Herbert Hönigsberger

Die Basis der Republik

Ein Vorschlag zum Diskurs über das Grundeinkommen

Muss soziale Sicherheit mit Arbeitsleistung korrespondieren, wie es die sozialstaatliche Ideologie aufdrängt? Unser Autor verfolgt einen anderen Grundgedanken, den der staatsbürgerlich-demokratischen Gleichheit. Er begründet das Grundeinkommen aus dem Kerngedanken der Republik. Gleiche Staatsbürger stehen füreinander ein, auch für jene Lebenslagen, in denen man sein Leben nicht durch den Verkauf der Arbeitskraft fristen kann. In den Grundsphären menschlicher Existenz soll nicht das individualisierende Ökonomische, sondern das gemeinsame Politische wirken.

Die Debatte um eine allgemeine Grundsicherung durch Grundeinkommen, Bürgergeld et cetera nimmt Fahrt auf. Der Bedarf an basaler Sicherheit wächst mit ökonomischen Unwägbarkeiten, sozialer Spaltung und den unbewältigten Krisenphänomenen des arbeitszentrierten Sozialstaats. Das Grundeinkommen ist – wie eine öffentlich finanzierte Grundbildung, eine Basisversicherung im Krankheitsfall für alle und finanziert von allen oder ein Mindestlohn – eine jener zunehmend zeitgemäßen Varianten allgemeiner sozialstaatlicher Garantien, von denen politische Legitimität zehrt. Es drängt sich nachgerade auf. Denn irgendwie dämmert Politik und Öffentlichkeit, dass die Globalisierungsdividende, die für soziale Sicherung und gesellschaftliche Kohäsion demokratisch verfügbar ist, knapper und fragiler ausfallen könnte als die Sozialdividende in Systemkonkurrenz und Kaltem Krieg. Über kurz oder lang wird die Politik jene die Existenz sichernden Grundgarantien ins Kalkül ziehen müssen, die die Gesellschaft zusammenhalten und der Demokratie ihren Sinn geben – trotz aller Zerreißproben, der sie die turbulente ökonomische Basis aussetzt. Das allgemeine, bedingungslose, steuerfinanzierte Grundeinkommen eignet sich dazu. Es ist das nobelste Konzept einer Grundsicherung. Mittlerweile ist es auch gesetzestauglich. Und an seiner Finanzierbarkeit bestehen kaum noch begründbare Zweifel. Zumal wenn eine interessierte Regierung die zuständigen Beamten und den verfügbaren wissenschaftlichen Sachverstand mobilisiert. Seiner Einführung stehen vielmehr Ideologien und Interessen diverser Statusgruppen entgegen. Die krallen sich nicht nur hartleibig an Besitzstände, sondern glauben auch, die ausgeprägte soziale Spaltung und Spreizung der deutschen Gesellschaft ignorieren und in Kauf nehmen zu können. Das Grundeinkommen hat weniger ein technisches als vielmehr ein ideologisches Durchsetzungsproblem.

Das gnadenlose »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« ist in den Demokratien einigermaßen sozialstaatlich zurückgenommen. Doch die Kommunikation von Grundeinkommenskonzepten hierzulande belegt, wie unerschütterlich die Vorstellung ist, Art und Ausmaß sozialer Sicherung müssten mit Arbeitsleistung korrespondieren. Eben darum ist die Transformation in ein System, das die soziale Sicherung durch Steuern finanziert, aber grundlegende soziale Leistungen für alle gleich, nach Bedarf und unabhängig vom individuellen Beitrag gewährt, ein Angriff auf konventionelle wie tief sitzende Gerechtigkeitskonstrukte. Eben darum stößt es auf massiven Widerstand. Denn das hat was von »Jeder nach seiner (Leistungs-)Fähigkeit, jedem nach seinen Bedürfnissen«. Da ragt eine Maxime in die Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise hinein, die deren kaum noch glaubhaftem Credo »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung« mindestens eine geschichtliche Epoche voraus ist. Schon die rudimentäre Entkoppelung von Vorleistungen und Ansprüchen auf Transfers in der aktuellen Sozialgesetzgebung fordert das marktgeprägte Alltagsbewusstsein heraus. Die Kontroverse um die angemessenen Rückflüsse und Erträge je nach Vorleistungen – ob als Beiträge in Sozialkassen oder als Steuern in den Staatshaushalt – bleibt eine chronische Spaltungslinie im gesellschaftlichen Bewusstsein. Der »Sozialneid«, der den kleinen Leuten vorgehalten wird, ist nur ein verkümmertes Verlangen nach Gerechtigkeit, das kleinlich-krampfhaft auf Äquivalente fixiert ist. Die Haltung ist gesellschaftlich produziert. Sie nimmt in Gesellschaften nicht wunder, die Warenproduktion und Warentausch verallgemeinert haben. Mit ihr ist zu rechnen. Sie bleibt so lang unerschütterlich wie die Marktökonomie.

Das allgemeine, bedingungslose, existenzsichernde, steuerfinanzierte Grundeinkommen ist einfach, unbürokratisch, demokratisch und gerecht. Es schützt vor Armut und ermöglicht Teilhabe. Es ist das Gegenmodell zur disparaten Grundsicherung für verschiedene soziale Gruppen und Lebenslagen und ein grundlegender Gegenentwurf zu dem zersplitterten, beitragsbasierten sozialen Sicherungssystem in Deutschland. Es stellt den Bürger in den Mittelpunkt, nicht den Arbeitnehmer. Es bricht mit dem verkrüppelten, an Äquivalenzkategorien gefesselten Gerechtigkeitsempfinden. Alle Bürger in allen Lebenslagen haben gleichermaßen einen Anspruch. Vielleicht kann das Grundeinkommen im Alter höher sein als in jungen Jahren. Aber Bedingungen für die Gewährung machen wenig Sinn, es sei denn Arbeit für die demokratische Republik während des Bezugs, bürgerschaftliche Arbeit. Und einmal im Leben Zivil- oder Wehrdienst für Mann und Frau. Eine Koppelung der Höhe des Grundeinkommens an die Steuerleistung verbietet sich. Damit würden nur Zufälligkeiten der Positionierung in der Hierarchie gesellschaftlicher Arbeit und des Lebens überhaupt abgebildet. Man muss Glück und Zufall nicht honorieren. Doch darf man sie abschöpfen. Finanziert wird das Grundeinkommen logischerweise durch eine der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit angemessene progressive Besteuerung von Einkommen, Vermögen und Erbschaft sowie durch Konsumsteuern. Und durch die Mittel für die Sozialtransfers, die es ablöst. Daneben können andere grundlegende öffentliche Systeme zur Daseinsvorsorge (Gesundheit, Bildung) treten. Darauf aufbauen können öffentliche, private, beitragsfinanzierte, tarifvertraglich geregelte Angebote, die verschiedensten Lebensumständen Rechnung tragen, von der Lebensstandardsicherung während der Arbeitslosigkeit über Familiengründung und Kinder bis hin zu Krankheit, Behinderung, Pflege, Alter.

Grundsicherung durch Grundeinkommen ist aber keine Patentlösung für alle Probleme des sozialen Sicherungssystems. Das Grundeinkommen ist eben Grundsicherung, das immerhin. Aber es schützt nicht vor allen Wechselfällen des Lebens und befriedigt nicht alle hochgeschraubten Sicherheitsbedürfnisse. Es beteiligt die Unterschichten, das Prekariat – wie auch immer – am gesellschaftlichen Reichtum. Aber es verteilt nur begrenzt und gewiss nicht substanziell um. Es ist kein Instrument der Umverteilung. Das Grundeinkommen entkoppelt auch nicht Einkommen und Arbeit. Lediglich der Rechtsanspruch auf Grundsicherung wird von der individuellen Arbeitsleistung respektive von lohnbezogenen Beiträgen in Sozialkassen abgekoppelt. Es bleibt aber auf die produktive Leistung der Volkswirtschaft angewiesen, also auf gesellschaftliche Arbeit und auf ihr fußenden Steuereinnahmen. Das Grundeinkommen folgt auch nicht aus einem angeblichen Ende der Arbeit. Es setzt vielmehr jede Menge gesellschaftlicher Arbeit voraus, nach Lage der Dinge Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen, abhängige Lohnarbeit also. Das Grundeinkommen enthält keinen utopischen Überschuss, der über die Arbeitsgesellschaft hinausweist. Es hat weder etwas mit der Emanzipation von der Arbeit zu tun noch lässt sich bei diesem arbeitslosen Einkommen von der Arbeit abstrahieren. Die Arbeitsgesellschaft in kapitalistischer Form ist vielmehr sowohl Grund als auch Voraussetzung des Grundeinkommens. Die Arbeit ist omnipräsent, die Bedingung des bedingungslosen Grundeinkommens. Aus den miteinander verknoteten Krisen der sozialen Sicherungssysteme und der Arbeitsgesellschaft folgt keine konsistente und hinreichende Begründung für ein bedingungsloses, steuerfinanziertes Grundeinkommen. Zwecks Schließung verbleibender Begründungslücken erscheint es sachdienlich, neben vorherrschenden Argumentationsfiguren, die den problemlösenden Beitrag des Grundeinkommens ebenso überbetonen wie den utopisch-emanzipatorischen, einen dritten, realpolitischen Begründungsstrang zu akzentuieren: Das Grundeinkommen als eine demokratisch-republikanische Konzeption sozialer Sicherheit.

Gemessen an der République française und den United States durchlebt die deutsche Demokratie erst ihre Frühgeschichte. Nun, da die endgültige staatliche Einheit hergestellt ist, können sich Politik und Gesellschaft daranmachen, diese Demokratie zu prüfen und auszugestalten. Im Beamtenrecht, im Föderalismus und vor allem in der sozialen Sicherung haben ständische, quasi-feudale, vormoderne und semidemokratische Relikte überdauert wie kaum in Europa. Sie werden seit dem Kaiserreich, über Nazidiktatur, die hektische Rekonstruktionsphase und die konsolidierte Bundesrepublik bis ins letztendliche Deutschland fortgeschleppt. Die Gründe für die vormodernen Tendenzen und ständischen Elemente der sozialen Sicherungssysteme liegen tief in der deutschen Geschichte. Es hat in Deutschland nie eine wirkliche demokratische Revolution gegeben. Die Demokratie verdanken wir dem D-Day. Sie ist ein Geschenk der alliierten Sieger. Deutschland gehört zu den europäischen Ländern mit den geringsten bürgerlich-revolutionären Traditionen. Die Deutschen haben der Französischen Revolution mit den meisten Widerstand entgegengesetzt. Es fehlt an einer Tradition aufgeklärter Bürgerlichkeit, in deren Mittelpunkt der Citoyen steht, der in seinen Nachbarn, Mitmenschen, Untergebenen und Vorgesetzten, Freunden und Feinden zuallererst seinesgleichen, den mit unveräußerlichen Rechten ausgestatteten Mit-Bürger sieht. Bürgerlichkeit ohne Egalité ist keine. Statt sich mit der Formel von der »besten deutschen Demokratie aller Zeiten« zu beruhigen, steht die permanente Selbstvergewisserung der Demokratie an. Die Debatte um das Grundeinkommen gehört zu dieser demokratischen Selbstprüfung und Selbstfindung.

Doch liefert bereits die real existierende deutsche Demokratie hinlänglich Bezugspunkte für einen lupenreinen demokratisch-republikanischen Sozialstaat, an die das Grundeinkommen anknüpfen kann. Das Grundgesetz durchziehen zwei durchkomponierte Gleichheitsstränge – die Gleichheit der mit Würde und unveräußerlichen Rechten ausgestatteten Menschen und die Gleichheit der Staatsbürger. Es erlaubt, die Grundstruktur des Sozialstaats von den gleichen, mit gleicher Menschenwürde ausgestatteten Staatsbürgern her zu denken. Den programmatischen Kern und die argumentative Blaupause für einen demokratisch-republikanischen Sozialstaat liefert ein Eckpfeiler des demokratischen Verfassungsgebäudes, eine in den Gesellschaften westlicher Prägung allseits akzeptierte, fundamentale Institution, die bürgerliche Gleichheit materiell konstituiert. Diese Institution offenbart das Wesen moderner bürgerlicher Gleichheit und bündelt sämtliche Elemente einer Gleichheitsbegründung. In dieser Institution materialisieren sich alle Verheißungen und wolkigen Versprechungen der Demokratie wirklich und tatsächlich. Es ist das Recht auf allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche, geheime Wahl von Repräsentanten und das Recht, gewählt zu werden. Es ist das Wahlrecht (Art. 38 GG). Die Begründungen sowie der praktische und symbolische Gehalt des allgemeinen Wahlrechts liefern auch grundlegende Begründungen für ein Grundeinkommen.

Wir alle sind Wähler oder potenzielle Wähler. Als solche sind wir real, absolut und uneingeschränkt gleich. Volljährige wählen unabhängig von Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Intelligenz, Religion, Erwerbsstatus, Eigentumsverhältnissen, Steuerleistung, sexueller Orientierung, Hautfarbe, Herkunft. Sämtliche Unterschiede und unterschiedlichen Motive, alle Phänomene von Differenz in den modernen Gesellschaften verschwinden im allgemeinen Wahlrecht. Im allgemeinen Wahlrecht setzen sich Menschen mit unglaublichen Unterschieden real gleich. Deswegen sind überall und seit jeher die Debatten über das allgemeine Wahlrecht, das Frauenwahlrecht, das Wahlrecht für Ausländer einerseits die hochgemutesten und hochherzigsten, andererseits auch die schäbigsten Debatten der bürgerlichen Gesellschaften. Nirgendwo sonst wird deutlich, zu welch erstaunlichem Maß an gegenseitigem Respekt und Respekt vor Unterschieden Menschen fähig sind. Und nirgendwo sonst werden so ekelhafte, lächerliche und würdelose Vorbehalte gegenüber seinesgleichen vorgebracht. Das macht auch die Sprengkraft von Volksbewegungen um freie, gleiche und geheime Wahlen aus. Im Kampf um das Wahlrecht konstituieren sich Nationen als Gemeinschaften gleicher Bürger. Es ist der zentrale Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaften über die Herausbildung der bürgerlichen Klasse, die industrielle Revolution, den Weltmarkt, die Massenproduktion, etc. hinaus, diese fundamentale Vorstellung von Gleichheit nicht nur ersonnen, sondern ihr tatsächlich eine institutionelle Gestalt gegeben zu haben. Nirgendwo sonst in den gesellschaftlichen Institutionen ist das »all men are created equal« so unmittelbar ernst genommen. Nirgendwo sonst ist die Menschheit ihrer materiellen physischen, genetischen Einheit und Gleichheit, der astrophysikalischen Wahrheit der Songzeile »we are stardust« so nahe wie dort, wo sie dieser in der Gleichheit der Staatsbürger, die mit gleichen Rechten ausgestattet sind, Ausdruck verleiht.

Diese Gleichheit ist keine Erfindung des Kommunismus. Die Gleichheit im Wahlrecht konstituiert die Gleichheit des Souveräns, des Staatsbürgers. Sie ist der harte Kern der Staatsbürgereigenschaft, der Demokratie und Ausgangspunkt republikanischer Gleichheit. Die demokratisch-republikanische Schlussfolgerung für die sozialen Sicherungssysteme setzt an dieser staatsbürgerlichen Gleichheit an. Sie konstruiert soziale Sicherungssysteme mittels des Maßstabs der staatsbürgerlichen Gleichheit. Nehmen sich die Bürger als Gleiche wirklich ernst, dann hat das so einfache wie eindeutige normative Konsequenzen. Gleiche Staatsbürger stehen jederzeit füreinander und gleichermaßen ein, in allen schwierigen Lebenslagen, in allen Lebenslagen, in denen man sein Leben nicht dadurch fristen kann, seine Arbeitskraft in der Sphäre der Ökonomie zu verkaufen. Gleiche Staatsbürger gewähren sich jederzeit jenen minimalen Standard, der eine menschenwürdige, dem Staatsbürger gemäße Existenz erlaubt. Gleiche Staatsbürger betreiben für jeden Einzelnen ihresgleichen denselben materiellen Aufwand, um ihm eine seinen Fähigkeiten und Anlagen gemäße Bildung zu ermöglichen. Sie gewähren sich den gleichen Schutz, wenn sie krank sind. Die institutionelle Zuspitzung dieser Gleichheit von Staatsbürgern, die sich selbst ernst nehmen, sind allgemeine Grundsicherung, allgemeine Bürgerversicherung, gebührenfreier Zugang zu einem Kernbestand öffentlicher Bildungseinrichtungen, et cetera. Ob man als Ausgangspunkt für das Grundeinkommen den Menschen in der Welt oder den Bürger im Staat wählt, ob man annimmt, dass das Grundeinkommen ein Subjekt jenseits von Citoyen und Bourgeois und emanzipiert von der Arbeit konstituiert, oder ob es den Citoyen überhaupt erst materiell ausstaffiert, ob man Bürgergeld, Grundeinkommen et cetera menschen- oder bürgerrechtlich begründet: Immer endet es bei einem gleichen und gemeinsamen Anspruch an das Gemeinwesen, der sich auf Gleichheit gründet.

Die europäischen Sozialstaaten haben eine wechselvolle Geschichte. Schicht für Schicht haben sich die Ergebnisse politischer Kämpfe, Kontroversen und Konflikte in verschiedenen Phasen gesellschaftlicher Entwicklung aufeinander getürmt und in die europäische Staatlichkeit eingeschrieben. Diverse Regularien und institutionelle Verdichtungen stammen aus verschiedenen Etappen politisch-gesellschaftlicher Formierung. In Deutschland hat sich der Sozialstaat von Anfang an auf einem eigenen Pfad entwickelt. Von Bismarck bis zur Großen Koalition zu Beginn des dritten Jahrtausends spiegelt kaum ein Sozialsystem die Geschichte der Klassenkämpfe, die historischen Kräfteverhältnisse der gesellschaftlichen Hauptklassen und ihrer Organisationen so unmittelbar wider. Seit dem Zweiten Weltkrieg vor allem ist es das Sediment permanent revidierter Kompromisse. Immer dominieren Bemühungen um den großen Ausgleich zwischen den Hauptklassen. Nicht die Gleichheit der Bürger im Staat liefert das konstruktive Grundprinzip des sozialstaatlichen Denkens, sondern die Antagonismen des Produktionsregimes. Das Wohlfahrtsregime organisiert die soziale Sicherung entlang der Spaltungsmuster der kapitalistisch strukturierten Arbeitsgesellschaft und ihrer Eigentumsverhältnisse. Die lohnzentrierten Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge spiegeln den Klassengegensatz ebenso wider wie die paritätisch besetzten Gremien, die die soziale Sicherung managen. Und dieser Zentralkonflikt um den großen Ausgleich ist durchsetzt von zahllosen Detailkonflikten um den kleinen Vorteil. Hunderte von öffentlichen, teilöffentlichen und privaten Versicherungen und Kassen für bestimmte Berufe bis hin zur so genannten dritten Säule, der betrieblichen Alterssicherung, reproduzieren soziale Zerrissenheit, Differenz, Ungleichheit. Es ist Ergebnis und Spiegelbild der Spaltung in Klassen und Schichten, berufsständischer Interessen, der Jagd nach Privilegien, von selbstsüchtigen Bemühungen um Abschottung und Exklusion.

Gleichzeitig hat das sozialstaatliche Denken die Hauptfigur des paternalistisch-bürokratisch versorgten, immer aber auch gegängelten, kontrollierten, ausgespähten Klienten der Sozialbürokratie nie überwunden. Dieser fürsorglich belagerte Klient ist alles andere als ein souveränes Individuum. Auf den unteren Stufen der sozialen Leiter ist er vielmehr Objekt sozialtechnologischer Bemühungen. Und der aus dem kapitalistischen Arbeitsprozess ausgespuckte Nicht-mehr-Arbeitnehmer, der arme Verwandte des glücklichen Arbeitsplatz-»Besitzers« ist sozial, kulturell, politisch noch geringer und von niedrigerem Status als dieser. Die Grundidee des deutschen Sozialstaats und die Grundidee der Demokratie sind sich fremd. Sozialstaat und Demokratie sind zwei unterschiedliche Welten, mit zwei unterschiedlichen Bildern vom Menschen. Wenn nicht alles trügt, haben all jene Staaten mit einer ausgeprägteren Demokratiegeschichte als Deutschland – und das sind nicht wenige – auch immer mehr demokratisch-egalitäre Komponenten in ihren sozialen Sicherungssystemen, mehr Systeme für alle und mehr Finanzierung durch alle.

Doch stehen die Befürworter des Grundeinkommens nicht nur vor dem aufgetürmten Gebirge traditioneller sozialstaatlicher Normen und Institutionen und ihren tief eingegrabenen Spaltungen, die gesellschaftliche Spaltungen verdoppeln. Ein fundamentaler Widerspruch geht mitten durch die Menschen selbst. Die demokratische Republik macht aus ihnen Bürger, den Souverän, von dem die Staatsgewalt ausgeht. Das ist das ungeheure Angebot der Demokratie. Am Wahlsonntag bestimmen der Aufsichtsratsvorsitzende und der Arbeiter gemeinsam die Geschicke des Staates. Doch am Montag finden sie sich an den Polen eines Subordinationsverhältnisses wieder. Die Mehrheit der Bürger ist in der kapitalistischen Ökonomie Objekt fremder Entscheidungen. Viele sind – schlimmer noch – als Bürger ohne Arbeit selbst aus diesem prekären sozialen Zusammenhang ausgestoßen. Der Mensch der bürgerlichen Gesellschaft ist Citoyen und Bourgeois oder Citoyen und Prolet. Wir alle leben mit dieser Grundschizophrenie der Moderne, in der ökonomischen Sphäre ungleich und in der politischen Sphäre gleich zu sein. Im Steuerzahler sind beide Sphären strukturell gekoppelt. Doch produziert gerade diese Schnittstelle von Politik und Ökonomie eine weitere Spaltung. Als Wähler sind die Bürger gleich, als Steuerzahler ungleich. Als Steuerzahler generieren sie die Ressourcen für die Demokratie anderswo, außer Haus gewissermaßen. Die Gleichheit der Wähler wird immer wieder durch die Ungleichheit der Steuerzahler bedroht. Und diese Drohung entspringt ihrer Ungleichheit als ökonomische Subjekte. Den Bürger selbst zerreißt diese Spaltung entlang der Frage, wie viel er für sich behalten und wie viel er für andere abgeben soll. Und je weniger er hat, umso mehr. Dieser Riss kann die Demokratie gefährden.

Sie ist die Staatsform der Individuen, die sich als Gleiche ernst nehmen. Doch der Erfolg der Demokratie ist schlussendlich an den Erfolg einer Ökonomie gekoppelt, die ihr strukturell nicht zur Disposition steht. Sie ruht materiell auf einem ökonomischen Fundament, das sie allenfalls gewährleistet, dem sie den Rahmen vorgibt, das sie zwar in diesem Sinne erzeugt, doch das ihr nicht gehört, das auch nicht einfach zu ihr gehört. Die Demokratie muss im eigenen Interesse sowohl die Funktion der Ökonomie als auch die Funktion der Gesellschaft garantieren, die durch die fatalen Folgen der Ökonomie gefährdet ist. Staat und Politik können dies nur mehr als separierte Funktionsbereiche leisten. Und gleichzeitig ist diese eigenständige Sphäre mit tausend Fäden an die andere Sphäre gefesselt. Ohne funktionierende Ökonomie kein funktionsfähiger Staat – ohne funktionierenden Staat keine funktionierende Ökonomie. In einem endlosen Wechselspiel wird die Funktionstüchtigkeit der einen Sphäre jeweils zur Voraussetzung der Funktionstüchtigkeit der anderen, sind Politik und Ökonomie historisch-genetisch und strukturell-funktional so unauflöslich wie antagonistisch miteinander verkoppelt. Die Demokratie unter diesen Umständen unabhängig von ihrem ökonomischen Fundament her zu denken ist nicht möglich. Sie gegenüber der Ökonomie praktisch zu behaupten ist anstrengend. Doch ist es bereits ein therapeutischer Akt, die widersprüchlichen Verhältnisse zumindest gedanklich und zumindest teilweise loszuwerden. Die Debatte um das Grundeinkommen ist dazu gut. Und beim allgemeinen Wahlrecht ist es tatsächlich gelungen. Sein Siegeszug liefert das argumentative Modell. Irgendwann hat in der politischen Sphäre aller demokratischen Staaten die Gleichheit die Oberhand über die Differenz gewonnen und sich in allgemeinen Wahlen manifestiert. Derart kollektiv von den Spaltungen und Ungleichheiten der Ökonomie Abstand zu gewinnen, wird geradezu zwingend in einer Ära, in der die Einkommen ungleicher, volatiler und kontingenter werden, Erfolg sich von persönlichen Fähigkeiten und Bildung ablöst und man eher durch Lotterie als durch Arbeit reich wird. Dazu taugt das Grundeinkommen praktisch und materiell. Ohne Rückgriff auf den fundamentalen Kern der Demokratie, auf die Gleichheit, die sie konstituiert, und ohne den Schwung von Wahlrechtsdebatten sind allerdings die tief eingefressenen sozialstaatlichen Denkmuster kaum zu durchbrechen. Die übliche technokratisch-ökonomistisch verkürzte »Reformdebatte« führt in der Causa Grundeinkommen nicht weiter.

Die kapitalistische Ökonomie kann längst nicht allen Menschen ein angemessenes, menschenwürdiges, wenigstens die Existenz sicherndes Einkommen garantieren. Die demokratische Republik kann umgekehrt ihren Bürgern kein Recht auf Arbeit in dieser kapitalistischen Ökonomie garantieren. Sie kann ihre Bürger deshalb dort aber auch nicht umstandslos zur Arbeit verpflichten. Sozialleistungen, die die Existenz von Bürgern sichern sollen, immer hemmungsloser von der Bereitschaft zur Aufnahme einer Arbeit in der kapitalistischen Ökonomie abhängig zu machen, anstatt wenigstens – wenn überhaupt – von gemeinnütziger Arbeit für die Republik, ist eine ethische Verirrung und ein demokratischer Sündenfall. Die Bürger können von sich und ihresgleichen erwarten, dass jedermann durch besteuerbare Arbeit zum Gemeinwesen beiträgt. Aber sie können nicht erwarten, dass dies jedermann gelingt. Die demokratische Republik hat aber die Potenz, die Gesellschaft am gesellschaftlich produzierten Reichtum teilhaben zu lassen und ihn zu Teilen nach demokratischen Prozessen zu verteilen. Weil die kapitalistische Ökonomie aus sich heraus die Existenz aller Gesellschaftsglieder nicht garantieren kann, springt die demokratische Republik mit einer materiellen wie symbolischen Existenzgarantie in die Lücke. Sie ist es, die ihren Bürgern ein Recht auf Existenz garantiert, auf ein auskömmliches Einkommen als Bürger. Nur sie kann eine basale soziale Sicherheit garantieren. Das ist in einer Welt voller Unsicherheiten und abnehmender staatlicher Handlungsmöglichkeiten noch eine der wenigen Garantien, auf die sich die Politik ohne Gefahr der Überforderung wirklich einlassen kann. Das Grundeinkommen erinnert daran, dass es ein Recht auf ein angemessenes Einkommen gibt, weil wir alle Teil der politischen Sphäre sind. Das Grundeinkommen ist ein Recht des Bürgers der demokratischen Republik, ein ökonomisches Bürgerrecht. Es ist wie die leistungsbezogene Steuerpflicht ein materielles Fundament von Demokratie und Republik. Es ist ein grundlegender Baustein im gesellschaftlichen Versuch, eine Sphäre der menschlichen Existenz zu schaffen, in die die Ökonomie nicht dominierend und determinierend hereinragt. Er federt den Anspruch der Ökonomie kollektiv ab und drängt ihn aus einer Sphäre zurück, in der man Mensch und Staatsbürger sein kann, ohne – ständig und ohne Pause – Arbeiter oder Bourgeois zu sein. Grundeinkommen, Bürgergeld beseitigen nicht die sozial spaltenden Folgen der kapitalistischen Ökonomie. Aber sie machen sie besser aushaltbar. Sie zu gewährleisten ist die Pflicht der demokratischen Republik.

Literatur:

Aly, Götz (2005): Hitlers Volksstaat, Frankfurt am Main

Englert, Wolfgang (2004): Bürger ohne Arbeit, Berlin

Gorz, Andre (1987): Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, Bodenheim

Grözinger, Ger/Maschke, Michael/Offe, Claus (2006): Die Teilhabegesellschaft – Modell eines neuen Wohlfahrtsstaates, Frankfurt am Main

Opielka, Michael (2004): Sozialpolitik, Reinbek bei Hamburg

Opielka, Michael/Strengmann-Kuhn, Wolfgang (2006): Das solidarische Bürgergeld. Finanz- und sozialpolitische Analyse eines Reformkonzeptes. Studie für die Konrad Adenauer Stiftung (unter Mitarbeit von Kaltenborn, W.), Königswinter (erscheint März 2007)

Vobruba, Georg (Hrsg.) (2006): Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Das Grundeinkommen in der Arbeitsgesellschaft, Wiesbaden