Michael Opielka

 

Gerechter Neid?

Warum es soziale Gerechtigkeit heute schwer hat

 

 

Ist das die neue Wertedebatte? Die tägliche Aufforderung, sich am Geiz zu begeilen? Um geizig zu sein, muss man freilich etwas besitzen. Anders verhält es sich mit dem Neid, der dort entsteht, wo wenige viel und viele weniger haben und immer mehr immer weniger haben. Seit jeher haben Gesellschaften für soziale Ungleichheit verschiedene Gerechtigkeitsstrategien entwickelt, tendenziell dämpfende und tendenziell verschleiernde. Angesichts der zunehmenden Einkommensdifferenz diskutiert unser Autor Strategien und Modelle zum Zweck eines mäßigenden gesellschaftlichen Kompromisses.

Neid ist ein Tabu. Neid gehört sich nicht. So weit zum Guten unserer öffentlichen Moral. Dafür sprechen wir über »soziale Gerechtigkeit«. Viele vermuten dahinter nichts anderes als verkappten Neid. So zum Beispiel der Philosoph Wolfgang Kersting: »Eine überbordende Gerechtigkeitsrhetorik prägt das öffentliche Gespräch sozialstaatlicher Demokratien, überflutet den Markt der Wählerbewirtschaftung und überzieht das Verteilungsgezänk der Gruppen mit einem moralsemantischen Firnis.« (Kersting 2003, S. 107) Das sind starke Worte, entnommen aus einem Aufsatz, der den »wohlfahrtsstaatlichen Grundbegriff« der »Gerechtigkeit« zu analysieren behauptet. Der Grund wird düster beschrieben: »Der Sozialstaat ist auf der Individualisierungssteppe der Moderne errichtet. Seine Bewohner sind Selbstverwirklichungsvirtuosen im ethischen Niemandsland, die ihre Erfolgskarrieren auf dem Markt und ihre Versorgungskarrieren im Sozialstaat mit der gleichen egozentrischen Konzentration vorantreiben. … Einen Markt jenseits des Egoismus-Prinzips, ein Wohlfahrtssystem des Gemeinsinns wird es nicht geben« (ebd., S. 115). In eine solche Weltsicht passt die Stimmung der letzten Jahre, von »Agenda 2010« und »Hartz IV«. Der Markt muss es richten, Neid erscheint hier richtig. Ärgerlicherweise: »Demokratien sind gleichheitsversessen« (ebd., S. 121). Das aber ist, so Kersting, irrig: »Der Sozialstaat ist zur Sicherung der Marktmöglichkeiten der Bürger da. Er hat die Bürger zum Markt zurückzuführen, sie marktfähig zu halten. … Er bindet seine subsidiären Transferzahlungen an die überprüfbare Bereitschaft zur Beschäftigungsaufnahme und zur Selbstverantwortlichkeit« (ebd., S. 134). Soweit der viel zitierte, markige Philosoph. Doch sieht er – und mit ihm die Armee der Marktapologeten – die Lage wirklich realistisch? Stimmt diese Deutung des Sozialstaats überhaupt? Welches Gesellschaftsbild verbirgt sich dahinter?

Häufig wird behauptet, zentrale wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe – wie »soziale Gerechtigkeit« – hätten unterdessen diskursive Neuinterpretationen erfahren und dabei ihren einstigen semantischen Gehalt vollkommen eingebüßt (so die meisten Beiträge in Lessenich 2003). Es lohnt sich aber, einmal genauer hinzuschauen. Denn zwischen den Diskursen der Eliten und den Intuitionen und Überzeugungen der Bevölkerungen herrscht gerade hinsichtlich der Aufgabe der Sozialpolitik keineswegs Deckungsgleichheit.

Beginnen wir mit einigen Fakten. Zuerst das Positive: Es scheint uns heute zumindest materiell besser zu gehen als früher. Für einen Fernseher muss der durchschnittliche Arbeitnehmer im Jahr 2004 weniger als halb so lange arbeiten wie noch 1991, für einen PC gar nur noch 13 Prozent der Zeit wie damals. Man muss also nicht mehr neidisch sein auf andere, man hat beides selbst. Freilich, Grund zur Unzufriedenheit findet sich nach wie vor. Die Statistiker sind sich nicht einig, ob die soziale Ungleichheit in Deutschland wirklich zugenommen hat. Ein klassischer Indikator ist der so genannte »Gini-Koeffizient«. Er misst die Einkommensdisparitäten zwischen dem untersten und dem obersten Quintil (Fünftel) der Einkommenshierarchie einer Gesellschaft. Im »Datenreport 2004« des Statistischen Bundesamtes können wir nachlesen, dass die Ungleichheit von Markteinkommen und Renten in den alten Bundesländern zwischen 1991 und 2002 zugenommen hat (Gini-Koeffizient: 0,319 auf 0,368, S. 626), während sie in den neuen Ländern nur geringfügig stieg. Durch erhöhten sozialstaatlichen Einfluss blieb gleichwohl die Ungleichheit bei den Haushaltsnettoeinkommen in Deutschland insgesamt relativ konstant. Was allerdings zunahm ist der Anteil der Bürgerinnen und Bürger in »relativer Armut«, also mit einem Haushaltsnettoeinkommen mit weniger als 50 Prozent des Durchschnitts, er stieg von 10,1 Prozent (1991) auf 11,1 Prozent (2002), wobei vor allem – nach einem Absinken Mitte der 1990er-Jahre – ein dramatischer Anstieg zwischen 2001 und 2002 auffiel: von 9,4 auf 11,1 Prozent. Das passt zu den Beobachtungen des »2. Armuts- und Reichtumsberichts« der letzten, rot-grünen Bundesregierung, der Anfang 2005 veröffentlicht wurde. So stieg für alle Haushalte mit Kindern die Armutsrisikoquote zwischen 1998 und 2003 von 12,6 auf 13,9 Prozent, nur bei Alleinerziehenden blieb sie konstant – bei 35,4 Prozent (Bundesregierung 2005, S. 76).

Ohne sozialstaatliche Leistungen wären die Armutsquoten freilich noch weitaus höher. Die Wirksamkeit bereits des Familienlastenausgleichs ist signifikant, weitere Leistungssysteme reduzieren die Armutsquote weiter – auch wenn sie noch immer viel zu hoch erscheint.

Die Wirksamkeit des Familienleistungsausgleichs (FLA: Kindergeld, Elterngeld, Kinderzuschlag usf.) ist vor allem für Alleinerziehende signifikant. Während allgemeine Sozialtransfers beispielsweise bei Alleinerziehenden das Armutsrisiko von über 60 auf etwas über 50 Prozent reduzieren, drückt sie der FLA um weitere knapp 20 Prozent. Insgesamt wird die Armutsrisikoquote durch Sozialleistungen in Deutschland beinahe halbiert (ebd., S. 77). Das ist kein voller Erfolg, aber es ist gleichwohl bedeutsam.

Armut ist die deutlichste Form sozialer Ungleichheit, ihr hässlichstes Gesicht. Die andere Seite der Armut ist Reichtum. In der »Datensammlung zur Steuerpolitik 2005« (S. 31) des Bundesfinanzministeriums wird belegt, dass die Anzahl der in Deutschland Steuerpflichtigen mit einem jährlichen Gesamtbetrag der Einkünfte von mehr als 0,5 Millionen Euro zwischen 1995 und 2001 von 21.002 auf 36.629 stieg. Ihr Anteil an den Steuerpflichtigen stieg von 0,08 auf 0,14 Prozent, ihr Anteil an den Einkünften insgesamt stieg um knapp die Hälfte von 3,48 auf 5,15 Prozent, ihr Anteil am Einkommensteueraufkommen allerdings nur um gut ein Drittel von 8,30 auf 11,21 Prozent. Der Blick auf die wirklich Wohlhabenden, die Reichen zeigt, dass ihr Anteil am gesellschaftlichen Kuchen deutlich zunahm. Da könnte schon Neid aufkommen angesichts dieser Form von Ungleichheit.

Ist Ungleichheit unvermeidbar? Frank Nullmeier hat seine Politische Theorie des Sozialstaats auf einer anthropologisch-sozialphilosophischen Rekonstruktion des »sozialen Vergleichs« aufgebaut, die im Begriff des »amour-propre« bei Rousseau ihren wichtigsten Ausdruck fand: »Die Orientierung am anderen wie das Streben nach Achtung und Hochschätzung durch den anderen, nach Ehre, Rang, Prestige, Status finden im Begriff des ›amour-propre‹ eine Einheit. Die Existenz dieses Sozialkomparativen ist mit der Gesellschaftlichkeit gegeben und bildet zugleich das entscheidende Übel.« (Nullmeier 2000, S. 20) Nullmeier will das Übel im Verständnis des Sozialstaats reguliert sehen, »der auf der Anerkennung komparativer Orientierungen als Bestandteil subjektiver Freiheit gründet und darauf mit der Schaffung von Bedingungen allgemeiner sozialer Wertschätzung als Vermittlung dieser Freiheit zur gleichen Freiheit aller reagiert« (ebd., S. 421). Praktisch leiste der Sozialstaat dies insbesondere in den Systemen der Sozialversicherung, die die Ungleichheiten des Erwerbssystems abbilden – in der Hoffnung, dass eine jede und ein jeder Zugang zum Arbeitsmarkt findet.

In dieser Perspektive erscheinen die Sozialversicherungen als eine höchst kluge systemische Einhegung des »sozialen Vergleichs«, als eine Kultivierung des Neids. Soziale Ungleichheit mutiert im wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus damit zu einem »Übel«, mit dem sich leben lässt. Neid verliert sein Tabu und verwandelt sich in den Ansporn zum Aufstieg. Doch angesichts der Zähigkeit von Armut mag man gegen diese optimistische Lesart berechtigte Einwände erheben. John Rawls hat in seiner berühmten Theorie der Gerechtigkeit (1975) das »Differenzprinzip« geprägt. Demnach seien Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt, wenn sie dem jeweils schwächsten Mitglied einer Gemeinschaft nützen. Der moderne Wohlfahrtskapitalismus behauptet das, nicht ohne gewisses Recht, war er doch im Systemwettbewerb mit dem »real existierenden Sozialismus« gerade darin erfolgreich, den Wohlstand der breiten Massen merklich zu erhöhen. Wie aber will der Einzelne, wie wollen selbst Experten wirklich plausibel begründen können, dass beispielsweise Steuerreduzierungen für »Besserverdienende« am Ende den Schlechtestverdienenden zugute kommen? Die teils als obszön bezeichnete Zunahme von Reichtum in den letzten Jahren nicht nur in Deutschland lässt sich mit dem »Differenzprinzip« von Rawls kaum sozialethisch begründen.

Vielleicht hilft zur Deutung der komplexen Gemengelage um Neid, Ungleichheit und Vergleich ein Blick auf die heute dominierenden Gerechtigkeitsprinzipien, die auf innige Weise mit den politischen Großideologien verknüpft sind.

 

Ausgangsaxiom

Umverteilung

Individuum

Gemeinschaft

gering

 

 

Liberalismus

(Leistungsgerechtigkeit)

Konservatismus

(Bedarfsgerechtigkeit)

hoch

 

Sozialdemokratie

(Verteilungsgerechtigkeit)

 

Garantismus

(Teilhabegerechtigkeit)

Quelle: Opielka 2004, S. 49, modifiziert

Abbildung 4: Regulative Leitideen sozialer Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat

Im Liberalismus gilt Leistung als Leitidee sozialer Gerechtigkeit. Die Folge der Marktwirtschaft ist dann legitime Ungleichheit. Neid wäre nur dann gerechtfertigt, wenn Leistung missachtet wird. Freilich ist nicht erst seit dem Aufkommen des Feminismus und seinem Hinweis auf die unbezahlte Familienarbeit von Frauen strittig, welche Leistung zählt. Auch innerhalb des Arbeitsmarktes zählt keineswegs nur »Leistung pur«, sondern Macht, Interessensbündelung und traditioneller Status. Daran knüpft die sozialistisch-sozialdemokratische Kritik an und plädiert für staatlich-politische Umverteilung, die sich am Leitbild der Verteilungsgerechtigkeit orientiert. Konservative wiederum zweifeln sowohl die Leistungs- wie die Gleichheitsidee an und wollen eher Bedarfsgerechtigkeit, vermittelt in Gemeinschaftsformen, allen voran die Familie, aber auch berufs- und andere ständische Formen sind dem Konservativen die wahre Legitimitätsquelle.

Wenn wir dieses klassische Dreieck von »Links-Mitte-Rechts« betrachten, dann wird deutlich, warum die Sozialversicherungen mit ihrer Neideinhegung zumindest bislang in Deutschland so etwas wie einen Kompromiss der divergierenden Gerechtigkeitsideen bilden konnten – ergänzt um das liberale Modell der »Fürsorge« (Sozialhilfe), also der Konzentration auf die »wirklich Bedürftigen« und das konservative Modell der »Versorgung«, wie wir es in der Beamtenversorgung und heute auch in Familienleistungen (Kindergeld, Erziehungsgeld) finden. Diesen drei Leitideen wird in jüngerer Zeit die Leitidee des »Garantismus« zur Seite gestellt (Opielka 2004, 2005). Sie geht einen Schritt weiter, indem sie an den Bürger- und Grundrechten anknüpft, jeder Bürgerin und jedem Bürger soziale Teilhabe »garantiert«, konkretisiert vor allem im Konzept der »Bürgerversicherung« (real existierend in der Schweiz, den Niederlanden oder selbst den USA mit der »Social Security«, der Rentenversicherung) und vor allem in der Forderung nach einem »Grundeinkommen«, das jedem zusteht, ohne Arbeitsvoraussetzung.

Doch selbst bei den »Grünen« ist eine solche Position bislang hoch umstritten. Helmut Wiesenthal (2005) hat beispielsweise den Grünen, ganz im Gegenteil, einen »Prioritätenwechsel in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik« angeraten: »Hier muss es vor allem um die Integration der Erwerbslosen gehen, statt um Besitzstandssicherung zu Gunsten der Beschäftigten, um das Bildungsniveau der Kinder und die Basisqualifikationen von Jugendlichen, statt um gebührenfreie Eintrittskarten fürs Akademikertum, um die Grundsicherung gegen existentielle Risiken im Alter, statt um die Haushaltskasse urlaubsgestählter Mittelschichtangehöriger.« Das klingt nach erfrischender Tabulosigkeit. Aber die rhetorischen Finessen offenbaren entweder eine Gedankenlosigkeit oder eine neue Form des »Sozialliberalismus« der Eliten auf Kosten der »Exkludierten« am immer breiteren unteren Rand der Gesellschaft.

Es beginnt mit der Analyse: Wiesenthal behauptet, die sozioökonomische Konfliktachse der Gegenwart verlaufe zwischen »Erwerbstätigen in wettbewerbsorientierten und wertschöpfungsintensiven Branchen« und den »Beziehern staatlich vermittelter Einkommen wie Rentner, ALG2-Empfänger« sowie den »öffentlich Bediensteten« samt »Beschäftigten in wettbewerbsgeschützten beziehungsweise subventionierten Branchen.« Doch stimmt das? Abgesehen davon, dass Autor Wiesenthal als emeritierter Professor und damit Bezieher öffentlich subventionierter Pensionen selbst Zeugnis gibt für politische Cross-Overs, dürften alle bipolaren politischen Deutungsmuster substanziell, weil logisch, in die Irre führen. Jene Konfliktachse lässt sich mit der politischen Einstellungsforschung nämlich kaum belegen. Der Grund ist einfach: Die Rhetorik der »Aktivierung« bedroht auch die Mittelschichten. Gerade in den »wettbewerbsorientierten« Branchen sind mittlere oder längere Zeithorizonte mit Unsicherheit verknüpft. Die sozialstaatliche Absicherung stellt eine realistische Planungsgröße dar.

Falls die Grünen (oder auch die anderen Parteien) nun Wiesenthals »Tabulosigkeit« folgen, werden sie den Sozialstaat auf einen Minimalsozialstaat reduzieren – freilich keinen, der sich für ein Grundeinkommen und andere »garantistische Optionen stark macht, sondern einen »Agenda 2010«-Sozialstaat, der die Erwerbslosen rhetorisch ins Erwerbsleben integriert und sie unterwegs per »workfare statt welfare« erst einmal Mores lehrt. Faktisch führt die Wiesenthal-Rhetorik in ein liberalradikales Sozialabbauprojekt: Studiengebühren, eine minimalistische Krankenversicherung, Arbeitsverpflichtung, eben das, womit Tony Blair und Gerhard Schröder antraten und was empirisch nur wenig Erfolg brachte. Armut und Ungleichheit stiegen unter diesem Politikmuster, die Arbeitslosigkeit sank nicht – dass sie in Großbritannien niedrig blieb, hat mit »workfare« nichts zu tun. Ideologisch wird derlei Selbstverantwortungsrhetorik möglicherweise in der neokonservativen Tradition von Thatcher und George W. Bush (ownership society) als »Stakeholder Society« buchstabiert – eine jüngst von der Heinrich Böll Stiftung finanzierte Studie übertrug das in den USA von Bruce Ackermann und Anne Alstott (1999) entwickelte Konzept auf Deutschland: »60000 Euro für jeden 18-jährigen« (Grözinger u. a. 2006), aber dafür Studiengebühren, »Aktivierung« und explizit »Sozialliberalismus«.

Man kann einwenden, dass die »garantistische« Konzeption einer »Teilhabegerechtigkeit« auch kein Königsweg sei, dass der Anspruch, sie würde dialektisch die linke, liberale und konservative Gerechtigkeitstradition »aufheben« und integrieren, maßlos wäre. Sozialdemokraten werden sagen, dass sie das ja schon seit Godesberg machen, Konservative verweisen auf ihre Sozialausschüsse plus Mittelstandsvereinigung und auch die Grünen behaupteten einst von sich, dass sie »vorne« seien und nicht links oder rechts. Das Schlüsselthema sozialer Gerechtigkeitsdiskurse ist wohl die Reziprozitätsfrage: Sollen soziale Ansprüche nur auf Vorleistung oder zumindest Vorleistungsbereitschaft beruhen? Kersting hat dies, wie wir eingangs sahen, so radikalisiert: der Sozialstaat als Verlohnarbeiterungsagentur, als Beitrag zur »Kommodifizierung«, zur Verallgemeinerung der Warenform. Das garantistische Programm ist eines der »Dekommodifizierung«, der sozialpolitischen Absicherung von Existenzmodi auch neben der Warenform der Arbeit. Garantismus und Teilhabegerechtigkeit fragen also explizit nicht nach den Vorleistungen, sondern garantieren die Existenz aufgrund der menschlichen Existenz. Die Menschen ahnen, dass das sein muss und wollen doch die bürgerliche Ordnung nicht gefährden. Angesagt sind deshalb Kompromisse, die die Tür in Richtung Garantismus öffnen, ohne schon ganz dort anzulangen. Ein Vorschlag dafür ist die »Grundeinkommensversicherung« (Opielka 2004, im Detail auch: ders. 2005a), die, an der Schweizer Bürgerrentenversicherung AHV angelehnt, den deutschen Sozialstaat grundlegend reformiert, ohne die Tradition ganz über Bord zu werfen.

Würde eine »garantistische« Sozialpolitik Neid überflüssig machen? Wohl kaum. Vermutlich haben Nullmeier und mit ihm Konservative wie Liberale Recht und ist der Vergleich anthropologisch tief verankert. Doch auch die sozialistische Idee der Gleichheit ist real, womöglich nicht weniger anthropologisch begründbar. Insoweit erscheint die Leitidee der garantistischen »Teilhabe« als ein zukunftsträchtiger, »neuer« Kompromiss aus den bisherigen Großideen, die fortleben, aber durch sie auf neue Weise gemäßigt werden (Opielka 2006). Ob ein Individuum am Neid leidet oder mit Unterschieden leben kann, hängt gleichermaßen von seinen psychosozialen Kompetenzen ab – vornehmlich Differenz und Begrenzung auszuhalten –, wie von der Verfassung der Gesellschaft, von ihrer praktizierten komplexen Gerechtigkeit. Das wussten schon Aristoteles, Hegel und Adorno. Zum guten Leben gehört eine gute Gesellschaft. Armut muss man nicht aushalten. Allzu große Ungleichheit auch nicht.

Literatur:

Ackermann, Bruce/Alstott, Anne: The Stakeholder Society, New Haven/London: Yale University Press 1999.

Bundesregierung: 2. Armuts- und Reichtumsbericht, Bonn 2005.

Grözinger, Gerd/Maschke, Michael/Offe, Claus: »60000 Euro für jeden 18-Jährigen«, in: FR, 12.1.06.

Kersting, Wolfgang: »Gerechtigkeit: Die Selbstverewigung des egalitaristischen Sozialstaats«, in: Lessenich 2003, S. 105–135

Lessenich, Stephan (Hrsg.): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt am Main: Campus 2003

Nullmeier, Frank: Politische Theorie des Sozialstaats, Frankfurt: Campus 2000

Opielka, Michael: Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichende Perspektiven, Reinbek: Rowohlt 2004

ders.: »Der ›weiche Garantismus‹ der Schweiz. Teilhaberechte in der Sozialpolitik«, in: Bulletin NFP 51, 2, 2005, S. 1–6

ders.: »Die Idee einer Grundeinkommensversicherung. Analytische und politische Erträge eines erweiterten Konzepts der Bürgerversicherung«, in: Strengmann-Kuhn, Wolfgang (Hrsg.): Das Prinzip Bürgerversicherung. Die Zukunft im Sozialstaat, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 99–139

ders.: »Gerechtigkeit durch Sozialpolitik?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8-9, 2006.

Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt: Suhrkamp 1975

Wiesenthal, Helmut: »Abschied von einigen Illusionen. Die GRÜNEN in der Opposition: am liebsten ehrlich, nüchtern und tabulos – ohne Nostalgie«, in: Schrägstrich 05-12, Dezember 2005, S. 15 ff.