Michael Ackermann

 

Editorial

 

 

Mehr Freiheit wagen«, hat Kanzlerin Angela Merkel den Deutschen für das neue Jahr empfohlen. Die Freiheit als Wagnis und nicht als ein Versprechen auf Glück, das hätte Hannah Arendt, deren 100. Geburtstag es in diesem Jahr zu feiern gilt, gewiss gefallen. Doch stand Arendt dem Verfolgen des privaten Wohls zum Nachteil des Gemeinwesens ablehnend gegenüber. »Sehen Sie«, sagte sie in einem Fernsehgespräch mit Günter Gaus 1964, »die Sache mit dem Nur-noch-Arbeiten-und-Konsumieren, die ist deshalb so wichtig, weil sich darin wieder eine Weltlosigkeit kundtut. Es liegt einem nichts mehr daran, wie die Welt aussieht. … Im Arbeiten und Konsumieren … ist der Mensch wirklich völlig auf sich selbst zurückgeworfen.« So auf sich zurückgeworfen wird der Einzelne blind für die Wichtigkeit »gemeiner Güter«, die Arendt gerne mit dem Begriff vom gesellschaftlichen Reichtum auszeichnete. Manche verwechseln diesen Begriff immer noch mit Gewinnmaximierung als ultima ratio für alle.

Das Unverständnis darüber, »wie die Welt aussieht«, zeigt sich auch in der undifferenzierten Redefigur vom überbordenden Staat, der im nächsten Moment dann doch wieder dafür sorgen soll, dass es bald mehr Kinder gibt, familienfreundlicher zugeht oder die Bürgerin und der Bürger nicht unter einstürzenden Hallendächern zu Tode kommen. Sollte die Politik es also wirklich der freien Entscheidung von Herrn Mehdorn und seinen Profitcentern überlassen, ob das Streckennetz der Bahn gepflegt wird und bis wohin und wann welche Züge zu welchen Tarifen fahren? Oder bleibt es eine öffentliche Aufgabe, eine der Politik, Mobilitätsfaktoren und Verkehrsströme sowohl wirtschaftlich, ökologisch als auch bürgernah zu gestalten und den Streit darüber, was »bedarfsgerecht« heißt, verantwortlich zu organisieren?

Hannah Arendt hielt viel auf jene Freiheiten, die die Aufmerksamkeit auf das Ringen um das Gemeinwohl richten und räumte daher dem Arbeiten, dem Wirtschaften wie auch »dem Markt« in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung nur eine nachrangige Bedeutung ein. »Auf keinen Fall«, schrieb sie in ihrem Buch Über die Revolution, »ist auf ein wie immer geartetes Wirtschaftssystem in Sachen Freiheit Verlass. Es ist durchaus denkbar, dass das ständige Ansteigen der Produktivkräfte sich eines Tages aus einem Segen in einen Fluch verwandelt (schließlich stehen die Automaten vor der Tür), und niemals können die wirtschaftlichen Faktoren automatisch in die Freiheit führen oder als Beweis für die freiheitliche Natur einer Regierung ins Feld geführt werden.«

Arendt wäre wohl kaum auf die Idee gekommen, eine Regierung könne Arbeitsplätze schaffen oder solle gar daran gemessen werden, wie hoch oder niedrig eine Steuerquote sei. In ihrem Verständnis von Politik kam es auf den Inhalt und das Verfolgen des »öffentlichen Glücks« durch die Menschen im Handeln an. Deshalb kann es nicht überraschen, wenn sich in Vita activa oder Vom tätigen Leben auch dieser Satz befindet: »Die Bedrohung der Freiheit in der modernen Gesellschaft kommt nicht vom Staat, wie der Liberalismus annimmt, sondern von der Gesellschaft, in welcher die Jobs verteilt werden und welche den individuellen Anteil an dem gesellschaftlichen Gesamtvermögen festsetzt.«

Für eine nur an Verteilungsfragen interessierte Linke hört sich das natürlich nicht sehr »fortschrittlich« an, und richtig ist ja, dass Hannah Arendt die Arbeit und das Soziale eher gering veranschlagte. Überhaupt sah sie das Politische und das Soziale als getrennte Sphären, was nicht leicht zu begreifen ist ohne ihre Kritik an Karl Marx. Seine Werttheorie faszinierte sie durchaus, aber in Kontrast zu dieser führte sie den Wertbegriff aus der Sphäre der Produktion wieder hinaus. So heißt es in Vita activa: »Weder Arbeit noch Werk, weder Kapital noch Profit noch das erlesenste Material kann von sich aus Wert verleihen; wertstiftend ist einzig die Öffentlichkeit, in der ein Gegenstand erscheint, in das Verhältnis zu anderen Gegenständen treten und durch Vergleich eingeschätzt werden kann. Wert ist eine Eigenschaft, die kein Gegenstand innerhalb des privaten Bereichs besitzen oder erwerben kann, aber die ihm automatisch zuwächst, sobald er in die Öffentlichkeit tritt.« Daran lässt sich heute die Frage anschließen, wie es um diejenigen Gegenstände bestellt ist, die nicht oder zu gering in das Bewusstsein einer auf Entstaatlichung fixierten Öffentlichkeit treten – bis sie dieser dann womöglich auf den Kopf fallen.

In einem Brief an Karl und Gertrud Jaspers schrieb Arendt über Marx: »Er ist weder an Freiheit noch an Gerechtigkeit interessiert. (Und ein Patentonkel.)« Der Nachsatz hat es in sich, steckt hier vielleicht in einem Wort die Kritik an einem Geschichtsbild, welches mit Hegel zu wissen vorgab, was kommen muss. Das Gegenteil, das ergebnisoffene Denken und Handeln in Freiheit, war der Grundzug von Hannah Arendts politischer Philosophie. Letztgültige Aussagen erschienen ihr befremdlich. »Ich meine, dass alles Denken … das Merkmal des Vorläufig-Seins trägt.« Für Arendt stand »Ich will verstehen« im Zentrum. Das ist das beste Motto, um im Hannah-Arendt-Jahr fortzusetzen, was schon oft in dieser Zeitschrift stattfand: eine Auseinandersetzung mit den Problemen, in der das Gemeinwohl, weit übereinen Nationalstaat hinaus, dem kritischen Geist nicht entschwindet.