Victor Pfaff

 

Aufbruch, Umbruch, Abbruch?

Afghanistan braucht eine neue politische Kehrtwende

 

 

Afghanistan befindet sich im Aufbau – und könnte doch in die nächste Katastrophe schlittern. Der US-Militäreinsatz, zunächst willkommener Schlag zur Befreiung von der Taliban-Herrschaft, wird zunehmend zur Belastung und als unerträgliche Besetzung begriffen. Der Petersberg-Prozess hat die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen können, im Gegenteil, so unser Autor, die chaotischen Verstrickungen nehmen zu. Ohne radikale politische Kehrtwende kann das Land sich nicht erholen. Auch Deutschland trägt hierfür Verantwortung.

Der Petersberg-Prozess

Dabei hatte im Herbst 2001 alles so schön begonnen! Die USA, unterstützt von den Briten, bombten die Taliban zum Teufel. Eine Abtreibung war das, bedenkt man, dass die Taliban eine Frucht auch der USA sind. Ende November 2001 war die Bundessregierung Gastgeber für »Gespräche der UN«, zu denen 25 afghanische Persönlichkeiten auf den Petersberg bei Bonn geladen waren. Am 5. Dezember 2001 war das »Übereinkommen über vorläufige Regelungen bis zur Wiederherstellung dauerhafter staatlicher Institutionen« fertig. Darin wurde gedankt den »Mudjahedin, deren aufopferungsvoller Einsatz sie nun zu Helden des Dschihad … gemacht hat«. Ein neues Afghanistan sollte errichtet werden »im Einklang mit den Grundsätzen des Islam, der Demokratie, des Pluralismus und der sozialen Gerechtigkeit«. »Seiner Exzellenz Professor Burhanuddin Rabbani«, Führer der Jamiat-e-Islami, der 1993 das Präsidentenamt vereinbarungswidrig nicht abgegeben hatte, wurde für seine Bereitschaft gedankt, sie nun an eine Interimsverwaltung zu übertragen. Der, den die USA im Dschihad bevorzugt mit Geld und Waffen ausgestattet hatten, Gulbuddin Hekmatyar, der Führer der Hezb-e-Islami, saß nicht mit am Tisch.

Man ging den Festlegungen entsprechend an die Arbeit. Eine außerordentliche Loya Jirga, vom greisen Mohammad Zahir Shah eröffnet, der nach 28 Jahren Exil in Rom zum Babay-e-Mellat (Vater der Nation) stilisiert wurde, setzte 2002 eine Übergangsregierung ein. Eine verfassunggebende Loya Jirga verabschiedete im Januar 2004 eine Verfassung. Im Oktober 2004 wurde der US-Schützling Hamid Karzai förmlich zum Präsidenten gewählt.

Das Petersberger Programm umfasst auch den Wiederaufbau einer nationalen Armee, einer zentralen Polizei und einer Justiz. Seit 2003 wird das DDR-Programm verwirklicht (Disarmament, Demobilization, Reintegration): Die auf Sold-Listen geführten bewaffneten Truppen der Nord-Allianz galt es ins zivile Leben oder in den Aufbau der neuen Streitkräfte zu überführen. Schließlich hatten die Konferenzteilnehmer den Sicherheitsrat der UN gebeten, eine militärische Schutztruppe zu entsenden, die dazu beitragen sollte, »die Sicherheit in Kabul und Umgebung zu gewährleisten. Diese Truppe könnte gegebenenfalls nach und nach auch in anderen Städten und weiteren Gebieten eingesetzt werden.«

So kam ISAF nach Kabul. So kam Deutschland wieder nach Afghanistan, diesmal in Uniform und bewaffnet. In Zivilmontur waren die Deutschen in Afghanistan präsent seit dem Abzug der Briten 1919, also seit der Unabhängigkeit des Landes. Mit Schulbau, Schulunterricht in deutscher Sprache (Amani-Oberrealschule, 1923; ein nicht geringer Teil der afghanischen Führungselite besuchte diese Schule, auch Babrak Karmal war einer der Absolventen), mit vorzüglichen Lehrwerkstätten zum Beispiel in Kandahar, mit Studentenaustausch, mit Handel und Industrieansiedlung und – mit Gefängnisbau (Pol-e-Charkhi, 1972). Deutschland, so lernt man am Hindukusch, ist der »Onkel Afghanistans«.

Im Januar 2004 trat die von einer 502-köpfigen außerordentlichen Loya Jirga verabschiedete Verfassung in Kraft. Auf ihrer Grundlage konnte im November 2004 Karzai demokratisch legitimiert zum Präsidenten gewählt werden und konnten am 19. September 2005 freie, geheime und direkte Wahlen zum Unterhaus (Wolesi Jirga) abgehalten werden. Damit war der Petersberg-Prozess formal abgeschlossen. Aber nicht nur das Staatsgerüst ist erstellt. Das Unterrichtswesen kommt in Gang, die Mädchen können wieder zur Schule gehen. Amani ist prächtig renoviert. In Kabul schießen Villen und Glaspaläste aus dem Boden. Die jeunesse dorée der reichen Rückkehrer trifft sich in Kabul in Luxusrestaurants und (privaten) Diskotheken. Herat, die »Perle von Khorassan«, hat in den Augen des Besuchers seine Vorkriegsschönheit zurückgewonnen.

Das Haus hat faustdicke Risse

Es ist Allgemeingut: Die Sicherheitslage verschlechtert sich. Dabei denkt man hierzulande an die wachsende Zahl von Angriffen auf NGO-Mitarbeiter, gleichgültig, ob sie Minen räumen oder Aufbauarbeit leisten, man denkt an die wachsende Zahl der Anschläge, darunter seit einiger Zeit sich häufende Selbstmordanschläge. Längst sind es nicht mehr entlegene Bergregionen, in denen es die »Enduring Freedom Forces« mit OMF – Opposing Military Forces – zu tun haben. Gekämpft wird in vielen Provinzen Afghanistans, vorwiegend im südlichen Gürtel, aber nicht nur dort.

Aber schlechte Sicherheitslage heißt mehr und hat nicht nur mit Taliban und al-Qaida zu tun. Afghanistan ist im Griff der organisierten Kriminalität: Raub, Landraub, Medikamentenfälschung, Drogenschmuggel und -handel sind an der Tagesordnung. Nicht selten ist die Polizei mit von der Partie. Besonders katastrophal ist, dass Kinder entführt werden. ISAF hat im Jahr 2004 allein im Raum Kabul 160 Fälle registriert. Mädchen und Jungen im Alter von 5 bis 15 Jahren werden entführt für Zwecke der Organtransplantation, Erpressung, Verschleppung in die Arbeits- und Kriegssklaverei und in den Sexualmissbrauch. Nichts zeigt besser als diese Sorte von Kriminalität, dass ein Vierteljahrhundert Krieg nicht nur die materiellen und rechtlichen, sondern auch die sittlichen Grundlagen einer Gesellschaft schwer beschädigt. Über allem liegt die monströse Krake namens Korruption. Kein Lebensbereich, der nicht in ihrem Griff wäre. Da ist es Bedingung für das Überleben, dort ist es schamlose Bereicherung und wieder anderswo traditionelle Lebensform. Es ist nicht wunderlich, dass in dieser Situation eine Gesellschaft sich eher an überkommene Lebensformen klammert, also an Stammesbrauchtum und religiös begründete Gepflogenheiten, statt sich Werten der Aufklärung zu öffnen, um deretwillen angeblich in Afghanistan gekämpft wird.

Die neue Verfassung

Deutlich wird das an der Verfassung: Afghanistan ist eine Islamische Republik. Der Islam ist Staatsreligion. Art. 2 Abs. 1 der Verfassung legt fest: »Die Religion des Staates der Islamischen Republik Afghanistan ist die heilige Religion des Islam.« Das ist nicht neu. Nicht, dass es so ist, ist bemerkenswert, sondern dass es nicht immer so war.

Zweimal gab es einen Anlauf, aus Afghanistan einen laizistischen Staat zu bilden oder doch wenigstens einen Staat, der verfassungsrechtlich nicht an den Islam gebunden war. Beide Experimente scheiterten mit weitreichenden, bis heute spürbaren Folgen.

Emir Amanullah, seit Frühjahr 1919 noch unter britischer Herrschaft auf dem Kabuler Thron und seit der Unabhängigkeit des Landes im August 1919 Herrscher eines souveränen Afghanistan, verkündete am 10. April 1923 eine konstitutionelle Verfassung nach den Prinzipien Atatürks. Zunächst war der (sunnitische) Islam noch Staatsreligion. 1928 aber dekretierte – jetzt: König – Amanullah die Trennung von Staat und Religion, ferner das Verbot des Schleiers, der Polygamie und der Purdah (Wegschließen der Frau). Zwar erhielt er die Zustimmung einer Loya Jirga, gleichzeitig aber verlor er seine Macht und flüchtete im folgenden Jahr zunächst nach Kandahar, dann nach Rom, wo er 1960 starb. Sein Nachfolger Nader Schah (1930–1933) verankerte den Islam wieder als Staatsreligion in der Verfassung von 1931 und erklärte die Sharia zur allgemein gültigen Rechtsordnung.

Als am 1. Oktober 1964 König Mohammad Zahir Schah, als Vater der Nation verewigt, eine neue Verfassung verkündete, hatte auch er den Islam zur Staatsreligion erhoben. Darüber hinaus hatte er die (sunnitische) hanafitische Schule als Grundlage des gesamten staatlichen Handelns festgelegt. Damit war eine Diskriminierung der schiitischen Minderheit verbunden, obwohl in demselben Artikel die Religionsfreiheit verbürgt war. Diesen Fehler versucht die Verfassung von 2004 zu vermeiden. Zwar bestimmt auch sie die hanafitische Rechtslehre als Auffangrecht. Sie nimmt aber Rücksicht auf die schiitische Minderheit, wenn es in Art. 131 heißt: »Gerichte wenden nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen in Fällen, in denen es um die persönlichen Angelegenheiten der schiitischen Gläubigen geht, den Schia-Rechtskodex an.«

Einen weiteren Versuch einer Laizierung wagte Mohammad Daud Khan, der sich 1973 an die Macht geputscht hatte, während sein Vetter, König Mohammad Zahir Schah, in Rom weilte. Er verkündete 1977 eine republikanische, aber undemokratische Verfassung, die eine Mischung aus Sozialismus und Nationalismus war. Der Islam verlor in der Rechtsprechung an Bedeutung. Auch diese Verfassung hatte eine Loya Jirga gebilligt. Im April 1978 wurde Daud Opfer eines Staatsstreiches und ausgerechnet seine »kommunistischen« Nachfolger revidierten diesen Schritt ihres Vorgängers. Unter Babrak Karmal wurde auf Beschluss eines »Hohen Rates der Geistlichkeit und Mullahs« im April 1981 der Islam wieder Grundlage der Verfassung. Sein Nachfolger Najib versuchte, als die UdSSR ihre Militärmaschinerie aus Afghanistan abzog, seine Herrschaft und seine Haut zu retten, indem er 1989/90 von einer Loya Jirga eine Verfassung verabschieden ließ, in welcher der Islam zur Staatsreligion erhoben wurde; er selbst nannte sich fortan Najibullah.

Das Bekenntnis zum Islam und zum islamischen Recht durchzieht die Verfassung von 2004 wie ein grüner Faden. In Art. 2 wird »die heilige Religion des Islam« als Staatsreligion festgeschrieben und in Art. 3 heißt es: »In Afghanistan darf kein Gesetz dem Glauben und den Bestimmungen der heiligen Religion des Islam widersprechen.« Damit werden der Koran und die Sharia zum Maßstab allen staatlichen und gesellschaftlichen Handelns, auch des gesetzgeberischen, erhoben. Das wird bestärkt in der Staatsflagge, auf der das Grundbekenntnis des Islam prangt: »Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammad ist sein Gesandter.« Das Recht, politische Parteien zu gründen, ist gewährleistet, »vorausgesetzt, dass 1. Programm und Satzung der Partei den Prinzipien der heiligen Religion des Islam ... nicht widersprechen.«

Auch das Bildungsprogramm ist islamisch-religiös ausgerichtet. Der Staat ist verfassungsrechtlich verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen »zur Verbesserung der Lage der Moscheen, der religiösen Schulen (madaris) sowie der religiösen Zentren«. Die Lehrpläne sind religiös auszurichten: »Der Staat entwickelt und verwirklicht einen einheitlichen, auf den Vorschriften der heiligen Religion des Islam, der nationalen Kultur sowie wissenschaftlichen Methoden beruhenden Lehrplan. Der Lehrplan für den Religionsunterricht an den Schulen wird auf der Grundlage der in Afghanistan existierenden islamischen Glaubensrichtungen (mazahib) zusammengestellt.« Das Familienleben bleibt nicht frei von staatlichem Eingriff auf der Grundlage der Sharia. Art. 54 regelt das Verhältnis Familie-Staat. Die Familie steht unter dem Schutz des Staates, aber der Staat ist verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen »zur Beseitigung von Traditionen, die den Bestimmungen der heiligen Religion des Islam widersprechen«. Der Staatspräsident ist durch Amtseid verpflichtet, der heiligen Religion des Islam zu gehorchen und sie zu schützen. Ein Herrscher, der nicht als Beschützer der Religion des Islam angesehen wird, hat keine Chance, sich an der Macht zu halten. Beteuerungen helfen nicht. Diese Erfahrung hatten König Amanullah, Präsident Daud, aber auch die Präsidenten der »kommunistischen« Zeit machen müssen: Taraki, Amin, Karmal und Najib.

Afghanistan setzt also unter Berufung auf den Koran den Weg der Gleichsetzung von Islam und Staat fort, und zwar unter den Augen derer, die sich berufen sehen, Afghanistan auf dem Weg in die Moderne zu helfen. Es wird das Missverständnis fortgesetzt, die islamische Religion oder gar der Koran schrieben Identität von Staat und Religion vor. Das ist keineswegs so. Betrachtet man die neuere Geschichte, in der von Staat im heute gebräuchlichen Sinn gesprochen werden kann, dann stellt man fest, dass erst im 20. Jahrhundert das koranische Prinzip von »glauben und Gutes tun«, von Gottesdienst und Handlung gewandelt wurde in »Glaube und Gesetz« und in »Religion und Staat«. Tatsächlich entspricht das Schlagwort vom Islam als Einheit von Religion und Staat weder der Lehre des Islam noch dem tatsächlichen Verlauf der Geschichte. Erst die Abschaffung des Kalifats führte zur Vorstellung, der Staat sei nötig, um die Religion zu festigen; ohne islamischen Staat sei der Glaube verloren. Dass der Koran schon früh in der politischen Auseinandersetzung instrumentalisiert wurde, ist freilich unbestreitbar. Aber das Dogma, die Autorität des Korans und der Sharia gingen über den Glauben hinaus und erfassten alle Bereiche der Gesellschaft und des Wissens, ist nicht Bestandteil der Religion Islam, sondern Auffassung seiner politischen Interpreten.

Die afghanische Verfassung von 2004 tradiert also eine reaktionäre Auffassung des Verhältnisses von Staat und Religion.

Die Integration aller Übel

Der frühere Verteidigungsminister Struck hatte im August 2005 beim Besuch des von deutschen Soldaten geführten PRT (Provincial Reconstruction Team) in Feizabad, Nordost-Provinz Badakhshan, gesagt: »Wenn wir gehen würden, würden wir den Warlords und al-Qaida das Feld überlassen, und alle Stabilisierungsbemühungen wären vergebens.« (FAZ, 31.8.05) Ach ja? Lassen wir al-Qaida beiseite. Die »Warlords« – reden wir lieber von Milizenführern und Dschihadisten – sitzen doch längst am Hofe zu Tisch. Hat Herr Struck vergessen, dass sich diese Männer auf dem Petersberg und in der Präambel der Verfassung für ihre Taten hatten rühmen lassen? Dass der US-Botschafter Khalilzad, als er von Bagdad nach Kabul wechselte, zunächst diesem Personenkreis seine Aufwartung machte? Dass Präsident Karzai, unterstützt von den USA, ein Wahlsystem ohne jedes repräsentative Element durchgesetzt hatte und damit Milizenführer begünstigte? Legitimiert wurde das vordergründig mit den schlechten Erfahrungen mit den Parteien in der kommunistischen Zeit (Demokratische Volkspartei mit den Flügeln Khalk und Parcham) und dem Wirken der so genannten Peschawar-Parteien im pakistanischen Exil. Tatsächlich war dieses Wahlsystem ein Kotau vor eben den Milizenführern und ihren Interessen. Entweder sie saßen schon in hohen und höchsten Regierungsämter wie der usbekische »General« Dostum, ein Massenschlächter von historischer Qualität, oder wie Mohammad Daud, dessen Familie den Drogenanbau mitkontrolliert, oder wie Ismail Khan, der Fürst von Herat. Oder sie sitzen jetzt im Parlament wie der Führer der Hazara-Partei Wahdat, Haji Mohammad Mohaqiq, der maßgeblich daran beteiligt war, Teile Kabuls 1993/94 in Schutt und Asche zu legen, der Jamiat-e-Islami-Führer Rabbani, der Pandjiri Yunus Qanuni und so weiter. Aber auch drei (ehemalige) Taliban wurden gewählt. Zwar hatte das Wahlgesetz vorgeschrieben, kandidieren dürfe nur, wer entwaffnet sei. Von den 200 Kandidaten, die über bewaffnete Anhängerschaft verfügten, wurde aber nur rund ein Dutzend von der Teilnahme an der Wahl ausgeschlossen.

Es ist die Politik der USA und ihres Statthalters Karzai, den Widerstand zu integrieren – in der Hoffnung, ihn so zu neutralisieren. Tatsächlich ist auf diese Weise alles integriert, was es laut »Petersberg« zu bekämpfen und zu überwinden gilt: der Drogenhandel, unkontrolliertes bewaffnetes Milizentum, Korruption in großem Stile, die Verflechtung von Wiederaufbau und Verbrechen und schließlich eine culture of impunity.

Afghanistan steht angeblich an einem Scheideweg: Der Petersberg-Prozess ist abgeschlossen, die Sicherheitslage ist miserabel. Die wirtschaftlichen Fortschritte sind den Massen bis jetzt kaum zugute gekommen. Quo vadis? Das Hauptproblem des Landes bleibt: Solange die USA unter dem Mantel von Enduring Freedom in Afghanistan ihre eigenen strategischen Ziele verfolgen, kann es keine Fortschritte geben.

Die USA in Afghanistan

Gibt es eine bessere Quelle als hohe ISAF-Offiziere? Sie räumen ein, nicht einmal hinter vorgehaltener Hand, dass das US-Militär den Afghanen zutiefst verhasst sei. Erstens ist es, vordergründig, die Art und Weise des Auftretens. Die Zivilbevölkerung leidet, sei es, weil da eine Hochzeitsgesellschaft, dort eine friedliche Ansammlung von Frauen und Kindern bombardiert wird, sei es, weil in Kabul fortlaufend Straßenzüge gesperrt werden, wo immer US-Militär sich bewegt, sei es, weil bei Razzien oder sonstigen unmittelbaren Kontakten mit der Bevölkerung die einfachsten Regeln des Respekts missachtet werden. Dass Häftlinge auch in Afghanistan von US-Militär erniedrigend behandelt werden, spricht sich herum. Dass ausgerechnet Präsident Karzai, der keinen Tag ohne US-Schutz überleben könnte, das US-Militär in unregelmäßigen Abständen öffentlich abmahnt, zeigt den Druck. Ein Beispiel: »Ab sofort keine Wohnungsdurchsuchung mehr ohne Erlaubnis der Regierung in Kabul«, musste Karzai zur Beruhigung der Massen verlautbaren (FAZ, 21.9.05).

Hauptsächlich geht es aber darum, dass die anfängliche Erleichterung über die US-Unterstützung bei der Vertreibung der Taliban der Gewissheit gewichen ist: Die USA sind neue, dauerhafte Besatzungsmacht. Außenministerin Rice hat bei ihrem Besuch in Kabul im Oktober 2005 daraus keinen Hehl gemacht (FAZ, 13.10.05). Ein dreifaches Interesse steht hinter dieser Politik. Zum einen werden die ökonomischen Interessen weiterverfolgt, deren Realisierung die Förderung der Taliban dienen sollte: Afghanistan als Transitland bei der Ausbeutung von Bodenschätzen im usbekischen Becken zu nutzen. Zweitens wird in den Westprovinzen Herat, Farah und Nimrouz die Errichtung von Militärbasen vorbereitet, die auch der Einkreisung Irans dienen. Drittens soll Afghanistan neben Irak dem US-Einflussgebiet im Mittleren Osten zugerechnet werden können. Nicht nur Karzai weiß, dass die afghanischen Stämme, Parteien, Völker eine Okkupation, unter welchem Vorwand auch immer, auf Dauer nicht zulassen werden. Und Karzai bekommt den Druck besonders zu spüren. Denn das traditionell tiefe Misstrauen der Provinzen gegen die Zentrale Kabul, von der im Lauf der Geschichte immer wieder Zeichen der »Gottlosigkeit« ausgegangen sind, ist besonders brisant, wenn das Kabuler Oberhaupt mit Kräften verbündet war, die als Fremdherren und Okkupanten erlebt wurden. Die Briten hatten 1842 in Afghanistan die größte Niederlage ihrer gesamten Kolonialgeschichte erleiden müssen; die riesige Indus-Armee wurde restlos vernichtet. Den Russen ging es in den Jahren 1979 bis 1988 nicht besser. Den USA droht trotz Waffenüberlegenheit das gleiche Schicksal. Das sagen auch besonnene, friedfertige Persönlichkeiten. Im Augenblick profitieren die USA nur von der Erschöpfung der Mudjahedin nach 23 Jahren Krieg und Bürgerkrieg. Aber, eine hoch angesehene Persönlichkeit, die seit Jahrzehnten mit den »Amerikanern« zu tun hat, sagte kürzlich in Kabul: »Die Amerikaner hören auf niemanden. Sie ziehen den Hass der Bevölkerung auf sich. Wenn die Afghanen zu den Waffen griffen, würden die Amerikaner ein schlimmeres Schicksal erleiden als im Irak.«

Karzai macht gelegentlich hilflose Zuckungen, die als Rückzieher verstanden werden müssen. Just in dem Moment, als die US-Militärstreitkräfte die Binnenkämpfe ausgedehnt haben, mahnte Karzai »einen neuen Ansatz für die Bekämpfung von Aufständen« an. »Die Notwendigkeit größerer Militäraktionen haben nachgelassen; Luftangriffe seien nicht mehr effektiv. Ausländische Regierungen sollten sich vielmehr darauf konzentrieren, wo Terroristen ausgebildet werden, auf ihre Stützpunkte, auf ihre Versorgung mit Nachschub, auf das Geld, das sie erhalten.« (FAZ, 21.9.05) Karzai weiß, dass es schon lange keine scharfe Trennlinie mehr gibt zwischen al-Qaida, den Taliban und Hekmatyar auf der einen Seite und afghanischen bewaffneten Kräften, darunter Milizenführern, auf der anderen Seite. Längst hat die amerikanische Präsenz dazu geführt, dass sich der Widerstand ausdehnt. Das gilt zum Beispiel für die wichtige Ostprovinz Nangahar, durch die die Straße von Kabul über Jalalabad nach Peshawar führt.

Die USA sehen nicht gern, dass sie bei der Bevölkerung verhasst sind, während die ISAF-Kräfte, darunter die Deutschen besonders, beliebt sind. Das mag der Grund sein, warum die US-Militärführung seit längerem versucht, die Enduring-Freedom-Streitkräfte und die ISAF unter eine einheitliche Kommandostruktur zu bringen. Es wird argumentiert, die Koordinierung und die Synergie zwischen dem Stabilisierungsauftrag der ISAF und dem Kampfauftrag der Enduring Freedom Forces sollten verbessert werden. Der ISAF-Kommandeur soll einen zweiten, amerikanischen Stellvertreter erhalten, dem die Enduring-Freedom-Truppen unterstehen sollen. Der Befehlsstrang zum Hauptquartier in Florida allerdings soll bestehen bleiben. Es gab heftigen Widerstand gegen diesen Plan. Einstweilen sei er vom Tisch, ließ NATO-Generalsekretär De Hoop Scheffer im November 2005 verlauten. Trotzdem sind die ISAF-Soldaten, die deutschen auch, ins Visier des Terrors geraten. Der Aufwand der ISAF-Kräfte für den Eigenschutz wächst und verringert damit die Bewegungsfreiheit und den Nutzen bei Erfüllung des Petersberg-Auftrages.

Gibt es eine Lösung?

Auf der Grundlage einer Resolution des Sicherheitsrates der UN sollte im Dezember 2006 eine Konferenz unter Leitung der UN einberufen werden. Die Bundesrepublik Deutschland mag den Petersberg erneut als Tagungsort anbieten. Neben Vertretern des afghanischen Staates nehmen solche von Enduring Freedom, ISAF und den Geberstaaten teil. Außerdem sollten Iran und Pakistan mit am Tisch sitzen. Das wäre nicht nur ein Akt der Höflichkeit, nachdem diese Staaten insgesamt sechs Millionen Flüchtlinge jahrzehntelang beherbergt haben. Vor allem aber gehen von pakistanischem Boden destabilisierende Aktionen aus. Das vorbereitete Schlusskommuniqué sollte im Kern enthalten:

1. Alle militärischen Kampfhandlungen werden eingestellt.

2. Es wird in Afghanistan eine nationale Versöhnungskonferenz unter Einschluss der Taliban und der Hezb-e-Islami einberufen.

3. Diese Konferenz einigt sich auf die Einsetzung eines regierungsunabhängigen Gelehrten-Rates bei gleichzeitigem Abzug aller ausländischen Militärkräfte.

4. Die Völkergemeinschaft unterstützt weiter den Aufbau Afghanistans; die Hilfe wird ausschließlich durch die UN koordiniert.

So jedenfalls sollte die Richtung sein. Ansätze dafür existieren. In der afghanischen Verfassung ist eine Versöhnungskommission vorgesehen. Ihr Präsident ist der in ganz Afghanistan hoch angesehene Professor Sibghatullah Mojaddedi, ein Geistlicher der islamischen Sufi, ausgebildet in Rechtswissenschaft einschließlich islamischem Recht an der Al-Azhar-Universität in Kairo (bis 1952), von 1959 an viereinhalb Jahre in Haft unter härtesten Umständen und seit 1973 jahrzehntelang im Exil, unter anderem in Skandinavien. Mojaddedis Lebenswerk ist gerichtet auf nationale Befreiung und nationale Versöhnung. Von 1989–1992 präsidierte er einem Zusammenschluss der sieben »Peshawar-Parteien« und war nach dem Sturz des Najib-Regimes erster Präsident des Islamischen Staates Afghanistan. Sofort hatte er eine Amnestie verkündet, um ein Versöhnungswerk in Gang zu setzen, welches auch den verheerenden Bürgerkrieg 1993/94 verhindern sollte. Wenn Mojaddedi von Versöhnung spricht, kommt das aus berufenem Munde. Präsident Amin ließ Anfang 1979 in einer Nacht 109 Mitglieder der Familie Mojaddedi ermorden. Mojaddedi hat seine Unabhängigkeit stets unerschrocken bewiesen. Im April 2005 sagte er dem Verfasser in Kabul: »Auch in der Vergangenheit gab es immer Islamisten, die behaupteten, Muslime zu sein, aber Krieg geführt haben, wie Dostum und die Taliban. Auch die jetzige Regierung sagt, sie sei islamisch.«

Karzai hatte am 8. Januar 2006 in Kabul den Taliban Versöhnung angeboten: »Wir hätten gern, dass alle Afghanen, Taliban oder Nicht-Taliban, in ihr Land zurückkommen. Es ist ihre Heimat und sie sind willkommen.« (FAZ, 9.1.06) Während Karzai das erklärte, flogen US-Kampfmaschinen Einsätze gegen die brüderlich Umworbenen. So funktioniert das nicht. Das muss auch Karzai wissen. Auffällig aber ist, dass Mojaddedi sich am 9. Mai 2005 mit gleichem Appell an die Taliban und Hekmatyar gewandt hatte, von Karzai aber Widerspruch erfahren und deshalb seine Äußerung zwei Tage später relativiert hatte. Dass Karzai sich jetzt selbst so geäußert hat, könnte als Zeichen gewertet werden: Der Präsident und das frisch gewählte Parlament beginnen, sich aus der Umklammerung der Befreier zu befreien.

Es ist völlig ausgeschlossen, Afghanistan eine weltliche Ordnung nach europäischen Muster aufzupfropfen. Nach wie vor beherrschen (nichtreligiöse) tribale und islamische Strukturen das gesamte private und öffentliche Leben. Afghanistan braucht für die Überwindung der Kriegsfolgen nichts weniger als eine neue militärische Okkupation. Afghanistan braucht Reparationsleistungen Russlands, internationale Hilfe – und viel Zeit beim Wiederanknüpfen an die Entwicklung, die in den Sechziger- und der ersten Hälfte der Siebzigerjahre stattgefunden hat. Deutschland, der »Onkel Afghanistans«, kann beim Aufbau neben anderen große Hilfe leisten. Wenn aber kein Weg aus der Sackgasse gefunden wird, läuft Deutschland Gefahr, in einen Schlamassel zu geraten, den es im Irak klugerweise vermieden hat.