Balduin Winter

Begrenzte EU

Von wegen Jubel. Libération (26.12.06) bringt es auf den Punkt: »Rumänien und Bulgarien werden in eine EU eintreten, die der Erweiterung immer widerspenstiger gegenübersteht.« 2004 habe man noch begeistert die Osterweiterung begrüßt, die den 15er- Club keineswegs paralysiert habe; die Verfassungskrise sei von alten Mitgliedern ausgegangen, für die schlechte Stimmung träfe die neuen keine Schuld.

Die Einheit Europas stößt an Grenzen. An distanzierten Kommentaren mangelt es nicht. »Hätte man die Handbremse nicht schon früher ziehen sollen?«, fragt man im Wiener Standard und zitiert den Rumänien-Referatsleiter der EU, Wenceslas de Lobkowicz: »Man hat die Länder so besser unter Kontrolle.« Kein Zweifel, ein eigenartiges Argument. »Demnach«, spottet der Kommentator, »müsste auch die Türkei in zwei Jahren beitreten, weil man das Land ebenfalls besser unter Kontrolle habe. Ein paar Jahre später dann Serbien, Albanien, die Ukraine und ausgesuchte Länder Nordafrikas.« Von wegen EU-Müdigkeit in Österreich. Nichts bereitet dem Wiener mehr Genuss als das Nörgeln, man ist wohl in EU-Kakanien angekommen. Andere Zeitungen wie die FAZ berichten breit über die ablehnenden Haltungen der jeweiligen nationalen Bevölkerungen – 56 Prozent der Deutschen wollen die Bulgaren nicht in der EU haben, gar 64 Prozent nicht die Rumänen – oder bringen die verbreitete negative Stimmung zum Ausdruck: »Die EU ist infolge der Blockade der Europäischen Verfassung nicht in der Lage, neue Länder einzugliedern. ... jetzt wurden Rumänien und Bulgarien aufgenommen, obwohl weder diese beiden Länder noch die EU ihre Hausaufgaben erledigt hatten.« (El Pais, 2.1.07) Erweiterung durch Abgrenzungen.

Eine freundliche Presse haben die beiden Neuen bei den Wahlverwandten in Ostmitteleuropa und bei den Briten. Die Londoner Times erinnert einmal nicht an Korruption und organisierte Kriminalität, sonst allgemeiner Presse-Tenor, sie gewinnt sogar der Minderheitenproblematik eine positive Sicht ab: »Sie bringen den Drang nach Demokratie, Stabilität und Wohlstand in einem Teil des Balkans mit ein, der Jahrhunderte unter Turbulenzen gelitten hat. ... Sie stärken die kulturelle Vielfalt, bringen die starken Traditionen der Orthodoxen Kirche mit und das Bekenntnis zu gleichen Chancen für Minderheiten, die allerdings erst noch voll verwirklicht werden müssen.« Und der Budapester Magyar Hirlap (2.1.07) begrüßt den Beitritt als Beginn eines symbolischen Prozesses der »Abkoppelung vom Balkan« als »langsames Austrocknen einer Tradition, in der die Suche nach Hintertüren stets Vorrang vor der Einhaltung der Gesetze genießt«. Davon könne angesichts der jüngsten innenpolitischen Krise auch Ungarn lernen.

Gemeinsam ist den beiden Ländern die prekäre wirtschaftliche Lage und die geopolitische Positionierung. Hinlänglich bekannt sind die BIP-Statistiken, die Rumänien und Bulgarien mit nicht einmal einem Drittel des EU-Durchschnitts ausweisen. Die EU-Kommission hat einen Vergleich ihrer jeweils Ärmsten angestellt und aufgezeigt, dass Griechenland (1981) mit über 75 Prozent, Spanien (1986) mit etwas weniger, Irland (1973) mit rund 70 und Portugal (1986) mit rund 55 Prozent des EU-BIPs geradezu wohlhabend gegenüber den beiden Neumitgliedern beigetreten sind. Auch die MOE-Länder lagen 2004 deutlich höher. Ognian N. Hishow von der »Stiftung Wissenschaft und Politik« spricht dezent von »dauerhaften Wohlstandsdivergenzen«. Für Rumänien und Bulgarien, die derzeit beide hohe Wachstumsraten haben, prognostiziert er in einer mittleren Schätzung circa 45 Jahre oder eineinhalb Generationen für den Anschluss an den Mittelwert Westeuropas (SWP-Aktuell 40, August 2006).

Zehn Milliarden Euro wird Rumänien, 4,8 Bulgarien in den nächsten beiden Jahren aus EU-Kassen erhalten. Gewissermaßen als Beruhigungspille an den Westen betont er: »Für den EU-Haushalt bedeutet die Hilfe für die Neuen keine übermäßige Finanzlast«, die beiden Länder beanspruchen gerade mal vier Prozent der EU-Mittel bei einem Bevölkerungsanteil von sechs Prozent. Immerhin weiß die Financial Times Deutschland (29.12.06) das neue Potenzial zu würdigen. Im dritten Quartal 2006 lagen die Ausfuhren nach Rumänien 33 Prozent über dem Vorjahresniveau und die nach Bulgarien über 18 Prozent. »Die EU-Erweiterung ist besser als ihr Ruf«, titelt sie.

So sehr sich beide Länder historisch, politisch, kulturell, ethnisch, auch geografisch unterscheiden, von ihrer geopolitischen Lage her gehören sie beide zu jener Region, für die sich die Unschärfebezeichnung »Balkan« eingebürgert hat. Tatsächlich gibt es das Balkan-Gebirge (vom Türkischen »balkan«, bewaldeter Berg) nur in Bulgarien, und dort heißt es Stara Planina. Aber die geopolitische Ausrichtung der beiden Staaten geht weit über den Balkan hinaus. Zum einen hat die EU nun ein weiteres Mitglied, das direkt an die Türkei grenzt. Weiter sind beide Staaten Anrainer am Schwarzen Meer. Im Zeit-Interview (25.4.06) sagte der rumänische Außenminister Mihai-Razvan Ungureanu: »Rumänien liegt an der Ost-Grenze der Nato und der EU. Es geht uns nicht darum, uns zwischen einem transatlantischen und einem europäischen Sicherheitskonzept zu entscheiden. Wir unterstützen jedes Sicherheitskonzept, das die Ostgrenze der Nato und der EU schützt. Wir wollen, dass das Schwarze Meer als Bestandteil der europäischen Sicherheitspolitik begriffen wird. Man darf nicht vergessen, dass das Schwarze Meer Rumänien zum Nachbarn von Georgien und Russland macht. Die Sicherheit des Schwarzen Meeres spielt also eine große Rolle in der Stabilität der Region und wird gewährleistet durch die Zusammenarbeit der Anrainersaaten. Darum will Rumänien den Dialog zwischen den kaukasischen Ländern, der Nato und der EU fördern.«

In dieser Sicht spielen Länder wie Moldawien und vor allem Ukraine und Türkei eine wichtige Rolle. In dieser Hinsicht wird sich Westeuropa daran gewöhnen müssen, dass EU-Mitglieder wie die baltischen Staaten oder Polen und eben auch Rumänien oder Bulgarien neue sicherheitspolitische Raum-Vorstellungen zur Debatte stellen werden. Dabei geht es nicht nur um die Wiederbelebung alter Handelswege und um die Schaffung alternativer Transportrouten für Energie, wie es im GUUAM-Bündnis zum Ausdruck kommt (Georgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbeidschan, Moldawien). Die Wiederentdeckung des Schwarzen Meeres als verbindlicher und verbindender Raum zwischen Ländern und Menschen, einst von Griechen und Armeniern gepflegt, ist ein Zugewinn an Perspektiven für die Staaten und Menschen der Region.

Das mag manchen als Notausgang erscheinen, als Ausweg in ähnliche Armutsräume, nach »Halb-Asien«, wie Karl-Emil Franzos die von Europa vernachlässigten Übergangsgebiete schon vor einem Jahrhundert bezeichnete. Dabei ist kaum irgendwo anders die »Sehnsucht nach Europa« größer, oft beschrieben von Elias Canetti, etwa in seinen Jugendaufzeichnungen Die gerettete Zunge, Geschichten vom Donauhafen Rustschuk, von Schlittenfahrten über das Eis des zugefrorenen Stromes nach Rumänien, von hungrigen Wölfen, von sieben oder acht Sprachen, die man an einem Tag hören konnte, und vom magischen Wort »Europa«. Als er mit den Eltern schließlich nach Wien zog, wo sie in die Schule gegangen waren, zogen sie »nach Europa«. Dagegen ist eines der unglaublichsten Gebiete Europas, das Donau-Delta, nahezu unbewohnt, die wenigen kleinen Städte und Dörfer in diesem riesigen Gebiet sind arg verwahrlost und leiden am Exodus der Jugend.

Die Reserviertheit Westeuropas gegenüber den beiden Neuen ist weitaus älter und beruht auf weit mehr als aktuelle Vorurteile gegen »Balkan«, »Armenhaus« und die sehr ambivalent kodierte »Brücke zum Orient«, die auch die praktische Funktion hat, dass man Brücken leicht sperren kann. Bekanntlich hat Europa ein uraltes Definitionsproblem. Die Frage, was ist Europa und wo liegen seine Grenzen, wurde zu verschiedenen Zeiten verschieden beantwortet. Wobei – nebenbei bemerkt – die Frage der antwortenden Subjekte bislang etwas vernachlässigt wurde. Inzwischen gibt es so etwas wie eine Geschichte dieser Frage, und bei der Vielzahl der Antworten haben sich historische Muster herausgebildet. Der ungarische Historiker Jenö Szücs (1928–1988) brachte 1983 in die Mitteleuropa-Debatte einen historischen Abriss ein, der 1990 auf Deutsch erschien, Die drei historischen Regionen Europas. Gleich eingangs verweist er auf die »markante Linie«, die die östliche Grenze des karolingischen Reiches um 800 durchmaß, »vom Unterlauf der Elbe und der Saale in Richtung Süden, entlang der Leitha und weiter entlang des westlichen Randes des einstigen Pannoniens«. Westlich dieser Linie hatte »jene organische Symbiose der spätantik-christlichen und barbarisch-germanischen Elemente stattgefunden, deren erstes Ergebnis (zwar noch ungeschliffen und vorübergehend) das ›renovierte‹ Imperium war«. Diese Region begann den Begriff »Europa« für sich zu beanspruchen. Der andere Pol befand sich in Byzanz, dessen Ambitionen in diesem Sinne keine »europäischen«, sondern als Fortsetzerin des Römischen Reiches oströmische waren, nämlich vorwiegend auf die Pontinische Halbinsel (»Kleinasien«) ausgerichtet. Im 13. Jahrhundert zeichnete sich eine weitere Strukturgrenze ein, »vom Unterlauf der Donau zu den östlichen Karpaten, weiter in den Norden und entlang der Wälder, die West- und Ostslawen und die polnischen und russischen Böden teilten, erreichte sie im 13. Jahrhundert das Baltikum«. Sie schließt gewissermaßen die mittlere Region Europas ein und trennt den Osten, das spätere Russland, ab.

Das sind keine formalen Grenzen. Sie schlossen unterschiedliche Völker und Siedlungsformen ein, Kultur, Verwaltung, Wirtschaft und die entstehenden Staaten unterschieden sich voneinander. Szüsz pocht auf gravierende Unterschiede der feudalen Strukturen in Deutschland und Ungarn, die Krise des Feudalismus zeitigt in beiden Ländern ganz andere Folgen und verändert die Ökonomie sehr unterschiedlich. Seine Theorie der »Zweiten Leibeigenschaft« im 15. Jahrhundert führt zur Retardierung der ländlichen Entwicklung in Ostmittel- und Osteuropa und in deren Gefolge auch der östlichen Urbanisierung – zuvor waren etwa Böhmen, Oberungarn (Slowakei) und Siebenbürgen blühende Zonen der europäischen Entwicklung gewesen. Das Erstaunliche: »Jene scharfe wirtschafts- und gesellschaftsstrukturelle Demarkationslinie, die Europa ab etwa 1500 teilte, ... reproduzierte sich mit erstaunlicher Genauigkeit entlang der Elbe-Leitha-Grenze aus dem Jahr 800.« Dazu kommt noch, aber erst als zusätzliche Belastung, die Vereinnahmung Südosteuropas durch die Türken mit allen schwerwiegenden Folgen.

»Mehr noch«, schreibt Szücz, »ein halbes Jahrtausend später ist Europa heute beinahe genau entlang dieser Linie ... extremer als je zuvor in zwei ›Lager‹ geteilt. Als hätten Stalin, Churchill und Roosevelt peinlich genau den Status quo der Epoche Karls des Großen am 1130. Todestag des Kaisers studiert.« – Betrachtet man diese Linie als europäische Achse, erhält der Begriff »Achsenmächte« eine tiefere Bedeutung, denn das Deutsche Reich und die Habsburger Monarchie lagen auf beiden Seiten der Achse, Deutschland übrigens auch heute noch.

Auf die Wirkungsmacht dieser Grenze mitten durch Europa weist auch der Herausgeber des Handbuchs Osteuropa hin, Magarditsch Hatschikjan, der die relative ökonomische Rückständigkeit des Ostens ebenfalls auf die Ermangelung der westlichen Entwicklungen um 1500 zurückführt (Agrarrevolution, demografische Explosion, Übergang zur Stadtwirtschaft, Herausbildung der Stände, namentlich des Bürgertums). Tatsächlich liefert die lange Zeit größte Stadt im Südosten, Bukarest, dafür ein gutes Beispiel. Ein Reisebericht von 1825 beschreibt die Stadt, weit größer als Budapest, als ein »riesiges Heerlager«, »ein Riesendorf aus Hütten und wenigen, verstreuten Palästen«. Es war eine Händlerstadt, vollgestopft mit Bauern und Gesinde und Angehörigen von gut zwanzig Volksgruppen, eine formlose Mischung aus Dorf und Orient. Um diese Zeit – in England begann man die Kinderarbeit in den Fabriken zu diskutieren – gab es in der autonomen Moldau-Provinz noch ganz offiziell die Sklaverei. Sie wurde 1854 abgeschafft.

Freilich haben die Faktoren, die diese Grenze konstituieren, längst an Bedeutung verloren. Agrarwirtschaft, Bevölkerungsexplosion, Feudalstrukturen, allesamt auf Ausdehnung im Raum ausgerichtet, spielen heute keine oder kaum noch eine Rolle. Raum-Grenzen sollten für den Kapitalismus in der Epoche der Globalisierung an Bedeutung verloren haben. In vielen Köpfen sind sie jedoch immer noch lebendig, das war beim Beitritt der beiden vorläufig »östlichsten« und »ärmsten« Europäer auch zu merken.