Markus Kurth / Katrin Göring-Eckardt

Sozialpolitik zwischen Repression und Illusion

Eine politische Einordnung der Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen

In der Sozialstaatsdiskussion hat sich eine repressive Tendenz ausgebreitet, in der Sanktionsregime und die Ausgrenzung als Dauerzustand akzeptiert werden. Dagegen wird hier auf das Prinzip der Teilhabe-Befähigung sowie der Wahl- und Gestaltungsrechte verwiesen. Wäre dabei ein bedingungsloses Grundeinkommen hilfreich? Unsere Autorin und unser Autor sind da eher skeptisch. Integration durch Arbeit und umfassende soziale Bürgerrechte müssen mit staatlicher Sicherung des Existenzminimums verknüpft werden.

Die sozialpolitische und arbeitsmarktpolitische Debatte in Deutschland ist von großer Widersprüchlichkeit geprägt. Auf der einen Seite ist die öffentliche Wahrnehmung von den in regelmäßigen Abständen auftauchenden Debatten bestimmt, in denen vom so genannten Sozialmissbrauch und sozialer Verwahrlosung die Rede ist und die längst nicht mehr nur den Boulevard bedienen. Ob Henrico Frank oder »Florida-Rolf« – man kann sich darauf verlassen, dass die Rufe nach weiteren Sanktionen ertönen und Verschärfungen des Sozialrechts folgen. Damit einher geht ein diffuses Unbehagen der Gesellschaft mit den sich immer deutlicher zeigenden Erscheinungen sozialer Ausgrenzung. Die beschleunigten Themenkonjunkturen für Phänomene wie Gewalt an Schulen oder schwerste Kinderverwahrlosung belegen, dass die relative Brüchigkeit gesellschaftlichen Zusammenhalts in das Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft vordringt. Allerdings wird in den vorwiegend voyeuristischen Darstellungen von Bild bis Spiegel nur versucht, mit der Darstellung bestimmter Erscheinungsformen zusammengebrochener Sozialstrukturen auf die »anderen« als gesellschaftliche Außenseiter zu verweisen. Nicht bloß im medialen Diskurs werden in bewährter Manier so genannte Randgruppen als bestenfalls Mitleid erregende gesellschaftliche Exoten konstruiert. Im politischen Raum findet ein derart ausgerichteter Blickwinkel immer dankbare Abnehmer – erlaubt er es doch, die schaudernde Mittelschicht hinter mehr oder weniger diskriminierenden Vorschlägen zur Disziplinierung der Arbeitslosen und zur Eindämmung des Auseinanderdriftens der Gesellschaft zu versammeln. Auch die von Kurt Beck losgetretene Diskussion um die »Unterschicht« zielte auf eine Gesellschaft, in der Statussicherheit längst ein Privileg einer schrumpfenden Minderheit ist.

Damit kommen wir zur anderen Seite der widerspruchsvollen Auseinandersetzung mit ökonomischer und sozialer Erosion in Deutschland. Die öffentlich geführte Debatte über die »Generation Praktikum« legt stellvertretend für viele andere Angehörige der Mittelklasse offen, dass zunehmend auch Menschen mit hochwertigen Abschlüssen und erfolgreichen Berufswegen die krisenhafte biografische Erfahrung der Verwundbarkeit der Exstenz teilen. Natürlich stimmt gerade bei AkademikerInnen die reale Bedrohung ihrer Existenz nicht mit der gefühlten Angst überein. Aber die soziale Exklusion und ökonomische Prekarisierung sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Gleichwohl fordert die zugespitzte Aussage von Zygmunt Bauman, der Ausschluss sei ein »Schwert, das über jedem Menschen hängt, auch über der Mittelklasse«, den traditionellen Kanon arbeitsmarktpolitischer und sozialpolitischer Rezepte mehr heraus, als es die Protagonisten der politischen Klasse in diesem Land derzeit wahrhaben wollen.

Die Sackgasse: repressive Sozialpolitik

Als völlig unzulänglich empfinden jedenfalls immer mehr Menschen das, was nach wie vor den politischen Mainstream darzustellen scheint: Mit mehr oder weniger offenem obrigkeitsstaatlichem Vorgehen sollen vermeintliche Abweichler auf Kurs gebracht oder zumindest zurückgedrängt werden. Beispielhaft verdeutlicht dies gegenwärtig eine Bundesratsinitiative, die das Beschreiten des Rechtswegs in Sozialgerichtsverfahren durch das Erheben hoher Gebühren zu verhindern sucht. Eine parallel laufende Initiative der CDU-geführten Bundesländer sieht erhebliche Einschränkungen der Prozesskostenhilfe vor. Beides zusammen bedeutete im Ergebnis, dass für Arme die verfassungsrechtliche Garantie des Rechtswegs substanziell ausgehöhlt wäre. Selbst wenn jene Vorstöße in dieser Form wohl (zunächst) nicht realisiert werden dürften, so zeigen sie doch in Verbindung mit den jüngsten Verschärfungen des Sozialgesetzbuches II (»Hartz IV«), dass die Bürgerrechte jener Menschen, die weder in den Arbeitsmarkt noch in zivilgesellschaftliche Strukturen integriert sind, inzwischen offen zur Disposition gestellt werden. Damit wird in Deutschland ein Weg beschritten, der im europäischen Ausland bereits weit bedrohlichere Ausmaße angenommen hat. Tony Blair hat Anfang 2006 einen Aktionsplan vorgelegt, der eine Strategie für »sozial problematische Verhaltensweisen« beschreiben soll. Dazu gehört die Einrichtung von Wohnheimen für Problemfamilien oder etwa ein Bußgeldkatalog für antisoziales Verhalten wie »Herumlungern« auf den Strassen. Blair wörtlich: »Wir müssen die Vorstellung hinter uns lassen, dass die so genannten Bürgerrechte dieser Minderheit Vorrang vor den Bürgerrechten der großen Mehrheit anständiger Menschen haben.«

Das Ärgerliche an der Strategie der repressiven Sozialpolitik ist nicht allein ihre Respektlosigkeit gegenüber Menschen, die auf materielle Unterstützung für das Lebensnotwendige angewiesen sind und sich lieber heute als morgen selbst versorgen würden. Zugleich verkennt diese Strategie wie andere eher »materialistische« Lösungsversuche, dass viele Langzeitarbeitslose für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben mehr brauchen als finanzielle Hilfen – nämlich Bildungsmaßnahmen, persönliche Unterstützung, Fachberatung und anderes mehr. Besorgt stimmen muss zudem aus politischer wie ökonomischer Sicht die garantierte Erfolglosigkeit autoritärer Steuerungsversuche. Wenn staatliche Agenturen die – wie es im Sozialrecht heißt – »Kooperation der Hilfebedürftigen« erzwingen wollen und weder die Kooperationsfähigkeit noch gemeinsame Ziele geklärt sind, laufen alle Strategien zur Integration ins Leere. Die Ziellosigkeit der Zwangsanwendung wird dadurch verschärft, dass diese auch dort gesetzlich vorgesehen ist, wo ausschließlich Freiwilligkeit und Kooperation Erfolg versprechen. So hat bekanntermaßen eine Suchttherapie keinen Sinn, wenn sie gegen den Willen des Suchtkranken veranlasst wird. Die Strategie der repressiven Sozialpolitik verstärkt folglich die Ausgrenzungsphänomene, die sie zu bekämpfen vorgibt. Die gegenwärtige mehrheitliche Richtungsvorgabe ist umso bedrohlicher, als dass der bereits jetzt erreichte Stand der sozialen Ausgrenzung in Zukunft der Gesellschaft und Wirtschaft einen hohen Preis abverlangen wird.

Dort, wo die klassischen Erscheinungsformen sozialer Marginalisierung seit Jahren vorhanden sind, verbreiten sie sich immer schneller. Es droht die dauerhafte Spaltung der Gesellschaft in die »Produktiven« und die »Überflüssigen«. Das Problem dieser Entwicklung ist nicht nur ein ökonomisches: Ebenso dramatisch für den Einzelnen ist das Fehlen gesellschaftlicher Anerkennung, das frustrierende Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Nicht umsonst ist »Respekt« der Schlüsselbegriff für viele Jugendliche – sowohl in den französischen Vorstädten als auch bei uns. Ansehen und Ehre haben für sie den gleichen Stellenwert wie monetäre Sicherheit. Mit dieser Werthierarchie machen die Jugendlichen deutlich, woran es ihnen in dieser Gesellschaft vor allem fehlt: an Zugehörigkeit, Achtung, Wertschätzung.

Zur Notwendigkeit einer neuen sozialpolitischen Debatte

Diese Defizitbeschreibung ist im Hinblick auf die klassischen armen und bildungsfernen Milieus schon dramatisch genug. Wenn aber, wie eingangs ausgeführt, das Auseinanderdriften der Gesellschaft längst kein Prozess mehr ist, der auf diese Milieus beschränkt bleibt, müssen Staat und Gesellschaft spätestens jetzt eine klare Botschaft an jede und jeden Einzelnen aussenden und einen grundsätzlich anderen Anspruch formulieren: Wir können und wollen auf keine und keinen verzichten, jeder und jede wird gebraucht! Wir wollen jedem und jeder ein würdiges Leben ermöglichen! Unter dieser radikal auf Einschluss und Teilhabeanspruch zielenden Maßgabe wollen wir aus grüner Perspektive Lösungsansätze für das sich zuspitzende Problem der gesellschaftlichen Ausgrenzung erarbeiten. Dabei sehen wir uns im Feld einer sich entwickelnden Debatte, die Alternativen zur Strategie der repressiven Sozialpolitik einfordert.

Die meistdiskutierte Alternative dürfte dabei derzeit die Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen darstellen. Viele Motive, die dieser Diskussion zugrunde liegen, teilen wir. Das Anliegen, dass in einer der reichsten Gesellschaften der Welt wenigstens die physische Existenz in einer weitgehend angstfreien Form zu sichern sein sollte, ist mehr als legitim. Weiterhin beschreibt die Forderung nach Selbstbestimmung auch in einer Situation der materiellen Abhängigkeit ein richtiges soziales Bürgerrecht. Und: Die Rede vom »Fördern und Fordern« hat mehr als nur einen schalen Beigeschmack, solange in der realen Praxis die immerhin in diesem Wortpaar enthaltene Selbstverpflichtung der staatlichen Seite mehr als unzulänglich eingelöst worden ist. Aber der Ansturm auf die nicht gerade üppigen Ein-Euro-Jobs zeigt vor allem eines: Menschen wollen Anerkennung durch bezahlte Beschäftigung. Stutzig machen sollte auch, dass der überwiegende Teil der ehrenamtlich oder bürgerschaftlich Engagierten gleichzeitig berufstätig ist. Der Ausschluss insbesondere aus dem Arbeitsleben löst bei einer großen Mehrheit keinen Mobilisierungsschub aus, sondern das genaue Gegenteil. Wir fragen: Was braucht zum Beispiel ein junger arbeitsloser Mensch ohne Ausbildungsplatz und mit schlechtem Schulabschluss? Was verhilft ihm zu gesellschaftlicher Anerkennung, Respekt und Einbindung in die Gesellschaft? Welche Wege für eine tatsächliche Armutsbekämpfung muss der Staat und muss die Gesellschaft gehen? Müssen wir uns entscheiden zwischen Grundeinkommen und Infrastruktur plus Basissicherung oder gibt es einen dritten Weg? Gleichzeitig muss natürlich die Frage gestellt werden: Ist das bedingungslose Grundeinkommen auch für Neoliberale deshalb so attraktiv, weil sich scheinbar mit einem Schlag all die lästigen Folgeerscheinungen sozialer Exklusion und die Aufwendungen zu ihrer Behebung erledigen, oder weil es – wie im Althaus-Modell – schlicht eine Kürzung der Sozialleistungen darstellt? Egal, welches Finanzierungsmodell am Ende steht: Auf gar keinen Fall darf es zu einer Stilllegung der Förder-, Bildungs- und Sozialpolitik der Schwachen kommen.

Befähigung, Teilhabe, Respekt und Eigenverantwortung ermöglichen

Wir setzen allen Strategien zur Ausgrenzung einen radikalen Anspruch auf Teilhabe und soziale Bürgerechte entgegen. Hauptziel staatlicher Politik muss es sein, den Einzelnen zur Teilhabe am öffentlichen (Zusammen-)Leben zu befähigen und mit dieser Teilhabe zu rechnen. Wir wollen eine Gesellschaft von sozial und politisch handlungsfähigen Menschen. Dieser Aufgabenstellung werden aber sowohl der »versorgende« als auch der »aktivierende Staat« nicht gerecht. Während sich der »versorgende Staat« damit begnügt, materielle Ansprüche rechtlich zu normieren, konzentriert sich der »aktivierende Staat« recht einseitig auf die Forderung, Erwerbsarbeit aufzunehmen und versucht, mit mal mehr, mal weniger tauglichen Instrumenten die Arbeitsmarktintegration zu fördern. Damit reduziert aber der »Versorgungsstaat« die Menschen auf die Rolle der Transferempfänger, während der »aktivierende Staat« sie nur als (potenzielle) Erwerbspersonen sieht. Als Bürgerinnen und Bürger, als Subjekte gesellschaftlichen Handelns mit eigenen Ressourcen und Vorstellungen kommen die Betroffenen nicht vor. Beide Konzeptionen sind deshalb im Kern paternalistisch. Wichtige Dimensionen der conditio humana bleiben außen vor – und damit auch entscheidende Formen sozialer Ausgrenzung. Gleichzeitig gehen dem Gemeinwesen selbst wichtige Ressourcen verloren. Wer sagt, dass jede und jeder gebraucht wird, weiß auch, dass jede und jeder etwas beizutragen hat. Wenn das Ziel demokratischer Politik das Empowerment im Sinne einer Befähigung zur Teilhabe ist, müssen gerade angesichts der drohenden Spaltung in »Teilhabende« und »Nicht-Teilhabende« die politischen Strategien neu ausgerichtet werden.

Was wir brauchen, ist ein Zusammenwirken von Verteilungsgerechtigkeit und Aktivierung auf der Basis klar definierter sozialer Bürgerrechte. Hierunter verstehen wir echte Mitwirkungsrechte. Denn erst Wahl- und Gestaltungsrechte können die so oft beschworene Eigenverantwortung des Individuums ermöglichen. Der schlichte Appell zu mehr Eigenverantwortung spricht den BürgerInnen bisheriges verantwortliches Verhalten ab. Vollends unredlich ist der Verweis auf Eigenverantwortung, wenn ein ganz bestimmtes Verhalten durch Sanktionsdrohungen erzwungen werden soll. Eigenverantwortung ist nur möglich, wenn Spielräume und Handlungsalternativen eröffnet werden. Erst mit der Eröffnung echter Optionen auf Teilhabe erwirbt sich der Staat das Recht, deren Wahrnehmung auch einzufordern und davon auch seine Leistungen abhängig zu machen. Dabei ist die Eröffnung von Wunsch- und Wahlrechten, die es im Übrigen auch in Teilen des heutigen Sozialrechts bereits gibt, kein Gnadenakt. Mitwirkung an selbst gewählten Vorhaben steigert schlichtweg die Effizienz, weil sie die Motivation fördert und die Mitwirkenden auf »ihr« Vorhaben verpflichtet. In der Arbeitswelt wirkt dieser simple Mechanismus millionenfach. Es ist nicht einzusehen, warum bei Hilfebedürftigen, besonders bei Langzeitarbeitslosen, auf die einfachsten Motivationsmöglichkeiten weitgehend verzichtet wird. So hat das, was sich gegenwärtig in den Beratungsgesprächen in den meisten Jobcentern abspielt, mit der Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten für die Betroffenen oder gar deren Mitwirkung meist wenig zu tun.

Die Möglichkeiten des Staates, sozialer Exklusion entgegenzuwirken sind natürlich nicht unbegrenzt. Angesichts wechselnder Lebenssituationen und -umgebungen bleibt Integration ein ständiger Prozess. Soziale Integration kann nur dann gelingen, wenn sich die gesamte Gesellschaft an ihr beteiligt. Der Staat kann diese Aufgabe nicht stellvertretend und nicht allein übernehmen. Er kann und soll solche Vereine fördern, die durch die Integration von MigrantInnen und Menschen aus »bildungsfernen Schichten« ein überbrückendes soziales Engagement leisten. Die zivilgesellschaftlichen Institutionen müssen ihre Zugangsschwellen niedrig halten und marginalisierten Milieus die Chance zu einem aktiven Engagement geben, um einen größeren Beitrag zur Integration zu leisten. Die Partizipation an Entscheidungsprozessen, die unmittelbar die eigene Lebenssituation betreffen, kann und muss durch staatliches Handeln ermöglicht werden. Die Fähigkeit zur Partizipation ist nur im Verbund mit zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation und individuellem Beteiligungswillen zu entwickeln. Die Sicherung des Existenzminimums und die Verhinderung von materieller Armut ist staatliche Kernaufgabe. Wenn die Begriffe »Selbstbestimmung« und »Teilhabe« aber neue politische Geltung entfalten sollen, müssen sie mit nicht weniger als einem unbedingten Anspruch an die Subjektwerdung derjenigen Menschen verbunden sein, die bislang bloße Objekte sozialstaatlicher Regulierung und weitgehender gesellschaftlicher Ächtung sind.