Rolf Wiggershaus

»Als sollte die Hauptsache erst kommen«

Zur Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft

Die Vermutung, erst mit einem fundamentalistischen Terrorismus und den kreuzzüglerischen Reaktionen der Bush-Administration sei das Revival der Religionen beflügelt worden, übersieht, dass die von Beginn an von Entgleisung bedrohte Moderne neue Räume für die Religionen eröffnete. Die Spielarten des Religiösen haben sich weit, ja weltweit ausgespreizt. Wie viel hat diese in vielen Farben schillernde Sinnsuche mit dem »Unbehagen an der Moderne« zu tun? Handelt es sich dabei nur um einen »westlichen Sonderweg«? Über Habermas’ Erfahrungen im Iran, die Antriebsmomente des Fundamentalismus und das Kopftuch als Ausdruck einer Geschlechterdifferenz im Islam steuert unser Autor auf die grundlegenden Ambivalenzen einer »postsäkularen Moderne« zu.

Weniger als ein Jahr nach den Anschlägen vom 11. September 2001, bei denen offenbar religiös motivierte Selbstmordattentäter zivile Verkehrsmaschinen zu Waffen gegen die kapitalistischen und militärischen Zitadellen der westlichen modernen Zivilisation umfunktioniert hatten, kam es zu einem denkwürdigen Ereignis ganz anderer Art. Im Sommer 2002 reiste für eine Woche der westliche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas in die Islamische Republik Iran, wo er im Auditorium Maximum der Universität von Teheran über »Säkularisierung in den postsäkularen Gesellschaften des Westens« sprach. Er folgte einer Einladung des vom damaligen iranischen Staatspräsidenten Mohammad Chatami gegründeten »Zentrums für den Dialog der Zivilisationen«.

Habermas hatte sich mehr als zwei Jahrzehnte zuvor anlässlich der Auszeichnung mit dem Theodor-W.-Adorno Preis der Stadt Frankfurt am Main mit einer Rede über »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt« bedankt, einem programmatischen Vortrag, der von seinem ausgeprägten Bewusstsein für die Dialektik der Modernisierung zeugte. Auch als er nicht lange nach den Anschlägen vom 11. September in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm, mahnte er zur Selbstbesinnung: »Den Risiken einer andernorts entgleisenden Säkularisierung werden wir nur mit Augenmaß begegnen, wenn wir uns darüber klar werden, was Säkularisierung in unseren postsäkularen Gesellschaften bedeutet.«(1) Im Verlauf dieser Rede bekannte er, zu den »religiös Unmusikalischen« zu gehören. Damit machte er sich die Wendung eines Kollegen – Max Weber – zu eigen, der ein Jahrhundert vor ihm den Siegeszug der westlichen Moderne als einen mit Sinn- und Freiheitsverlust einhergehenden Entzauberungs- und Rationalisierungsprozess diagnostiziert hatte und in einem Brief von sich meinte, er sei weder antireligiös noch irreligiös, sondern »religiös absolut unmusikalisch«.

Weber bekundete auf diese Weise eine alles andere als eine bloß gleichgültige oder gar herablassende Haltung gegenüber Religion und gegenüber Gläubigen. In seinem Brief heißt es vielmehr weiter: »Ich empfinde mich auch als einen Krüppel, als einen verstümmelten Menschen, dessen inneres Schicksal es ist, sich dies ehrlich eingestehen zu müssen, sich damit – um nicht in romantischen Schwindel zu verfallen – abzufinden …«(2) Vermutlich würde Habermas sich nicht so drastisch ausdrücken, und wäre eine so drastische Ausdrucksweise auch seiner Zeit- und Selbstdiagnose nicht angemessen. Doch indem er Webers auffällig formulierte Selbstcharakterisierung übernahm, bekennt auch er sich dazu, dass ihm, dem Theoretiker der kommunikativen Vernunft, womöglich der Sinn für etwas Wichtiges fehle. Nicht erst in jüngeren Arbeiten, sondern schon früher findet man denn auch Passagen wie diese: »Die kommunikative Vernunft inszeniert sich nicht in einer ästhetisch gewordenen Theorie als das farblose Negativ trostspendender Religionen. Weder verkündet sie die Trostlosigkeit der gottverlassenen Welt, noch maßt sie sich selbst an, irgend zu trösten. Sie verzichtet auch auf Exklusivität. Solange sie im Medium begründender Rede für das, was Religion sagen kann, keine besseren Worte findet, wird sie sogar mit dieser, ohne sie zu stützen oder zu bekämpfen, enthaltsam koexistieren.«(3)

Das Land, in das der Besucher aus dem Westen kam, war seit mehr als zwei Jahrzehnten ein Gottesstaat. Davor sah es anders aus. Die links-nationalistische Mossadegh-Regierung war einst von der schiitischen Ulema vorsichtig unterstützt worden. Zur Zeit des Schah-Regimes, das sich mit Unterstützung der USA und dank einiger Modernisierungsmaßnahmen einerseits, dank Terror und Folter andererseits an der Macht hielt, wurde der führende iranische Kleriker, Ayatollah Khomeini, zunächst verhaftet und nach der blutigen Unterdrückung von Massenprotesten 1964 verbannt und zur Symbolfigur des Widerstandes gegen die in der westlichen Medienöffentlichkeit gefeierte Monarchie. Der sich im Herbst und Winter 1978/79 zuspitzende Widerstand veranlasste Khomeini zur Rückkehr nach Teheran, wo er und seine Anhänger im Nu entscheidende Fakten schufen und er nach einer Volksabstimmung, bei der es nur die Wahl zwischen Monarchie und Theokratie gab, am 1. April 1979 die Islamische Republik proklamieren konnte. Die Ende 1979 verabschiedete Verfassung räumt dem religiösen Führer die absolute religiöse und politische Macht ein, unter anderem die Beaufsichtigung des Staatspräsidenten und der Regierung und die Entsendung der Hälfte des Wächterrates, der seit 1989 die Konformität von Gesetzen mit dem islamischen Recht kontrolliert. In der Islamischen Republik Iran kann man also einen Modellfall für den Versuch sehen, in Gestalt eines Gottesstaates einen eigenen, sich von der westlichen Kultur distanzierenden islamischen Weg der Selbstbehauptung und Entwicklung zu praktizieren – ein Versuch, bei dem gemäßigte und radikale Verfechter einer Islamisierung von Staat und Gesellschaft im Streit liegen, wobei die Radikalen nicht nur über mehr Macht verfügen, sondern sich auch durch religiöse Stiftungen, die mehrere Millionen Menschen beschäftigen, und durch mehr oder weniger bescheidene soziale Wohltaten Loyalität sichern.

Chatami, der Gründer des »Zentrums für den Dialog der Zivilisationen«, gehörte zu den gemäßigten Verfechtern der Islamisierung, hatte 1997 bei der Wahl des Staatspräsidenten den Kandidaten der radikalen Islamisierer überraschend geschlagen und erlebte bei den Parlamentswahlen des Jahres 2000 den Sieg der Reformkräfte – zugleich allerdings die Begrenztheit seiner Macht angesichts sich verschärfender repressiver Maßnahmen fundamentalistischer Geistlicher. Das enttäuschte die Erwartungen vieler, die auf die Reformer gesetzt hatten. An der Universität von Teheran, wo Habermas 2002 auftrat, war es im Sommer 1999 zu Demonstrationen reformorientierter Studenten und in Reaktion darauf zu massenhaften Verhaftungen gekommen. Ein Jahr nach Habermas’ Besuch kam es von Teheran ausgehend abermals zu Studentenprotesten, bei denen erstmals auch der Rücktritt Chatamis gefordert wurde, der 2001 mit einem überzeugenden Votum als Staatspräsident wiedergewählt worden war. Der Besucher aus dem Westen kam so zu einem Zeitpunkt, da die Kräfteverhältnisse für eine offene Auseinandersetzung um den weiteren Kurs des Landes relativ günstig waren. Er wollte sich ja keinesfalls von den falschen Leuten als Aushängeschild für eine falsche Sache benutzen lassen, wollte sich aber auch nicht dessen schuldig machen, was den ägyptischen Nobelpreisträger Nagib Machfus einmal zu dem Vorwurf veranlasst hatte: »Der Westen interessiert sich für unsere Köpfe nur, wenn sie rollen.«

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland rekapitulierte Habermas, worum es in den Vorträgen und Diskussionen, bei Treffen und Gesprächen ging. »In Iran gewährt die Obrigkeit allein den kleinen zoroastrischen, jüdischen und christlichen Minderheiten, also den ›Vorgängern‹ des Islam, die öffentliche Ausübung ihrer Religion, nicht aber beispielsweise den Bahai. Gleichzeitig oktroyiert sie allen, auch den nichtislamischen und den ungläubigen Bürgern, die vom islamischen Recht vorgeschriebene Lebensform. Das provoziert die Frage, ob die Religion nicht auch dann ihre lebensgestaltende Kraft bewahren kann, wenn sie auf politische Macht verzichtet – wenn sie sich unmittelbar an das Gewissen des einzelnen, freiwillig assoziierten Gemeindemitglieds adressiert und ihren politischen Einfluss nur noch indirekt, über das Stimmengewirr einer liberalen Öffentlichkeit ausübt.«(4) Die Diskussionen drehten sich vor allem um Kontextabhängigkeit oder Übertragbarkeit des europäischen Modells. Ist der grundrechtlich gesicherte religiöse Pluralismus nicht doch ein spezifisch westliches Phänomen? Ist er an seine historischen Entstehungsbedingungen gebunden, oder bietet er eine plausible Lösung für ein Problem, mit dem heute zunehmend alle Gesellschaften zu tun bekommen? Müssen andere Kulturen nicht wenigstens eine äquivalente Lösung finden?

Damit trug Habermas im Rahmen eines interkulturellen Dialogs vor, was er für eine europäische Erfahrung hielt, die von Interesse sein konnte in einem Land, in dem über die politische Rolle der Religion gestritten wurde. In Europa führten die konfessionellen Glaubensspaltungen, Glaubenskriege und Säkularisierung schließlich dazu, dass religiöser Glaube sich genötigt sah, sich über seine nicht-exklusive Stellung in einem Diskursuniversum klar zu werden, das von den Wissenschaften begrenzt war und das er mit anderen Religionen zu teilen hatte, und ohne die Verfügung über Gewaltmittel oder gar die staatliche Gewalt die eigenen nicht-relativierten Glaubensansprüche zu vertreten. Waren Religion und Politik getrennt und durch eine weltanschaulich neutrale Staatsgewalt Religionsfreiheit garantiert, konnte Religion, gerade weil sie nicht die Macht zur Durchsetzung einer von einem religiösen Dogma vermeintlich vorgeschriebenen Lebensform hatte, eine wichtige Funktion ausüben. Religionen, die in religiösen Überlieferungen und heiligen Schriften Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert und über lange Zeiträume hinweg wach gehalten haben, können intakt halten, was im Prozess der Modernisierung verloren gegangen oder bedroht ist: Sensibilität und Ausdrucksmöglichkeiten für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien und deformierte Lebenszusammenhänge.

In der Formulierung »Säkularisierung in der postsäkularen Gesellschaft« ist auf eine knappe Formel gebracht, worin Habermas und eine Reihe weiterer Zeitdiagnostiker die Herausforderung und Chance für das gegenwärtige Verhältnis von Religion und Moderne sehen. Der Nötigung zur selbstreflexiven Einsicht von Religion in ihre Grenzen folgt die Nötigung zur selbstreflexiven Einsicht säkularer Bürger. »Solange säkulare Bürger davon überzeugt sind, dass religiöse Überlieferungen und Religionsgemeinschaften ein gewissermaßen archaisches, aus vormodernen Gesellschaften in die Gegenwart hineinreichendes Relikt sind, können sie die Religionsfreiheit nur als kulturellen Naturschutz für aussterbende Arten verstehen. Aus ihrer Sicht hat die Religion keine innere Berechtigung mehr. Auch das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche kann dann nur noch den laizistischen Sinn eines schonenden Indifferentismus haben. Nach säkularistischer Lesart können wir voraussehen, dass sich religiöse Anschauungen im Lichte der wissenschaftlichen Kritik auflösen werden und dass die religiösen Gemeinden dem Druck einer fortschreitenden kulturellen und gesellschaftlichen Modernisierung nicht standhalten können. Bürgern, die eine solche epistemische Einstellung gegenüber der Religion einnehmen, kann offensichtlich nicht zugemutet werden, religiöse Beiträge zu politischen Streitfragen ernst zu nehmen und in kooperativer Wahrheitssuche auf einen Gehalt zu prüfen, der sich möglicherweise in säkularer Sprache ausdrücken und in begründender Rede rechtfertigen lässt.«(5) Es geht dabei nicht um das respektvolle Gespür für die mögliche existenzielle Bedeutung der Religion, das auch von den säkularen Bürgern erwartet wird, sondern um »die selbstreflexive Überwindung eines säkularistisch verhärteten und exklusiven Selbstverständnisses der Moderne«.(6) Die Einsicht säkularer Bürger, in einer postsäkularen Gesellschaft zu leben, die dank kritischer Vergewisserung der Grenzen der Aufklärung mit dem Fortbestehen religiöser Gemeinschaften rechnet, verlangt einen Mentalitätswandel, der kognitiv nicht weniger anspruchsvoll ist als die Anpassung des religiösen Bewusstseins an die Herausforderungen einer sich immer weiter säkularisierenden Umgebung.

»Säkularisierung in der postsäkularen Gesellschaft« – diese Formulierung verbindet die Kritik am religiösen Fundamentalismus mit der am »säkularistischen« Fundamentalismus. »Postsäkular« soll eine Gesellschaft heißen, die nicht länger mit dem Säkularen und damit also ohne Religion auszukommen meint. Sie hält wohl am Projekt der Säkularisierung fest, sieht darin aber nicht länger selbstgewiss ein autonom gewordenes, zum Selbstläufer gewordenes Unternehmen, bei dem Reste des Religiösen keinerlei Bedeutung mehr haben – weder als Hindernis noch als Unterstützung – und früher oder später verschwunden sein werden. In der postsäkularen Gesellschaft setzt sich die Erkenntnis durch, dass in einer »modernen« Öffentlichkeit nach den religiösen auch die weltlichen Mentalitäten sich reflexiv verändern. Damit wird Religion gerade nicht auf ihren funktionalen Beitrag für die Erhaltung, Stärkung oder Wiederherstellung erwünschter Einstellungen und Motivationen reduziert, sondern als Teil eines gemeinsamen Prozesses einer Säkularisierung der Gesellschaft begriffen. »Säkularisierung in der postsäkularen Gesellschaft« – mit dieser Formulierung ist Säkularisierung weder als ein Prozess der Ersetzung religiöser Denkweisen und Lebensformen durch überlegene rationale Äquivalente noch als ein Prozess der Verdrängung einer sinnerfüllten durch eine sinnentleerte Welt noch als ein Prozess der Ausdifferenzierung, bei dem Religion zu einem Teilbereich mit kompensatorischer Funktion gesehen wird, sondern als ein komplexer Prozess mit offenem Ausgang beschrieben. Moderne, das bedeutet auch: ambivalente, von Entgleisung bedrohte Moderne, weil die Balance zwischen den drei wichtigsten Medien der gesellschaftlichen Integration – Märkte, administrative Macht und gesellschaftliche Solidarität – nicht funktioniert, und Märkte und administrative Macht die gesellschaftliche Solidarität, also eine Handlungskoordinierung über Werte, Normen und verständigungsorientierten Sprachgebrauch, aus immer mehr Lebensbereichen verdrängen. Umso wichtiger ist ein schonender Umgang mit allen kulturellen Quellen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speisen. Das beinhaltet mehr als eine funktionalistische Sicht von Religion. Religiöse Überzeugungen werden ernst genommen als Potenziale für die Korrektur einer von Misslingen bedrohten Moderne. Vom »Dialog der Zivilisationen« erhoffte der Besucher aus dem Westen Verständigung über das Ziel einer gelingenden Modernisierung und Solidarität bei der Förderung politischer Gestaltungskraft angesichts einer unbeherrschten Dynamik von Weltwirtschaft und Weltgesellschaft.

Daher Habermas’ Irritation, als in Teheran ein iranischer philosophischer Kollege meinte: »Man sehe doch heute, dass sich die Entfaltung der europäischen Moderne im Vergleich mit den anderen großen Kulturen als der eigentliche Sonderweg darstelle. Über deren pathologische Windungen müsse man eher nachdenken als über die des Islam.«(7) Offenbar, so Habermas nach seiner Iran-Reise in einem Interview in Deutschland, gebe es zur verzerrten westlichen Wahrnehmung des Orients das entsprechende Gegenstück einer verzerrten östlichen Wahrnehmung des Okzidents, also einen »Okzidentalismus«. Mit diesem in Analogie zu Edward W. Saids »Orientalismus« formulierten Begriff meinte Habermas offensichtlich ein »östliches« Bild vom Westen, wie es beispielsweise Ian Buruma und Avishai Margalit in ihrem Buch Okzidentalismus rekonstruiert hatten, wonach der Westen eine ungeachtet seiner wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Leistungen dekadente, sündhafte und zum Untergang verurteilte Kultur war, die ihren religiösen Kern verraten beziehungsweise aufgegeben hat – einen im Übrigen durch den Islam überholten Kern.(8) Diese Geisteshaltung schien ihm allerdings eher untypisch für die aufgeschlossene akademische Situation, der er in Teheran weitgehend begegnete. Aber auch bei den »Reformern« unter seinen iranischen Gesprächspartnern blieb ihm unklar, wie ernst sie es mit dem Rückzug der religiösen Lehre und der religiösen Gemeinschaft aus der Fusion mit der staatlichen Gewalt meinten und wie sie sich den »Dritten Weg« einer Synthese aus Ost und West vorstellten. Welche Alternative könnte es denn dazu geben, dass Religion ihren politischen Einfluss nur noch indirekt, »über das Stimmengewirr einer liberalen Öffentlichkeit«, ausübt, in der alle Argumente, religiöse und säkulare, gleichermaßen Gehör finden? Die europäische Erfahrung jedenfalls sieht so aus, dass die christliche Religion im Verlauf der Neuzeit ihre destruktive Kraft nicht verlor, weil die »wahren« und »guten« Gläubigen sich gegen die »fanatischen« durchsetzten, sondern weil die Religion sich aus Politik und Wissenschaft zurückziehen musste und ihre Stimme eben nur noch als Teil einer argumentierenden Konfliktregelung zählt, in der Offenbarung noch kein Argument ist.

Vielleicht kann man das Problem und die Lösungsart modellartig an einem sinnlich-praktischen Beispiel veranschaulichen. Das Läuten der Glocken vom Kirchturm und der Ruf des Muezzin vom Minarett rufen die jeweiligen Gläubigen zum Gottesdienst beziehungsweise zum Gebet, gliedern den Ablauf des Tages und bekräftigen die Identität der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Ist das christliche Glockenläuten als herkömmlicher Bestandteil einheimischer Kultur zu akzeptieren, der Ruf des Muezzin als kulturfremde Störung abzulehnen? Abzuwägen ist zwischen zwei Grundrechten: dem auf Freiheit des religiösen Bekenntnisses und ungestörte Religionsausübung und dem auf körperliche Unversehrtheit. Die Fragestellung könnte also lauten: Welche Lärmemissionen seitens religiöser und kirchlicher Einrichtungen nimmt eine säkularisierte Gesellschaft hin und wieweit können dabei Kriterien wie »Sozialadäquanz« und »Ortsüblichkeit« ins Feld geführt werden?(9) Worum es geht, ist: das Faktum des weltanschaulichen Pluralismus anzuerkennen und zu akzeptieren und zugleich das soziale Band gegenseitiger Anerkennung zu wahren sowie immer wieder zu erneuern. Das Niveau einer Gesellschaft, einer Kultur, einer Lebensform bemisst sich mehr als am Niveau ihrer Technik, Wissenschaft und Ökonomie am Niveau ihrer sozialen Organisation, das sich wiederum vor allem an den Mechanismen ihrer Konfliktregulierung erkennen lässt.

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Als erster Schritt zur Klärung des Faktums, dass eine wie auch immer selektive und unausgewogene weltweite Modernisierung die Relevanz von Religion offensichtlich nicht vermindert, sondern anscheinend gesteigert, jedenfalls zu Verschiebungen, Wandlungen, Neukombinationen geführt hat, bietet sich das Phänomen der besonderen Attraktivität von evangelikalen Formen des Protestantismus bis hin zum charismatischen Fundamentalismus an. Ursprünglich bezeichnete der Ausdruck Fundamentalismus eine im frühen 20. Jahrhundert in Erscheinung getretene Variante des US-amerikanischen Protestantismus. Ihre Anhänger bekämpften moderne Phänomene wie Bibelkritik, Evolutionstheorie, Frauenemanzipation, Sozialismus und Urbanität und forderten biblischen Literalismus, strenge patriarchalische Autorität und Verbot von Alkohol, Glücksspiel und Prostitution. Im Alltagsverständnis denkt man bei Fundamentalismus in der Regel an religiöse Orthodoxie, wörtliche Interpretation heiliger Texte, einen rigiden Moralismus speziell in Bezug auf Sexualverhalten und Geschlechterverhältnis, an Antimodernismus und Intoleranz bis hin zu Gewaltanwendung und Terrorismus. Das sind zum Teil Klischees, doch sie treffen Wesentliches, und wissenschaftlich präzisiert ist der Begriff des Fundamentalismus geeignet, die gemeinsamen Charakteristika von in verschiedenen religiösen Traditionen wurzelnden modernen religiösen Bewegungen zu benennen. Sie lassen sich knapp zusammenfassen zu vier zentralen Merkmalen, die zumindest einer großen Zahl fundamentalistischer Bewegungen gemeinsam sind: »ein radikaler Traditionalismus, ein radikaler Patriarchalismus, eine Vergemeinschaftung auf primär sozialmoralischer Grundlage sowie eine Mobilisierung religiöser Laien«.(10)

Diese Charakteristika machen den Fundamentalismus zu einem Gegenmodell zu einer modernen marktliberalen Gesellschaft. Die am schnellsten wachsende Form religiösen Lebens lässt sich begreifen als Versuch der Bewältigung einer »real existierenden Moderne«, die traditionelle Gemeinschaften zusammenbrechen lässt und auf die mit der Vision reagiert wird, hinter brüchig gewordene und gescheiterte Traditionen zurückzugreifen auf die ältere Tradition einer Urgemeinde und ihres Stifters, dessen Gebote nun wortwörtlich befolgt und verwirklicht werden sollen. Attraktiv ist der Fundamentalismus zum einen für Angehörige sozialer Schichten, die sich vom sozialen Abstieg stark bedroht fühlen. Als Beispiel für diesen Fundamentalismus der marginalisierten Mitte lassen sich der protestantische Fundamentalismus in den USA in den Jahren 1910–28 und der schiitische Fundamentalismus im Iran in den Jahren 1961–79 anführen.(11)

Attraktiv ist der Fundamentalismus aber auch für in ihren Aufstiegserwartungen drastisch Enttäuschte. Dazu gehören Intellektuellengenerationen oder -kohorten, denen die klassischen Perspektiven sozialen Aufstiegs wegen der erschöpften Absorptionsmöglichkeiten des Marktes oder der Staatsbürokratie versperrt sind. In den arabisch-islamischen Ländern konnte nach dem Scheitern und der Diskreditierung von arabischem Sozialismus, Panarabismus und Nationalismus der Rückgriff auf den Islam zum mentalen Mittel einer existenziellen Krisenbewältigung werden. Bei Untersuchungen über muslimischen Extremismus in Ägypten fiel auf: Studenten aus den Bereichen Technik und angewandte Naturwissenschaften, die besonders qualifiziert waren, besonders große Ambitionen hatten und im Unterschied zu Studenten aus den Bereichen Sozial- und Humanwissenschaften am wenigsten über kulturelle und soziale Ideen westlicher Moderne informiert waren, spielten eine dominierende Rolle in radikalen islamischen Bewegungen.(12) Wo die Bewunderung oder unreflektierte Akzeptanz und Übernahme einer naturwissenschaftlich-technischen Moderne und eine um moralische und besonders sexualmoralische Vorstellungen zentrierte dichotomische Gesellschaftskritik und Weltsicht bei intellektuell Qualifizierten zusammenkommen, kann Religion zum ethischen Fundament eines Kampfes gegen die Führer und Nutznießer eines unmoralischen Systems werden.

Auf andere Weise attraktiv ist der Fundamentalismus auch für Angehörige stark benachteiligter und perspektivloser sozialer Schichten. Sie sind eher Gegenstand der Mobilisierungsbemühungen politisierter Fundamentalisten als von sich aus militant. Dafür sind sie zu sehr vom täglichen Überlebenskampf in Anspruch genommen. Vor den 1970er-Jahren wäre die nahe liegende Frage gewesen: Warum organisieren sich solche Personen nicht auf der Basis ihrer wirtschaftlichen und sozialpolitischen Interessen? Seit der Sozialismus als gescheitertes historisches Projekt gilt und Versuche in dieser Richtung entweder gewaltsam unterdrückt wurden oder in Diktaturen und autoritären Regimes erstickten, sind religiös geprägte Reaktionen auf Krisenerfahrungen das Näherliegende geworden. Charismatischer Fundamentalismus gewährt unmittelbare und individuelle Belohnungen. Bei der charismatischen Spielart des Fundamentalismus wird besonders sinnfällig, wie das Gefühl äußerster Ohnmacht und persönlichen Versagens angesichts der spektakulären Dynamik modernen Lebens umkippt in die religiöse Erfahrung von persönlichem Sündenfall und plötzlicher Bekehrung zum erlösten Mitglied einer Gruppe Erleuchteter, die gefeit sind vor den Versuchungen und Verführungen eines höllischen Spektakels. Bei dieser Variante, zu der die sich besonders schnell ausbreitenden »Pfingstler« zu rechnen sind, spielen weniger das gesprochene Wort und Theologie eine Rolle, als vielmehr ekstatische Erfahrungen. Das sind bei den Pfingstlern zum Beispiel Bekehrungserlebnis, spontanes öffentliches Gebet, Tanz und Gesang – Manifestationen eines »Pfingstens«, bei dem der »Heilige Geist« über einen kommt. Gesucht wird, so kann man resümierend sagen, »die direkte körperliche Machterfahrung sowie ein damit verbundener herausgehobener religiöser Status, mit dem der Erfahrung sozialer Erniedrigung, dem Ohnmachtsgefühl gegenüber den das Leben bestimmenden anonymen Mächten, getrotzt wird. … Worum es geht, ist die direkte kompensatorische Machterfahrung, gekoppelt mit einer moralischen Regulierung der ›Lebenswelt‹.«(13) Durch den hohen Konformitätsdruck der Gemeinde kommt es zu einer von Selbstdisziplinierung, Triebunterdrückung und Askese bestimmten Lebensführung, die im Verhältnis zur Umwelt das Gefühl von Autonomie erlaubt. Die Errichtung eines fundamentalistischen Milieus relativiert das Chaos der »real existierenden Moderne«. »In einer Welt des radikalen Pluralismus, in der viele Menschen unter neuer Unübersichtlichkeit, mangelnder Orientierungssicherheit und relativistischer Infragestellung aller überkommenen Verbindlichkeiten leiden, bieten harte Religionen den in ihnen vergemeinschafteten Frommen etwa ein stabiles, krisenresistentes Weltbild mit prägnanten Innen-Außen-Unterscheidungen (zum Beispiel zwischen den Sündern und den Erretteten), klare Muster gottgewollter guter Lebensführung, feste Gut-Böse-Unterscheidungen, einen heiligen Ordnungsrahmen für das politische Gemeinwesen in Gestalt des göttlichen Gesetzes, etwa der Zehn Gebote, die durch dichte religiöse Kommunikation fortwährend erneuerte Erwartungssicherheit jenseitiger Himmelsgüter, dichte Sozialkontakte unter Gleichgesinnten und die sozialen Halt gewährende Geborgenheit in einer solidarischen Glaubensgruppe mit hocheffizienten Assistenz-Netzwerken für alle Krisenfälle des Lebens.«(14) Die pfingstlerischen, evangelikalen, charismatischen, fundamentalistischen Formen des protestantischen Christentums, die sich mehr noch als in den USA in Lateinamerika, Afrika und einigen Regionen Asiens ausbreiten und zu denen es Pendants auch im Islam gibt, sind offenbar eine Begleiterscheinung des weltweiten selektiven Modernisierungsprozesses.

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Dass beim Revival der Religionen die weltweite Verbreitung fundamentalistischer Spielarten des Glaubens eine so große Bedeutung hat, nährt den Verdacht, dass Religion wenig geeignet ist, zu einer umsichtigeren Modernisierung beizutragen, und – soweit sie nicht bloß politisch instrumentalisiert wird – eher dazu zu dienen scheint, eine selektive Form der Modernisierung abzufedern und eine Art Auffangstellung zu liefern für viele von denen, für die sich mit Moderne und Globalisierung in erster Linie Ohnmachts- und Verlusterfahrungen verbinden. In der historischen Formung eines »gottlosen« Kontinents Europa einen Sonderweg der Weltgeschichte zu sehen, der Indikator eines pathologischen Prozesses sei, erscheint als vorschneller Schluss von der Verbreitung eines Phänomens auf seine Normalität, wobei offensichtlich von der »Normalität« auf Normativität geschlossen wird. Eben diese Annahme teilen offensichtlich Angehörige westlicher christlicher Kirchen, die sich von der Anwesenheit glaubensstarker Muslime im entchristlichten Europa spirituelle Impulse erhoffen, die auf die glaubensschwachen Christen Europas überspringen und dem moralischen Verfall Einhalt gebieten und gegensteuern. Glaubensstärke und Glaubensschwäche besagen aber wenig darüber, welche Wertschätzung religiöse Überzeugungen verdienen. Ein aufschlussreiches Kriterium bildet dagegen angesichts der Feststellung, dass ein radikaler Patriarchalismus und ein radikaler Traditionalismus zu den zentralen Merkmalen fundamentalistischer Bewegungen gehören und dass im Übrigen alle großen Religionen immerhin stark von Patriarchalismus und Traditionalismus geprägt sind, die Frage danach, welche Bedeutung Frauen für eine Religion haben und welche Bedeutung eine Religion für die Frauen hat.

Licht darauf wirft unter anderem der Streit um das weibliche Kopftuch in modernen städtischen Gesellschaften. In den Trend zu immer größerer Feizügigkeit des Erscheinungsbildes von Frauen in westlichen Gesellschaften mischten sich zunächst unauffällig die Kopftücher muslimischer Frauen, die anfangs niemand aufregend fand, weil sie zum verbreiteten Bild von »Gastarbeitern« passten, die aus rückständigen ländlichen Gegenden weniger entwickelter Länder in den fortschrittlichen Westen kamen. Zum Streitfall wurde das Kopftuch erst, als es öfter von jungen Musliminnen der zweiten oder dritten Generation oder ausländischen Studentinnen getragen wurde, die ansonsten viele Anzeichen von Modernität – wie Schminke, hohe Absätze, körperbetonte Kleidung – aufwiesen. Dies Phänomen wurde vorwiegend als deutliches Zeichen geschlechtlicher Unterdrückung und als drastischer Rückfall hinter den im Westen erreichten Stand der Frauenemanzipation wahrgenommen. Die Erklärung wurde in einem von der Familie oder anderen Glaubensgenossen ausgeübten mehr oder weniger großen Druck sowie in religiöser Indoktrination gesucht. Jedenfalls schien es unvorstellbar, dass das zunehmende Kopftuchtragen junger Musliminnen freiwillig und selbstbestimmt erfolgen könnte.

Empirische soziologische Untersuchungen ergeben ein anderes Bild. Die Soziologin Schirin Amir-Moazami zum Beispiel führte vor einigen Jahren in Frankreich und Deutschland Interviews mit mehreren Dutzend kopftuchtragenden Frauen der zweiten und dritten Generation muslimischer Einwanderer durch und gelangte dabei zu Erkenntnissen, die geeignet sind, den Sinn für komplexe Prozesse der Vermittlung von religiöser Tradition und modernem Lebensstil zu schärfen.(15) Die befragten Frauen hatten in den wenigsten Fällen eine besonders ausgeprägte religiöse Erziehung oder Unterweisung genossen, die dann im Kopftuchtragen ihre konsequente Fortsetzung gefunden hätte. Vielmehr hatten sich die in sozial unterprivilegierten Wohnvierteln lebenden Töchter nordafrikanischer und türkischer Arbeitsmigranten aufgrund ihrer in Frankreich oder Deutschland erworbenen Bildung selbstständig religiöses Wissen angeeignet. Dies »kulturelle Kapital« verlieh ihnen das nötige Selbstbewusstsein und die nötige Autorität zur eigenständigen Interpretation religiös geprägter oder religiös legitimierter Traditionen. Das Kopftuch war bei ihnen gerade die Fortsetzung ihrer selbst erarbeiteten Islamversion, zu der auch eine eigene Position im islamischen Diskurs der Geschlechtertrennung gehörte. Das Tragen des Kopftuchs kann dann die Forderung symbolisieren, als muslimische Bürgerin am öffentlichen Leben teilzunehmen statt sich wie die Muslime der ersten Generation mit ihrem »ruhigen Islam« in der Öffentlichkeit möglichst unsichtbar zu machen. Während bei Eltern und Brüdern in der europäischen Diaspora nicht selten die patriarchalischen Anteile religiöser Tradition eine Revitalisierung erfahren und es dadurch zu einem sich verschärfenden Kontrast zwischen Unterlegenheit der Frauen in der Familie und ihrer relativen Autonomie in der Gesellschaft kommen kann, deuten die jungen Frauen die Vorherrschaft des Mannes als einen Mangel an Respekt vor dem Islam, dem »eigentlichen«, von fraglos überkommenem Brauchtum befreiten »Urislam«, der die Teilnahme von Frauen am öffentlichen Leben religiös legitimiert. So ergibt sich das paradox wirkende Bild, dass gerade kopftuchtragende junge Musliminnen in westlichen Ländern mit ihrem Gesamtverhalten praktisch die Reformfähigkeit des Islam verkörpern können. In der Öffentlichkeit tritt nicht die Öffentlichkeit scheuende stumme Haremsfrau auf, sondern die am öffentlichen Leben teilnehmende Muslimin, die damit eine Umdefinition traditioneller, von Männern festgelegter und bestimmter Rollen praktiziert. Damit distanziert sie sich sowohl vom Elternislam wie von dem Bild, das in der deutschen und französischen Öffentlichkeit von kopftuchtragenden Musliminnen herrscht.

Von den Wechselwirkungen zwischen Diaspora und Kernland im Zeitalter der Globalisierung zeugt die Beobachtung, dass selbst im theokratischen Iran ein Jahr nach der Machtübernahme eines die Bejahung von technisch-zivilisatorischem Fortschritt mit religiösem Antimodernismus verbindenden Präsidenten das Kopftuch je nach Trägerin zum modernen Accessoire oder zum politischen Statement geworden ist. Die wahre Frömmigkeit hat sich dagegen in der Theokratie aus den Moscheen, die leerer denn je sind, in die Privaträume und in zeitgemäßer Form in die Versammlungen sufistischer Mystik zurückgezogen.

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Gelegentlich geht die Identifikation der interviewten Frauen mit dem »eigentlichen« Islam so weit, dass er als Garant der Würde der Frauen erscheint, während die westliche Frau in ihren Augen äußeren Schönheitsidealen verfallen und deshalb die eigentlich Unterdrückte ist. Darin klingt die Vorstellung einer durch den »eigentlichen« Islam korrigierten Moderne, einer vielleicht besseren »islamischen Moderne« an. Das lässt an die eingangs erwähnte Irritation von Habermas angesichts der Frage des iranischen Kollegen denken, ob nicht aus kulturvergleichender und kultursoziologischer Sicht die europäische Säkularisierung der eigentliche Sonderweg sei, der einer Korrektur bedürfe. Für Habermas lief eine solche Frage auf die Überzeugung hinaus, einer zerknirschten Moderne könne nur noch die religiöse Ausrichtung auf einen transzendenten Bezugspunkt aus der Sackgasse verhelfen. Seine Reaktion darauf ist die Verteidigung der Position: keine unvermittelte politische Rolle der Religion in Staat und Öffentlichkeit, wohl aber Kooperation bei der Übersetzung religiös begründeter politischer Ansprüche in säkular begründete Beiträge zur politischen Kontroverse. Das ist ein vorsichtiges Zugeständnis, dass der »spezifischen Artikulationskraft religiöser Sprachen« eventuell Hilfreiches oder Anregendes zu verdanken sein könnte für das Projekt der Moderne, das ja nicht nur in den Augen von Habermas, sondern in denen einer langen Kette westlicher Philosophen und Theologen, Zeitdiagnostiker und Künstler ambivalent und krisenhaft ist.

Zu den bekanntesten Dikta über Religion gehört Karl Marx’ metaphorische Formulierung, die Religion sei »das Opium des Volks«.(16) Was der Zeitgenosse der wissenschaftlichen und industriellen, gesellschaftlichen und politischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts damit meinte, zeugte von enormem Optimismus hinsichtlich der Vervollkommnungsmöglichkeiten menschlicher Existenz. »Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch …«(17)

Marx vertrat nur eine besonders pointierte und radikale Variante eines westlichen Fortschrittsoptimismus, der erst durch die historischen Katastrophen und die ökologischen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts gebrochen wurde. Doch schon vor diesen Katastrophen und Erkenntnissen wurde von vielen ein Unbehagen gerade inmitten einer erfolgreichen modernen Gesellschaft empfunden. Vor gut einem Jahrhundert verlieh der Philosoph und Soziologe Georg Simmel diesem Unbehagen in der Moderne Ausdruck in einem Buch mit dem Titel Philosophie des Geldes.

»Seit es überhaupt Geld gibt, ist, im Großen und Ganzen, jedermann geneigter zu verkaufen als zu kaufen. Mit steigender Geldwirtschaft wird diese Geneigtheit immer stärker und ergreift immer mehr von denjenigen Objekten, welche gar nicht zum Verkauf hergestellt sind, sondern den Charakter ruhenden Besitzes tragen und vielmehr bestimmt scheinen, die Persönlichkeit an sich zu knüpfen, als sich in raschem Wechsel von ihr zu lösen: Geschäfte und Betriebe, Kunstwerke und Sammlungen, Grundbesitz, Rechte und Positionen allerhand Art. Indem alles dies immer kürzere Zeit in einer Hand bleibt, die Persönlichkeit immer schneller und öfter aus der spezifischen Bedingtheit solchen Besitzes heraustritt, wird freilich ein außerordentliches Gesamtmaß von Freiheit verwirklicht; allein weil nur das Geld mit seiner Unbestimmtheit und inneren Direktionslosigkeit die nächste Seite dieser Befreiungsvorgänge ist, so bleiben sie bei der Tatsache der Entwurzelung stehen und leiten oft genug zu keinem neuen Wurzelschlagen über. Ja, indem jene Besitze bei sehr rapidem Geldverkehr überhaupt nicht mehr unter der Kategorie eines definitiven Lebensinhaltes angesehen werden, kommt es von vornherein nicht zu jener innerlichen Bindung, Verschmelzung, Hingabe, die der Persönlichkeit zwar eindeutig determinierende Grenzen, aber zugleich Halt und Inhalt gibt. So erklärt es sich, dass unsere Zeit, die, als ganze betrachtet, sicher mehr Freiheit besitzt als irgendeine frühere, dieser Freiheit doch so wenig froh wird.«(18)

Simmel konstatiert als Reaktion darauf »eine tiefe Sehnsucht, den Dingen eine neue Bedeutsamkeit, einen tieferen Sinn, einen Eigenwert zu verleihen«,(19) »ein Gefühl von Spannung, Erwartung, ungelöstem Drängen – als sollte die Hauptsache erst kommen, das Definitive, der eigentliche Sinn und Zentralpunkt des Lebens und der Dinge«.(20) Doch eben diese Fähigkeit, den Dingen einen tieferen Sinn zu verleihen, ist ja durch die Beschleunigung des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandels und eine vor nichts Halt machende Kommerzialisierung mehr denn je unterminiert.

Der Test darauf, was das Revival der Religionen letztlich bedeutet, steht noch aus. »Eigentlich«, so Navid Kermani im Sommer 2006 in einem Beitrag zur Serie der Schweizer Neuen Zürcher Zeitung zur Frage »Was ist eine gute Religion?«, »wäre es großartig, wenn drei- oder viermal am Tag Menschen über alle Unterschiede hinweg ihren Alltag gleichzeitig unterbrechen, um sich in Worten, die wunderbar auf den Lippen liegen, und einem Ablauf von Bewegungen, der Stolz und Demut verbindet, immer wieder neu bewusst zu machen, dass dies, was ist, nicht alles ist.«(21) Um eine Verbindung von Stolz und Demut geht es ja gerade in den charismatischen, evangelikalen, fundamentalistischen Spielarten des Religiösen. Nur eben nicht »über alle Grenzen hinweg«. In den dominierenden und sich am stärksten ausbreitenden Spielarten von Religion geht es gerade um eine Verbindung von Stolz und Demut, die Selbstaufwertung durch die Scheidung in Gute und Böse, Erwählte und Verworfene und die Verdrängung der eigenen Fehlbarkeit und Verletzlichkeit. Unterentwickelt bleibt so die Einsicht in die Angewiesenheit auf menschliche Solidarität, nicht bloß die Gleichgläubiger, angesichts der unaufhebbaren Grundrisiken menschlicher Existenz wie Tod, Krankheit und Schuld. So existiert fortwährend ein komplex zusammengesetztes Syndrom von Trostbedürfnissen und Sehnsüchten. Solange sie ihnen Ausdruck zu verleihen vermag, wird Religion nicht nur trotz, sondern auch wegen Säkularisierung und Rationalisierung nicht überflüssig werden. Allerdings hat sie kein Monopol. Es hat eine lange Tradition, dass die Grenzen zwischen Religion, Philosophie und Kunst fließend sind. Alle drei haben aufgrund ihrer außeralltäglichen und im Prinzip unbegrenzten Artikulationsmöglichkeiten bedeutenden Einfluss auf das Selbst- und Weltbild von Menschen und damit darauf, was wir aus uns und der Welt machen. Sie können sich bewähren, indem sie zu einer umsichtigeren, verantwortungsvolleren Modernisierung der menschlichen Welt beitragen.

1

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001: Jürgen Habermas. Ansprachen aus Anlass der Verleihung, Frankfurt am Main 2001, S. 39.

2

Brief an Ferdinand Tönnies, 19. Februar 1909, in: Max Weber: Gesamtausgabe, Abteilung II, Band 6, Briefe 1909–1910, Tübingen 1994, S. 65.

3

Jürgen Habermas: »Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen«, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1988, S. 185.

4

»Der Westen interessiert sich für unsere Köpfe nur, wenn sie rollen. Das Bild von einer verstummten Gesellschaft paßt nicht: Eindrücke von einer Reise nach Iran/Ein Gespräch mit Jürgen Habermas«, in: FAZ, 13.6.02.

5

Jürgen Habermas: »Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den ›öffentlichen Vernunftgebrauch‹ religiöser und säkularer Bürger«, in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2005, S. 145.

6

Ebd.

7

»Der Westen interessiert sich für unsere Köpfe nur, wenn sie rollen«, a. a. O.

8

Edward W. Said: Orientalismus, Frankfurt am Main1979; Ian Buruma/Avishai Margalit: Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, München 2005.

9

Vgl. Claus Leggewie/Angela Joost/Stefan Rech: »Nützliche Moscheekonflikte? Lackmustest auf praktische Religionsfreiheit«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 7/2002.

10

Martin Riesebrodt: »Die fundamentalistische Erneuerung der Religionen«, linksnet 2001, S. 6.

11

Vgl. Martin Riesebrodt: Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung. Amerikanische Protestanten (1910–28) und iranische Schiiten (1961–79) im Vergleich, Tübingen 1990.

12

Vgl. Gilles Kepel: Muslim Extremism in Egypt, Berkeley 1985.

13

Martin Riesebrodt: »Fundamentalismus, Säkularisierung und die Risiken der Moderne«, in: Heiner Bielefeldt/Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Politisierte Religion. Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus, Frankfurt am Main 1998, S. 88.

14

Friedrich Wilhelm Graf, a. a. O., S. 113.

15

Armando Salvatore/Schirin Amir-Moazami: »Religiöse Diskurstraditionen. Zur Transformation des Islam in kolonialen, postkolonialen und europäischen Öffentlichkeiten«, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 3/2002.

16

Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 1, Berlin 1964, S. 378.

17

Ebd., S. 379

18

Georg Simmel: Philosophie des Geldes, Frankfurt am Main 1989, S. 554 f.

19

Ebd.: S. 555.

20

Ebd.: S. 669 f.

21

Navid Kermani: »Es ist wichtiger, ein guter Mensch als ein guter Muslim zu sein«, in: NZZ, 5.7.06.