sind, und habe eine Regionalisierung im eigenen Land vorgenommen.

Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen ASEAN und China nicht unumstritten. Als die chinesische Agentur Xinhua zum Gipfel von Vientiane am 30.11.04 begeistert schrieb: »Eine neue Ära der Beziehungen zwischen China und Südostasien ist angebrochen«, und der chinesische Premier Wen Jiabao in Laos von einer »strategischen Partnerschaft für Frieden und Wohlstand« in Asien im Dienste der »gemeinsamen Interessen der ganzen Region« sprach, hielten sich die ASEAN-Staatsführer zurück. Georg Blume berichtete damals in der Zeit (1.12.04): »›Unsere größte Herausforderung heute ist die Vertiefung der wirtschaftlichen Integration. Warum? Zwei Wörter: Indien und China‹, bemerkte der neugewählte Präsident Indonesiens, Susilo Bambang Yudhoyono, am Vorabend des Gipfeltreffens in Laos. Yudhoyono brachte damit die Sorgen vieler Südostasiaten vor einem Übergewicht Chinas und eventuell auch Indiens in der Region zum Ausdruck. Dem stimmte auch der malaysische Regierungschef Abdullah Ahmad Badawi zu, für den die Integration von ASEAN erste, und die Beziehungen zu anderen Handelspartnern nur zweite Priorität besitzen. Doch am Ende unterzeichneten auch Yudhoyono und Badawi das Abkommen mit China.«

Dem jüngsten Gipfel in Kuala Lumpur wurde weit Schlimmeres vorhergesagt. »Politisch oder wirtschaftlich schlecht vorbereitete Integration schafft fruchtbaren Boden für wachsende soziale Intoleranz, wie das Beispiel der Niederlande und Frankreichs kürzlich gezeigt hat«, warnt Noriko Hama von der Tokyoter Doshiha-Universität in der open society (9.12.05) und meint, dass der Gipfel »in den Sumpf gefahren wird«; über grundlegende Begriffe wie Integration, Vertiefung und Erweiterung bestehe nicht die geringste Übereinstimmung; Japan wolle zudem der USA eine wichtige Rolle in Ostasien zuweisen, Koizumis fortgesetzte Besuche des Yazukuni-Schreins und Japans Nationalismus stünden einer Schlusserklärung im Wege, ebenso würde China nur an der Vertiefung der ASEAN+3 liegen, nicht an Erweiterung, während Indien darauf allergrößten Wert lege.

Tatsächlich enthält nun die Erklärung des Gipfels von Ostasien – unter dem Titel »Eine Vision, eine Identität, eine Gemeinschaft« – mehr Ankündigungen als Konkretes. Ganz obenan steht die Forderung nach atomarer Abrüstung auf der koreanischen Halbinsel und der Kampf gegen Terror, Seepiraterie und Seuchen. Es folgt die Zusammenarbeit bei der Energie und der Förderung alternativer Energie, die Vertiefung der regionalen Integration und das Vorgehen gegen Entwicklungsprobleme, der Kampf gegen die Armut, die Förderung der Menschenrechte und der Demokratie. Ostasien soll langfristig eine Gemeinschaft des Friedens, des Wohlstands, der Sicherheit und des Fortschritts werden. Dazu soll der Ostasiengipfel mit der ASEAN als treibende Kraft der Regionalarchitektur beitragen. Jährlich soll auf Staatschefebene ein Gipfel durchgeführt werden, koordiniert vom ASEAN-Sekretariat. (http://www.aseansec.org/)

Von »asiatischer Zukunftsmusik« spricht daher Jochen Buchsteiner in der FAZ (17.12.05) und fragt: »Geht Asien jetzt den europäischen Weg? Zeigt es gar einen neuen auf?« Ja, das ist ein großes Potenzial – an Konflikten ebenso wie an Möglichkeiten. Und erstmals ist China drin, und die USA schauen zu. Klar, die Unterschiede sind riesig, zu Europa, untereinander. Typisch europäisch formuliert Buchsteiner: »Der so bedingte ›intergouvernementale‹ Ansatz, dem auch die neue ostasiatische Vereinigung treu bleiben wird, wurde von europäischen Integrationisten lange als minderwertig abgetan. Die bloße Zusammenarbeit von Regierungen, hieß es, könne keine echte Gemeinschaft formen. Angesichts des Zustands der europäischen Politik werden Kritiker nun vielleicht neugieriger in den Fernen Osten blicken. Die pragmatischere Herangehensweise der Asiaten ist übrigens so unerfolgreich nicht.«

Den großen Rahmen, auch historisch, steckt der Yale-Professor Clyde Prestowitz ab. Wer heute von Globalisierung spricht, muss auch von ihren Verlaufsformen sprechen. In seiner historischen Skizze »The Great Reverse« beginnt die »anfängliche Welle der Globalisierung« mit den iberischen Galeonen: »1776, im Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, hatte China – legt man jenes Gebiet von heute zugrunde, das an Indien und Pakistan grenzt – noch bei weitem die größte und stärkste Wirtschaft in der Welt. Tatsächlich war in dieser Zeit Asien gut für mehr als die Hälfte des globalen Bruttoinlandsprodukts verantwortlich. Die industrialisierte Massenproduktion kehrte drastisch das Gleichgewicht um; am Ende des 20. Jahrhunderts stellten die Vereinigten Staaten und Europa zwei Drittel des globalen BIP, während Asien für nur 20 Prozent verantwortlich war.« (Yale Global online, 2.9.04) Diese Phase bezeichnet er als »zweite Welle« und sieht im jüngsten Aufschwung Asiens eine dritte Welle der Globalisierung. Ihm zufolge werden schon in rund zwanzig Jahren China und Indien die USA ökonomisch eingeholt haben. Man kann hoffen, dass diese Staaten dann auch politisch eingebettet sind in ein Umfeld von Staatengemeinschaften, deren eine Gründungsurkunde vielleicht in diesem Dezember geschrieben wurde.