Roger Keil / S. Harris Ali

 

Lektionen aus der SARS-Epidemie

Beobachtungen zur »Vogelgrippe« aus Toronto

 

 

Seit der SARS-Krise in Toronto 2003 untersuchen unsere Autoren zusammen mit einer Gruppe von Wissenschaftlern und Studierenden an der York University Toronto die Zusammenhänge von Urbanisierung und neuen Infektionskrankheiten und den sozialen und gesundheitspolitischen Veränderungen in der Folge des damaligen Ausbruchs. Die Globalisierung hat eine neue qualitative Stufe bei den bereits bewältigt geglaubten Infektionskrankheiten hergestellt. Dem steht der Westen mit seiner sozialen Abrüstungspolitik schlecht, der globale Süden gar nicht vorbereitet gegenüber.*

Während die H5N1-Vogelgrippe im Herbst 2005 um den Erdball rast und infizierte tote Vögel inzwischen nahezu überall zwischen China und Westeuropa gefunden werden, ist in Teilen der Welt die Erinnerung an die letzte weltweit wahrgenommene Infektionskrankheit noch lebendig. Im Frühjahr 2003 sorgten Ausbruch und rasante Verbreitung eines neuen Virus, Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom (SARS) für Aufregung, vor allem in Ostasien und Kanada. Damals waren 8069 Menschen infiziert worden, mindestens 773 starben weltweit. Ein Problem der »unspezifischen« Symptome von SARS – neben »normalen« Grippesymptomen starke Atembeschwerden und oft katastrophale Lungenbeschwerden – war die relativ schwere Diagnostizierbarkeit insbesondere zu Beginn der Epidemie. In Toronto erlagen 44 Menschen den Folgen des vorher unbekannten Coronavirus. Mindestens 213 Individuen wurden in der kanadischen Metropole mit SARS infiziert, mehr als 13.000 Menschen wurden zu verschiedenen Zeiten für etwa 10 Tage in Quarantäne beordert, und finanzielle Verluste in Millionenhöhe waren vor allem im Hotel- und Gastronomiegeschäft zu verzeichnen, als Konferenzen und Kongresse abgesagt wurden und Restaurants leer blieben. Was waren die Lehren, die wir aus der Erfahrung mit SARS ziehen können, was Identifizierung, Kontrolle, Erfassung und erfolgreiche Bekämpfung des Virus anbelangt? Was können uns diese Erfahrungen in Bezug auf einen möglichen Ausbruch von H5N1 mitteilen?

Man muss vorausschicken, dass es zwischen den beiden Krankheiten große Unterschiede gibt. Lokale Übertragung von SARS in Toronto etwa war fast ausschließlich auf Krankenhäuser beschränkt, während die Rolle von Superspreaders im globalen Maßstab beachtlich war. Damit bezeichnet man Individuen, die zum Beispiel über ein Hotelzimmer im Metropole Hotel oder Wohnungen in der Amoy-Gardens-Siedlung in Hongkong die Erreger an andere Menschen weitergaben, die dann den Virus in die ganze Welt verteilten. Auf diese Weise kamen auch die einzigen in Deutschland bekannten SARS-Patienten, eine Familie aus Singapur, nach Frankfurt.

Die Vogelgrippe hingegen ist bisher vor allem durch Ansteckung von Menschen an Vögeln in landwirtschaftlichen und lebensmittelindustriellen Kontexten verbreitet worden. Obwohl beide Krankheiten ihren Ursprung in Tierkörpern haben, besteht – bisher – nur bei SARS auch zwischen Menschen direkte Ansteckungsgefahr. H5N1 scheint diesen Sprung noch nicht gemacht zu haben. Es bedarf des Vektors wandernder oder transportierter Vögel und ist – noch – meist ungefährlich für Menschen. SARS überraschte die Weltöffentlichkeit und die medizinische Fachwelt. Die Vogelgrippe hingegen ist seit Jahren auf den Radarschirmen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf und des Centers for Disease Control in Atlanta. Einen Ausbruch in menschlichen Bevölkerungen halten Experten schon lange für wahrscheinlich. Es ist der erwartete nächste Schub einer zyklischen globalen Influenzaepidemie, die jede Generation stattfindet. Der schlimmste dieser zyklischen Ausbrüche war die so genannte Spanische Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs 1918–19 mit mindestens 40 Millionen Todesopfern weltweit.

In erster Hinsicht haben wir durch die SARS-Epidemie unmissverständlich gelernt, dass die Welt eine Einheit ist. Es gibt auf der Erde keinen Ort, wo Sicherheit vor Infektionskrankheiten gewährleistet ist. Ein Jahrhundert gesundheitspolitischer Forschritt und allgemeiner Wohlstand stellte dem Virus in Toronto kein Hindernis in den Weg. Jeder konnte infiziert werden, viele wurden sehr schwer krank, und manche von ihnen starben.

Die sozio-technologische Konnektivität zwischen Kollektiven und Bioregionen auf der ganzen Erde, die früher durch Ozeane, Wüsten und andere kaum überbrückbare Distanzen voneinander getrennt waren, hat nun vorher unerreichte Ausmaße angenommen. Im Besonderen hat sich dies für die Metropolregionen der Welt geändert, die aufgrund des zugenommenen Luftverkehrs in unmittelbare Nachbarschaft zueinander gebracht wurden. Dies stellt bisher nicht gekannte Anforderungen an die Gesundheitsbehörden von Städten und Regionen. Die Aufmerksamkeit der Gesundheitspolitik muss daher nun auf die Verbindungen zwischen Städten anstatt lediglich auf die Verbindungen zwischen Staaten gelenkt werden (Ali/Keil 2005).

Die Geografie der Globalisierung stellt sich bei näherem Hinsehen auch als eine Geografie der Krankheiten heraus. Die Verbreitung von Ansteckungskrankheiten widerspiegelt und wirft Licht auf die wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Beziehungen, die jetzt den Globus umspannen. Was die Flugrouten von Menschen und Vögeln jetzt gemeinsam haben, ist, dass sie vorher kaum vernetzte Stationen der globalisierten Produktion und Konsumtion in Verbindung bringen – die Hotels und Flughafenwartesäle von Hongkong und Toronto sowie die Geflügelbatterien und Schlachthöfe Thailands mit den Verbrauchermärkten in China und im Westen. Im Falle von SARS waren es die Global Cities, die am meisten betroffen waren. Die städtische »Clique« von Toronto, Singapur und Hongkong mit ihren spezifischen demografischen und ökonomischen Beziehungen wurde von dem Virus besonders betroffen. Dies mag bei einer zukünftigen Pandemie anders sein. H5N1 wird vielleicht eine andere Kategorie Orte verbinden als Global Cities. Aber die Vogelgrippe verbindet jetzt schon vorher nicht vernetzte Punkte in der globalen Landschaft (Davis 2005).

Dies beendete die jahrzehntelange westliche Überheblichkeit und Nachlässigkeit, die sich in der oft geäußerten Überzeugung kundtaten, dass es Zeit für die hoch entwickelten Länder sei, das Kapitel über Infektionskrankheiten für abgeschlossen zu erklären und sich nun darauf zu konzentrieren, den globalen Süden ebenfalls davon zu befreien. Der Westen, so dachte man vielerorts, könne sich mit der Bekämpfung von Wohlstandskrankheiten wie Herzinfarkt und Krebs zufrieden geben. Angesichts der Erfahrung mit SARS müssen wir uns im Westen jetzt nicht nur fragen, wie sicher wir in Bezug auf neue Ansteckungskrankheiten sind, sondern wir müssen begreifen, dass wir nicht unverletzbar sind. Das heißt auch implizit, dass vor allem Europäer und Nordamerikaner ihre arrogante Haltung aufgeben, als unproblematisches Modell für die Entwicklungen im Süden gelten zu wollen. Zudem haben wir mit SARS sowie mit anderen Naturkatastrophen in der jüngeren Vergangenheit – wie die Erdbeben in Südasien und der Orkan Katrina – die Wiederkehr von »Natur« als Akteurin erlebt, womit die gesellschaftlichen Naturverhältnisse neuerdings problematisiert wurden. Dies war von den techno-kapitalistischen Fantasien der Periode nach dem Ende des Kalten Krieges heruntergespielt worden, als das »Ende der Geschichte« und die komplette Herrschaft über die Erde verkündet worden waren. Gekoppelt mit dieser katastrophalen Fehleinschätzung waren die eklatanten umwelt- und gesundheitspolitischen Rückzüge der beiden Bush-Regierungen in den USA und die Aushöhlung der staatlichen Ressourcen im Umwelt- und Gesundheitsbereich infolge neoliberaler Politiken weltweit.

Zweitens müssen wir die Diversifizierung der internationalen Gesundheits-Politik und -Governance verstehen und akzeptieren. Als die WHO 2003 gegen Toronto und andere Städte Reiseempfehlungen aussprach (ein durchaus neuartiges Instrument der internationalen Regulierung von Krankheiten), bewies Torontos damaliger Bürgermeister Mel Lastman in einem Interview mit CNN seine Ignoranz gegenüber der Weltgesundheitsbehörde. Es fiel damals leicht, sich über Lastmans Unkenntnis lächerlich zu machen: Er hätte es kraft seines Amtes besser wissen müssen. Doch die meisten Menschen in Toronto und anderswo wussten damals wenig von und noch weniger über die WHO und ihre Rechte, in Krisenzeiten in die alltäglichen Belange der Krankheitsbekämpfung in allen Orten der Welt einzugreifen. Doch tatsächlich ist die Erkennung, Definition, Behandlung et cetera von Krankheiten überall (und daher die Gesundheit von Menschen) im Verantwortungsbereich der UN-Agentur in Genf, die, wie ein Offizieller uns sagte, »mit Krankheiten im globalen Süden zu tun hatte«. Angeblich hatte die WHO im Norden nichts zu schaffen. Das stellte sich letztlich mit SARS als Trugschluss heraus.

Tatsächlich ist SARS die erste Krankheit einer postwestfälischen Ära, in der die vormals abgeschotteten Grenzen von nationalstaatlichen Gebilden aufbrechen, wie der amerikanische Wissenschaftler David Fidler (2004) berichtet. Unsere Gesundheit beruht auf einem eng gestrickten Netz von gesundheitspolitischen Institutionen, die sich von der lokalen zur globalen Ebene erstrecken und die eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen, privatwirtschaftlichen und staatlichen (inklusive militärischen) Akteuren einschließen. Längst ist die Gesundheitspolitik eine Frage geostrategischer Relevanz geworden, wie eine Sonderausgabe der Zeitschrift Foreign Affairs im Sommer 2005 attestierte. Im Falle von SARS waren es die mittleren Versatzstücke in diesem Puzzle, die unter Druck durchsackten: die Gesundheitsbehörden der regionalen und nationalen Staaten. Statt also die Schuldigen für etwaige Versäumnisse im Schutz vor Infektionskrankheiten bei der WHO oder in den lokalen Behörden zu suchen, lernten wir, unsere regionalen und nationalstaatlichen Institutionen näher in Augenschein zu nehmen. In diesem Zusammenhang wurde auf einen Schlag erneut klar, dass die Verteidigung der öffentlichen Gesundheitspolitik gegenüber den neoliberalen Auszehrungen der letzten Jahre im Vordergrund stehen muss, denn es ist nur durch die gut und nachhaltig finanzierten konzertierten öffentlichen Anstrengungen auf verschiedenen Verwaltungsebenen möglich, dass genügend Ressourcen akkumuliert und mobilisiert werden können, um eine mögliche Pandemie wirkungsvoll bekämpfen zu können.

Auch die Einsicht, dass die Beschäftigten in den Pflegeberufen, die in der ersten Reihe des Kampfes gegen SARS standen, unseren höchsten Respekt verdienen, gehörte in den Verantwortungsbereich der Gesundheits-Governance. Schwestern, Krankenpfleger und Ärzte waren die Hauptbetroffenen des Ausbruchs. Sie wurden von Patienten angesteckt, mussten in Quarantäne, wurden von Nachbarn und Freunden gemieden und von ihren Familien segregiert. Der Schutz der Gesundheit dieser oft prekär Beschäftigten in guten und schlechten Zeiten muss zu den Prioritäten der Gesundheitspolitik überall gehören. In Toronto haben die Gewerkschaften der Schwestern sich diesen Belangen seit SARS mit Nachdruck angenommen. Der Erfolg der Kampagne, den Arbeitskräften im Gesundheitsbereich allen erdenklichen Schutz zukommen zu lassen, entscheidet unter Umständen über die Schlagkräftigkeit der Maßnahmen, die im Kampf gegen die nächste Pandemie ergriffen werden, vor allem wenn die Krankenhäuser wieder zu Herden der Infektion werden sollten, wie es bei SARS der Fall war. In diesem Kontext ist es natürlich bezeichnend, dass die amerikanische Bush-Administration bereits verkündete, dass im Falle von Engpässen in der Versorgung mit antiviralen Medikamenten wie etwa Tamiflu das Militär in einer zukünftigen Grippeepidemie zuerst beliefert werden soll.

Drittens traf SARS das soziale Konstrukt des Multikulturalismus ins Herz, jene Politik und Praxis, die die Kanadier symbolisch so hoch bewerten wie den Nationalsport Eishockey (Keil 2005). Die zumindest am Anfang der Epidemie starke Identifikation von SARS als »chinesische Krankheit« führte lokal und global zu rassistischen Gedanken, Aussagen und Taten. Dies passte in eine generelle gesellschaftliche Disposition, in der in den Worten des Schweizer Historikers Philipp Sarasin die Infektion zum »metaphorischen Kern der Globalisierung« geworden ist (Sarasin 2004). In einer Öffentlichkeit, die mit unnötig wiederholten Bildern von Asiaten mit Masken und »exotischen« Tieren in südchinesischen Bauernmärkten überfüllt war, konnten auch in Toronto, wo fast jeder zehnte Einwohner chinesischer Herkunft ist und wo gewöhnlich ein antirassistischer Konsens den öffentlichen Diskurs beherrscht, rassistische Entgrenzungen notiert werden. Als die Restaurants von Chinatown leer blieben und sich die Fälle von sozialem Ausschluss gegen Torontoer aus Asien häuften, riss das stolze, aber oft selbstgefällige Furnier der multikulturellen Gesellschaftsstruktur der Stadt. Selbst als Toronto selber zum Verbreitungsherd der Krankheit wurde, hielt sich der allgemeine Eindruck in Presse und Öffentlichkeit, dass Krankheiten in markierten und infizierten Körpern von außen eindringen. Die nächste Krankheit wird auch von irgendwoher kommen. Wir müssen also aus der SARS-Krise lernen, dass wir nicht zu den Opfern der Krankheit auch noch die Opfer von Rassismus hinzuzählen müssen. Langfristig könnte der Preis, den wir für Rassismus in solchen Krisen zu zahlen hätten, höher sein als der jeder neu entstehenden Ansteckungskrankheit.

Doch Verhältnismäßigkeit muss gewahrt bleiben. Im Jahre 2004 starben weltweit 3,1 Millionen an HIV/AIDS und eine weitere Million an Malaria. Im Vergleich dazu ist die bisherige Sterberate der Vogelgrippe oder auch fast tausend Menschen, die SARS erlagen, gering. Die menschliche Tragödie der Art, wie wir sie in der Kombination von Erregern und Armut in Afrika heute sehen, ist von einer Proportion, wie wir sie bisher in Amerika, Asien und Europa nicht kennen. Nur sollten wir es bei diesem Gedanken nicht belassen: Wenn H5N1 in einen Virus mutiert, der zwischen Menschen verbreitet werden kann, dann gibt es keine Barriere dafür, dass er – vor allem in Verbindung mit Armut, struktureller Unterentwicklung und imperialistischer Ausbeutung – die gleichen Auswirkungen haben kann wie AIDS oder Malaria. Wer dafür einer drastischen Illustration bedarf, mag sich den Dokumentarfilm Darwin’s Nightmare von Hubert Sauper anschauen. Afrika wird möglicherweise der Kontinent sein, wo die Vogelgrippe ihre meisten Opfer finden wird. Die Krankheit wird global sein, doch das Leiden und das Sterben bleiben abhängig von sozialen Komponenten wie Armut, Urbanisierungsgrad und -form, Gesundheitsversorgung und Unterentwicklung. In Kanada selbst wissen wir über diese Zusammenhänge Bescheid: In den Reservaten der Ureinwohner, vor allem im hohen Norden des riesigen Landes, herrscht eine ähnliche explosive Mischung von Vernachlässigung, Neokolonialismus und Armut, wie der Westen insgesamt sie im globalen Süden vorfindet.

* Einen Überblick über das Forschungsprojekt »SARS and the Global City« (gefördert vom Social Sciences and Humanities Research Council of Canada) schafft www.yorku.ca/sars2003.

Ausgewählte Literatur:

Ali, Harris/Keil, Roger (2006): »Global Cities and the Spread of Infectious Disease: The Case of Severe Acute Respiratory Syndrome (SARS) in Toronto, Canada«, in: Urban Studies, 43,3 (March)

Davis, Mike (2005): Monster at Our Door: The Global Threat of Avian Flu, New York/London: The New Press

Fidler, David P. (2004): SARS, Governance and the Globalization of Disease, Houndmills Basingstoke, UK: Palgrave

Garrett, Laurie (2005): »The Next Pandemic?«, in: Foreign Affairs, Juli-August, S. 3–23

Sarasin, Philipp (2004): »Anthrax«: Bioterror als Phantasma, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Keil, Roger (2005): »Scale, Raum, Stadt: Differenz und Alltagsleben in Toronto«, in: DISP, Nr. 161, S. 60–70

Mayer, Ruth/Weingart, Brigitte Hrsg. (2004): Virus: Mutationen einer Metapher, Bielefeld: transcript Verlag

Für einen medizinisch informierten Überblick zu SARS siehe: www.sarsreference.com