Ernst Köhler

 

Die Deutschen als Opfer?

Fragen zum »totalen Krieg«, Atombombenabwurf und »population transfer«

 

 

Immer noch ranken sich zahlreiche Mythen um eine Reihe von Vorgängen während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Was aus heutiger Sicht schnell pauschal als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschenrechte verurteilt wird, öffnet sich dem Betrachter erst, wenn man sich auf das Denken und die Motive der Akteure der Vergangenheit einlässt. Fragen wie Hiroshima oder die Vertreibung der Deutschen erscheinen dann, jenseits der Mythen, in einem anderen Licht.

Die Deutschen als Opfer? Natürlich sind sie bei den Bombenangriffen der Alliierten vor allem seit 1943 zu Opfern geworden. Aber sie sind es als Täter geworden – wenn man mit dem Wort »Täter« die vielschichtige, die vielgesichtige Verantwortung einer Gesellschaft meint, die ein verbrecherisches Regime hervorbringt, ihm zur Macht verhilft, ihm grünes Licht gibt, sich von ihm einspannen lässt, sich über alle Bedenken für seine Ziele engagiert – bis zuletzt. Auch Dresden war eine Nazi-Hochburg, wie Frederick Taylor zeigt (Dresden. Dienstag, 13. Februar 1945). Und selbst Jörg Friedrich (Der Brand) leugnet nicht, dass der alltägliche Antisemitismus der Masse der Deutschen nicht bei Bombenalarm und in den Kellern oder Bunkern plötzlich aussetzte. Wenn ich das bei meiner Rede von den deutschen Opfern nicht immer mitdenke – wenn ich also gewaltsam ausblende, was ich vom Alltag des so genannten Dritten Reiches weiß, was ich von der unerschütterlichen politischen Basis des NS-Regimes in der übergroßen Mehrheit der Deutschen weiß, dann sentimentalisiere ich die Geschichte, dann verfälsche ich die Geschichte, dann lüge ich die deutsche Zeitgeschichte um. Und nur dann – nicht schon, wenn ich mich dem Leid der Menschen in Deutschland zuwende.

Andere Fragen in diesem Zusammenhang sind nicht so klar. Es sind mindestens drei. Erstens: War die Bombardierung deutscher Städte durch die Alliierten, war die Bombardierung japanischer Städte durch die Amerikaner ein Kriegsverbrechen? Das Wort liegt vielen heute gleichsam auf der Zunge. Sollten wir es auch aussprechen? Können wir verantworten, es in Umlauf zu bringen? Zweitens: Wie ist es überhaupt zu der Entscheidung gekommen, die Zivilbevölkerung des Feindes rücksichtslos in den Kampf einzubeziehen? Man redet in diesem Zusammenhang gern vom »totalen Krieg«. Aber auch der totale Krieg ist kein Automatismus, kein gesetzmäßig ablaufender Prozess, sondern eine Handlung – oder ein Komplex von Handlungen, Taten, Entscheidungen. Anders gesagt: Auch der totale Krieg ist zu verantworten, und niemand kann sich auf ihn hinausreden. Drittens: Warum hat das offizielle Amerika sich bis heute nicht für Hiroshima und Nagasaki entschuldigt? Seit dem Abwurf der beiden Atombomben im August 1945 sind 60 Jahre vergangen, und immer noch steht dieses Minimum aus – Minimum an Wahrheitsliebe, Minimum an Anstand.

Zur ersten Frage: Was meine ich überhaupt, welche Botschaft will ich herüberbringen, wenn ich die Zerstörung der deutschen und japanischen Städte im Zweiten Weltkrieg als Kriegsverbrechen bezeichne? Es macht ja einen Unterschied, ob ich da die Begleichung einer alten Rechnung im Sinn habe – etwa so: ihr wart auch nicht besser, Ihr wart eben nur die Sieger, und der Sieger schreibt bekanntlich die Geschichte. Oder ob ich für die völkerrechtliche Zivilisierung des Krieges in der Zukunft eintrete. Beschränken wir uns auf Letzteres, dann ist sogleich anzumerken, dass das förmliche, das kodifizierte völkerrechtliche Verbot der nicht auf militärische Objekte beschränkten Flächenbombardierung erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt worden ist. Man darf sich das Völkerrecht nicht als eine Art Naturrecht vorstellen. Das Völkerrecht, wie wir es heute kennen, war nicht schon immer da. Massenmord bis hin zu genozidalen Dimensionen gibt es seit langem. Aber erst im Jahre 1948 haben die Staaten sich vertraglich dazu verpflichtet, diese Verbrechen zu ahnden, zu bestrafen. Und sie nicht nur zu bestrafen, wenn sie bereits geschehen sind, sondern sie nach Möglichkeit bereits im Keim zu verhindern. Das war die Völkermord-Konvention, und es hat ein weiteres halbes Jahrhundert gedauert, bis die ersten Exzellenzen, die ersten Staatschefs, wegen ihrer Verbrechen im Amt vor Gericht gestellt werden konnten. Im Keim verhindert, in seinem Momentum unterbrochen haben wir bislang noch keinen einzigen Völkermord auf der Welt. Das ist das mühselige, schleppende Hinterherhinken des Völkerrechts hinter den Verbrechen. Das Völkerrecht kommt ewig zu spät. Die systematische Massenvergewaltigung von Frauen im Krieg ist erst in jüngster Zeit als ein strafwürdiges Kapitalverbrechen anerkannt und festgeschrieben worden. Insofern kann die Flächenbombardierung als ein durchaus typischer Fall gelten: Der moderne Krieg mit seiner hochentwickelten Technologie und mit seinen unermesslichen organisatorisch-logistischen Ressourcen streift erst einmal alle Fesseln ab, bevor er dann ansatzweise »eingehegt« wird. Rechtlich beschränkt – heißt das. Ob die neuen restriktiven Standards auch praktisch, politisch umgesetzt werden, bleibt prekär, hängt allein vom Willen der mächtigen Staaten ab. Wenn sie nicht wollen, bleibt das Völkerrecht Papier. Immerhin: Heute gilt die wahllose, das heißt über spezielle, isolierte militärische Objekte weit hinausgehende Bombardierung von Städten und Wohnvierteln (indiscriminate attacks), wie etwa Dresden sie erlitten hat, als ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht. Die vierte Genfer Konvention von 1949 und das I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen von 1977 (Art. 51) haben den Schutz der Zivilbevölkerung im modernen Luftkrieg neu gefasst (Roy Gutmann/David Rieff, Kriegsverbrechen …). Und auch die Weltöffentlichkeit würde die Massentötung von Zivilisten in einem Krieg nicht mehr hinnehmen. Davon hat schon der massive Protest gegen den Vietnam-Krieg in den USA und in Europa gezeugt. Und dann wieder die in ihrer Größenordnung wohl singulären weltweiten Proteste gegen den jüngsten Irak-Krieg von 2003. Dabei war die Bombardierung Bagdads auch nicht entfernt mit der Dresdens oder Hamburgs zu vergleichen. Die Maßstäbe sind heute andere.

Zur zweiten Frage: Die Deutschen haben damit angefangen. Coventry, London, Rotterdam, Warschau kamen zuerst – von Guérnica ganz zu schweigen, dann erst die deutschen Städte. Aber das reicht nicht aus zur Erklärung des britisch-amerikanischen Luftkrieges gegen Deutschland – es sei denn, man wolle behaupten – mit Norman Corinth, der Figur in Harry Mulischs Dresden-Roman Das steinerne Brautbett (1995, zuerst 1960), behaupten, die Briten und dann auch die Amerikaner hätten die Nazis bloß kopiert. Auch mit den Vertreibungen haben die Deutschen angefangen, und das reicht ebenfalls nicht aus, die spätere Vertreibung der Deutschen zu erklären – es sei denn, man unterstelle der gesamten zivilisierten Welt von damals, sie habe sich von den Nazi-Methoden in Polen inspirieren lassen. Von demokratischen Gesellschaften ist etwas anderes zu erwarten als die hemmungslose Anpassung an den totalitären Feind. Und man stößt in der Tat auf eine spezifische Vorgeschichte etwa der britischen Entscheidung zum totalen Luftkrieg – in Stichworten: das Trauma der unerhörten Verluste an Menschen, an jungen Männern im Ersten Weltkrieg, das in England bis heute viel stärker nachwirkt als etwa in Deutschland und in anderen europäischen Ländern, auf deren Boden der Zweite Weltkrieg ausgetragen worden ist; die Isolierung Großbritanniens nach dem Fall Frankreichs und vor dem Eintritt der USA in den Krieg gegen Hitler-Deutschland; der Mangel an einer überzeugenden militärischen Alternative für die vom eigentlichen Kriegsgeschehen abgeschnittene Insel. Als die Waffe unter außerordentlichen Kosten dann einmal entwickelt worden ist und zur Verfügung steht, wird sie auch eingesetzt. Was da ist, muss auch verwendet werden. Der Rest ist Selbstlauf, Routine – in den Worten Frederick Taylors: »Militärische Apparate funktionieren wie Öltanker. Kurskorrekturen brauchen viel Zeit. Das ist keine Entschuldigung, nur eine Erklärung. So arbeiten militärische Bürokratien, überall.« Das Beklemmende daran ist, dass dieses Krieg führende Großbritannien von Anfang bis Ende um sich selber zu kreisen scheint. Jedenfalls ist es schwierig, in diesem Gesamtbild von strategischem Denken überhaupt etwas zu finden, was einen evidenten Bezug zum NS-Staat und seinen militärischen wie politischen Überlebenschancen hätte. Die Opfer unter den Deutschen, aber auch unter den Besatzungen der britischen Bomber, waren schrecklich hoch, aber sie waren auch noch umsonst.

Zur dritten Frage – der nach dem Hiroshima Amerikas. Es ist zunächst einmal festzuhalten, dass es auch in Japan eine Flächenbombardierung gegeben hat – vor den Atombomben. »In der restlichen Welt wird meistens vergessen, dass nicht nur die Atombomben für die Zerstörungen in Japan im Zweiten Weltkrieg verantwortlich waren – ja diese sogar nur zu einem geringeren Teil. Obwohl die Bombenlast, die dort abgeworfen wurde, weit geringer war als die über Deutschland – etwa ein Neuntel –, war die vernichtete Fläche deutlich größer: Allein in Tokio (145 Quadratkilometer) und Nagoya (32 Quadratkilometer) wurde mehr zerstört als in allen deutschen Städten zusammen, und diese drei Städte machten nur die Hälfte der insgesamt 440 Quadratkilometer aus, die in 64 der größten japanischen Städte (ohne Hiroshima und Nagasaki) von amerikanischen Bombern in Schutt und Asche verwandelt wurden ... Auch die Zahl der Menschenleben, die ausgelöscht wurden, war immens: Sie geht, ohne die beiden Atombomben, in die Hunderttausende, also in etwa die gleiche Größenordnung wie in Deutschland. Über 9 Millionen Japaner wurden obdachlos.« (Freddy Litten: »Die amerikanische Bombardierung Japans«, FAZ, 7.5.05)

Es war wohl gar nicht so leicht, für die Atombomben noch eine unzerstörte Stadt in Japan zu finden, an der dann die Wirksamkeit der neuen Waffe auch einigermaßen exakt und überzeugend getestet werden konnte. Es scheint in der Tat, als sei der Einsatz der Atombombe für die amerikanische Führung nur eine weitere Steigerung der sowieso schon laufenden Angriffe gewesen – sozusagen ein Aufschlag, eine Aufgipfelung in einem Kontinuum der Vernichtung. Belege für Gegenstimmen, für Warnungen gibt es – Belege für ein Drama der Auseinandersetzung im engsten Kreis der Verantwortlichen gibt es nicht.

Präsident Truman hätte die Kapitulation Japans im Sommer 1945 sehr wahrscheinlich leichter haben können, wenn er den Japanern ihren Kaiser und die Monarchie garantiert hätte. Er hat dieses partielle Entgegenkommen, diese Abschwächung oder Modifikation der von Japan an sich geforderten »bedingungslosen Kapitulation« aus der Proklamation von Potsdam aber gestrichen. Er wollte die Kapitulation gerade nicht erleichtern, damit er eine Legitimation für den Einsatz der Atombombe hatte. Truman ist auch am raschen Eintritt der Sowjetunion in den Krieg gegen Japan gar nicht mehr so interessiert, als er über die Bombe verfügt. Er will diese möglichst abwerfen, bevor Stalin Japan den Krieg erklärt. Es ging dem Präsidenten nicht darum, den Krieg abzukürzen und amerikanische oder sonstige Leben zu retten. Das ist nur eine Konstruktion der Selbstrechtfertigung, die sich später zum Mythos konsolidieren wird. Wäre es tatsächlich um die schnelle Beendigung des Krieges gegangen, hätte der sofortige Eintritt der Sowjetunion in den Krieg gerade höchst willkommen sein müssen. War die sowjetische Neutralität doch so etwas wie die allerletzte Karte der Kriegspartei in Tokio. Es ging dem amerikanischen Regierungschef aber bereits darum, dem kommenden imperialen Konkurrenten im asiatischen Raum Grenzen zu setzen. Das ist grob zusammengefasst die These des soeben erschienenen Buches des amerikanischen Historikers Tsuyoshi Hasegawa (Racing the Enemy).

Sie wird die kritische Öffentlichkeit bei uns kaum überraschen. Der amerikanische Mythos von der segensreichen Atombombe hat hier nie auch nur einen Hauch von Chance gehabt. Aber die neue Untersuchung bezieht auch die russischen und vor allem die japanischen Quellen mit ein. Alle drei Player dieses finalen Kriegspokers erhalten hier das gleiche Maß an Aufmerksamkeit. Dabei kommt dann ein politisches Japan zum Vorschein, dem die Toten, die eigenen Toten, gänzlich gleichgültig sind – ein Machtzentrum, das möglicherweise noch ein halbes Dutzend weiterer Atombomben hingenommen hätte, ohne den irrsinnigen Kampf endgültig aufzugeben. Das könnte unser Geschichtsbild schon eher irritieren. Und auch die »revisionistische« Schule der amerikanischen Historiographie einigermaßen aus dem Konzept bringen. Für die japanische Führung am Rande der Hoffnungslosigkeit war es danach gar nicht der Schock der Atombombe, der den Ausschlag gegeben hätte. Hiroshima war für diese Leute gar kein Schock. Was diesen innersten Zirkel der Entscheidungsträger wirklich in Panik versetzte, war allein die Aussicht auf eine russische Besetzung des Landes.

Der Mythos ist diskreditiert. Der Mythos lebt. Kritische Diskurse vermögen offenkundig wenig gegen ihn auszurichten. Florian Coulmas, Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio, formuliert es so – für Amerika: »Nicht um Geschichte geht es, sondern um Gegenwart, um Identität, Stolz und Legitimation des politischen Handelns.« (Hiroshima. Geschichte und Nachgeschichte). Es gibt auch eine japanische Variante dieses Spiels. Als Japan 1937 das chinesische Nanking besetzt und dort unter der Zivilbevölkerung ein ungeheuerliches Massaker anrichtet, feiern die Bürger Hiroshimas den Sieg mit einem Laternen-Umzug. Das passte nicht zu Hiroshima als dem schuldlosen Opfer der Atombombe. Es hat Jahrzehnte gedauert, ehe diese historischen Fakten Einlass in die öffentliche Erinnerung der Stadt fanden.

Bombenkrieg und Massenvertreibung sind die zwei Flanken des deutschen Opferdiskurses. Auch Letzterer lässt viele Fragen offen. Václav Havel, noch Präsident von Tschechien, schreibt einmal: »Viel mehr als die Frage, warum Benes schließlich das Münchener Abkommen und die Idee der Aussiedlung angenommen hat, ist für mich ... eine andere Frage interessant: Wie kam es, dass er das überhaupt hat machen können und dass er so wenig Widerstand hervorgerufen hat?« (B. Coudenhove-Kalergi, O.Rathkolb). Havel meint hier vor allem die politische Öffentlichkeit der Tschechoslowakei, die Benes hat machen lassen. Er spricht hier die Verantwortung der tschechoslowakischen Gesellschaft im Ganzen an. Aber die Frage ließe sich auch an die Alliierten des Zweiten Weltkrieges richten. Und dann wird sie erst richtig peinlich. Wenn wir hier die totalitäre Terror-Herrschaft Stalins einmal beiseite lassen: Warum haben London und Washington, warum haben Churchill und Roosevelt der Massenvertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa zugestimmt und sie ohne weiteres zu ihrer eigenen Politik gemacht? Mit »Rache« für das unter der NS-Herrschaft erlittene Unrecht und Leid, die man gern den Polen und den Tschechen als Motiv hinter den Vertreibungen unterstellt, kann es kaum etwas zu tun haben. Aber auch die Rede vom »integralen Nationalismus«, den jetzt Norman M. Naimark wieder stark macht für seinen Überblick über die »ethnischen Säuberungen« des 20.Jahrhunderts (Flammender Haß …), wirkt deplaziert, wenn man über Potsdam und die Entscheidungsgründe für die Nachkriegspolitik der siegreichen liberalen Demokratien des Westens nachdenkt.

Warum haben Großbritannien und die USA 1945 nicht die Friedenspolitik von Versailles mit ihren Minderheitenschutz-Verträgen erneuert und bekräftigt – wie es 1942, also mitten im Krieg, mitten im Holocaust, der jüdische Völkerrechtler Mark Vishniak fordert – ziemlich einsam allerdings? (The Transfer of Populations, New York). Was hat diese Staaten dazu gebracht, stattdessen eine Gewaltpolitik der Massenvertreibung in unfassbaren Dimensionen zu akzeptieren und mitzutragen? Und wie konnten sie diese gnadenlose Gewalt gegen Menschen überhaupt mit ihrem Selbstverständnis, mit ihrer Selbstachtung, mit ihren Verfassungen, mit ihren politischen Traditionen und Institutionen vereinbaren? »Europa«, jenes Europa, das sich heute etwas einzubilden pflegt auf seine »zivilisatorischen« Errungenschaften und das sich – nicht etwa nur dem Balkan gegenüber – jeden Tag als höhere Entwicklungsform der Menschheit präsentiert, kann vor 60 Jahren noch nicht auf der Welt gewesen sein.

Detlef Brandes hat den sich schrittweise formierenden Vertreibungskonsens zwischen der tschechischen und polnischen Exilregierung einerseits und der britischen und amerikanischen Führung andererseits im Detail rekonstruiert (Der Weg zur Vertreibung 1938–1945). Es gibt etwa in der britischen Öffentlichkeit und auch im Parlament durchaus Gegenstimmen, die den »Transfer« von ganzen Bevölkerungen (man beachte den technokratischen Euphemismus) als unvertretbar und inhuman ablehnen. Aber sie bleiben schwach, marginal. Warum bleiben sie so schwach? Warum gibt es keine große politische Auseinandersetzung über diese Frage – nicht in Großbritannien, nicht in Amerika? Woher stammt das nahezu allgemeine Einverständnis mit einer Politik, die wir heute kaum mehr anders als eine systematische Menschenrechtsverletzung größten Ausmaßes wahrnehmen können? Für was, für welche Sorte von Problemen sollte diese Politik der Entrechtung eigentlich die »Lösung« sein?

Wieder ist es wohl nicht zufällig eine jüdische Autorin, Hannah Arendt, der wir hier einen besonders erhellenden Hinweis verdanken. In ihrem zuerst Ende der Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts geschriebenen, später erweiterten Opus Magnum Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft legt sie dar, dass der »Bevölkerungstransfer« nach dem Zweiten Weltkrieg die ratlos-brutale Ersatzlösung war für die inzwischen zerschlagene europäische Staatenordnung von Versailles (Kap. 9). Die Minderheitenschutz-Regeln nach dem Ersten Weltkrieg hatten danach im Grunde (und wenigstens zunächst stillschweigend) auf die allmähliche Assimilation der kleineren Nationalitäten an die jeweilige maßgebende, hegemoniale oder staatstragende Nation in den neu geschaffenen ostmittel- und südosteuropäischen Staaten gesetzt – also etwa auf das langsame, friedliche Verschwinden oder die Selbstauflösung der Deutschen in den Tschechen oder »Tschechoslowaken«. Deswegen hatte man sie überhaupt erst »Minderheiten« genannt – und nicht »Nationalitäten«. Das sollte schon terminologisch suggerieren, dass der »Volkstumskampf« nunmehr Geschichte war. In einem sanften, evolutiv gedachten Prozess würden sich so die unechten neuen Nationalstaaten, die ja in Wirklichkeit alle immer noch Nationalitätenstaaten waren, zu echten entwickeln – zu untadeligen Nationalstaaten vom klassischen westeuropäischen Typus also. In den Worten Hannah Arendts: »Dabei stellte sich heraus, dass die Verträge nur als ein Mittel schmerzloser und humanitärer Assimilation gedacht waren – was die Minderheiten natürlich sehr empörte, aber innerhalb eines Systems von souveränen, nationalen Staaten gar nicht anders gedacht werden konnte. ... Die Repräsentanten der großen Nationen waren sich wohl bewusst, dass innerhalb des Nationalstaates nationale Minderheiten früher oder später assimiliert oder liquidiert werden müssten.«

Passiert war in der Zwischenkriegszeit bekanntlich das genaue Gegenteil. Schon lange Jahre vor dem Krieg war kaum ein führender Politiker vor allem Großbritanniens von den politischen Ansätzen der Pariser Vororte-Verträge noch wirklich überzeugt. Man kann sich heute kaum mehr richtig vorstellen, auf wie viel Verständnis bei den politischen und kulturellen Eliten auch und gerade Westeuropas Hitler mit seiner militanten Revisionspolitik zunächst gestoßen war. Dann kam die große Ernüchterung. Im Krieg freundet man sich auf der Seite der Alliierten dann langsam mit dem Gedanken an, die multinationale Zone Ostmitteleuropas per Dekret und mit administrativen Mitteln zu »entmischen« und so auf Dauer ruhig zu stellen. Die Zwischenkriegszeit sollte sich nicht wiederholen können. Hitler-Deutschland hatte die Tschechoslowakei und Polen, zwei der falschen Nationalstaaten von 1918, überfallen, unterworfen und versklavt – alles im Zusammenspiel mit den deutschen Minderheiten dort. Polen hatte unter der deutschen Besatzung mehr gelitten als irgendein anderes europäisches Land, und auch an der rassistischen Vernichtungspolitik gegen den slawischen »Untermenschen« war die deutsche Minderheit in Polen beteiligt gewesen. In dieser Situation konnte die Herstellung von uni-nationalen oder national homogenen Staaten als unvermeidlich erscheinen – eine vorbeugende politische Sanierung im kurzen Prozess, wie sie sich im Bann und Schatten eines verheerenden Weltkrieges der Hybris der Chef-Macher anbot. In Polen kam die Westverschiebung dazu, wie sie die Sowjetunion durchsetzte und die westlichen Alliierten hinnahmen. Es schien ausgeschlossen, Nachkriegspolen die Gebiete bis zur Oder zuzuschlagen, ohne die Deutschen – in der Sprache von 1945 – daraus zu »entfernen«.

Literatur:

Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945, München 2002 (Propyläen Verlag)

Frederick Taylor: Dresden. Dienstag, 13. Februar 1945, München 2004 (C. Bertelsmann Verlag)

Roy Gutmann, David Rieff (Hrsg.): Kriegsverbrechen. Was jeder wissen sollte, Stuttgart, München 1999 (Deutsche Verlags-Anstalt)

Harry Mulisch: Das steinerne Brautbett, Frankfurt am Main 1995 (Bibliothek Suhrkamp)

Tsuyoshi Hasegawa: Racing the Enemy. Stalin, Truman and the Surrender of Japan, Cambridge, Mass. 2005 (Harvard University Press)

Florian Coulmas: Hiroshima. Geschichte und Nachgeschichte, München 2005 (Beck Verlag)

Barbara Coudenhove-Kalergi, Oliver Rathkolb (Hrsg.): Die Benes-Dekrete, Wien 2002 (Czernin Verlag)

Norman M. Naimark: Flammender Haß. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, München 2004 (Verlag C. H. Beck)

Detlef Brandes: Der Weg zur Vertreibung 1938–1945, München 2001 (Oldenbourg Verlag)

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, Zürich 1986 (Piper Verlag)