Jörg-Michael Vogl

Das Individuum als korrigierbare Software

Von der Ökonomisierung wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Denk-Räume

Mit welchem Denken wird Naturwissenschaft betrieben? Das zunehmend ökonomisierte Denken in anderen gesellschaftlichen Bereichen macht auch vor der Forschung nicht Halt. Längst hat es in verschiedenen Bereichen Zielsetzungen instrumentalisiert und jenseits jeder politischen Diskussion »Erfolgskriterien« gesetzt, ob im Bildungswesen oder bei der Umweltpolitik. Wissenschaftliches Denken selbst, im weitesten Sinn Reflex jeweiliger gesellschaftlicher Verhältnisse, hat, wie unser Autor zeigt, den Umgang mit dem Raum und seinen Dimensionen (»Unendlichkeit«, »Gott« ...) inzwischen grundlegend verändert. Blinde Notwendigkeiten statt Erörterung der Ziele.

Ökonomisierung der Denk-Räume

Vor ein paar Jahren kamen die Zecken, die Meningitis und Borreliose übertragen, noch von den Bäumen. Waldarbeitern und Wanderern wurde empfohlen, bestimmte Baumarten zu meiden. Jetzt kommen sie aus dem Gras, weswegen man, neben der Impfung als ärztlicher Vorsorge, geschlossene lange Hosen tragen soll, wenn man in den Wald geht.

Was weiß eigentlich die Naturwissenschaft? Das gleiche Erkenntnisproblem wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Autoimmunkrankheiten, von Allergien bis zu Multipler Sklerose, in den industrialisierten Ländern seit einiger Zeit massiv zunehmen. Enzyme, die bei Allergikern das aus dem Gleichgewicht geratene Immunsystem in Teilen ersetzen könnten, werden inzwischen gentechnologisch hergestellt.

Was will die Naturwissenschaft eigentlich wissen? Bilder aus der Frühzeit der Fotografie können heute noch betrachtet werden. CD-ROMs hingegen fangen nach zehn Jahren an blind zu werden. Erfinder und Nutzer digitaler Technologie sehen darin offensichtlich kein Problem. Welchen stillschweigenden, vielleicht unbewussten Denkvoraussetzungen unterliegt Naturwissenschaft? Was hier schlaglichtartig deutlich wird, macht die Wissenschaftsgeschichtsschreibung systematisch klar: Themen, Zielsetzungen und Mythen der Naturwissenschaften entfalten sich nicht in einem irgendwie notwendigen oder gerichteten Prozess, sondern eher in einer Kette von auch zufälligen Verzweigungsmöglichkeiten.(1) Die Art, wie Naturwissenschaft betrieben wird, bestimmt jedoch den Kern unserer Gesellschaft mit, seit sie Naturwissenschaften und darauf gegründete Technologien in den ökonomischen Verwertungsprozess einspannt und so alle Lebensgrundlagen umwälzt und neu formt. Es lohnt sich also, den Zusammenhang naturwissenschaftlichen Denkens mit den Denkweisen in anderen Bereichen zu untersuchen.

Sehen wir uns diese Verbindung an einem zentralen Beispiel genauer an: In den einflussreichen deutschen Think Tanks geht man davon aus, dass die Konkurrenz, die im wirtschaftlichen Bereich Dynamiken entfesselt habe, dies auch in anderen Bereichen könne. Ohne Dynamik gerate man in existenzielle Probleme. Eine darwinistische Regelungstechnologie breitet sich von der Ökonomie in andere gesellschaftliche Felder aus. Von den Bundesländern über den Arbeitslosen und Absolventen jeder Art von Ausbildung bis hin zu der einzelnen Schule: Im Wettstreit sahen die Beteiligten sich zwar schon immer, wenn der Bayer sich als Teil einer Erfolgsstory sah, der Arbeitslose als Verlierer, der Berufsanfänger sich in Bewerbungen positiv präsentieren wollte und die Schulen ihr Image in der Stadt pflegten. Neu ist etwas anderes: Diejenigen, die die Grundlinien der deutschen Politik bestimmen, meinen, dass die Konkurrenz durch materielle Belohnungs- und Bestrafungssysteme belebt werde, also durch Regelungssysteme, die automatisch nach einem gewissen Kriterienkatalog festgelegter Ziele Anreize zur Verhaltensoptimierung geben. Und vielleicht haben sie Recht: Vielleicht gibt es einen Grundzug in unserer Gesellschaft, eine grundlegende Sichtweise der Dinge, auf die sie bauen können?

Dieses Politikmodell beherrscht jedenfalls die öffentliche Diskussion. In der Föderalismusdebatte wird das grundgesetzliche Gebot gleicher Lebensverhältnisse für alle Deutschen immer mehr in Frage gestellt. Strukturelle Probleme wie die überraschende Erhebung Berlins zur Hauptstadt, der extensive Flächenverbrauch in Bayern oder die riesigen, oft massiv vergifteten Industriebrachen der Eisen- und Stahlindustrien in Nordrhein-Westfalen geraten aus der Diskussion. Der Arbeitslose muss permanent seine Arbeitswilligkeit nachweisen, sonst bekommt er weniger ausgezahlt – und dies unabhängig davon, dass bestimmte Kategorien von Arbeitsplätzen einfach nicht da sind. Und die Frage danach, ob seine Arbeit sinnvoll ist, der Arbeitsplatz menschenwürdig, wird noch nicht einmal mehr gedacht. Der Student muss nicht nur sein Leben während des Studiums finanzieren, sondern auch die Studiengebühren, der Einsatz, um den es bei seiner Entscheidung für ein bestimmtes Fach oder eine bestimmte Hochschule geht, wird größer. Verschärft wird dieser Druck noch auf der Anbieterseite, da das Hochschulsystem mit vielen Maßnahmen hierarchisiert wird, bis hin zur grundsätzlichen Trennung von forschenden und lehrenden Hochschulen. Kann man im Korsett der Credit Points und Prüfungsdauerbelastung den persönlich gereiften, breit interessierten Wissenschaftler ausbilden? Eher übernimmt die Hochschule hier nur die Berufsausbildung für Großunternehmen. Es entspräche dieser Logik, wenn man auch den Auszubildenden im Handwerk, das inzwischen die weit überwiegende Anzahl von Arbeitsplätzen stellt, für seine Ausbildung zahlen lassen würde. Seine Eltern würden sich sicher mehr um Ausbildungserfolge kümmern …? Und bezahlt man jetzt mit dem Elterngeld nicht sogar Eltern für ihren Beitrag zur Verbesserung der Struktur des deutschen Humankapitals?(2)

Sehen wir uns schließlich den grundlegenden Bereich an: Schüler, Lehrer, Schulleitungen werden zunehmend nach zentral festgelegten Tests bewertet, die sich nicht für individuelle Profile, Fortschritte, Besonderheiten des Schulumfeldes oder der Schulstruktur interessieren – obwohl andererseits nach allgemeiner Meinung die Erziehungsaufgaben der Schule gewachsen sind, zum Beispiel bezogen auf die so genannten Schlüsselqualifikationen wie Selbstständigkeit, Teamfähigkeit und so weiter, die nicht nur die aufnehmenden Betriebe brauchen. Statt über die jeweiligen Probleme und Defizite von Kindern, Klassen oder Schulen zu reden, Erziehung und Lernen vielleicht mit Hilfe und Anregungen externer Fachleute zu verbessern, tritt tendenziell ein lineares Kriterium an die Stelle des komplexen Prozesses: Was kann ich tun, damit mein Kind, mein Schüler, meine Schule auf der Skala, auf der alle Konkurrenten eingeordnet werden, letztlich gut abschneidet?

Man kann die Struktur verallgemeinern: Ein komplexes Problem wird auf der politischen Bühne entleert, reduziert auf das eine Kriterium, das als Erfolg definiert wird. Das möglichst gute Abschneiden bezüglich dieser Dimension kann sich dann der Einzelne als nackte Notwendigkeit vorstellen, in der Konkurrenz möglichst gut zu bestehen. Er kann als Zwang der Sache sehen, was gesellschaftliche Entscheidung ist. Dieser Typ der politischen Regulierung ermöglicht eine bestimmte Selbstregulierung der Einzelnen und erschwert andere, fördert also bestimmte »Gouvernementalitäten«.(3)

Die Missachtung von Komplexität, die in der Reduzierung auf ein Erfolgskriterium steckt, führt jedoch auch im wirtschaftlichen Bereich zu Problemen: Dass eine wirtschaftliche Zielsetzung wie die von Unilever, bei fünfprozentigem Umsatzwachstum eine Rendite von fünfzehn Prozent zu haben, nicht verallgemeinerungsfähig ist auf alle Unternehmen und alle Zeiten, leuchtet unmittelbar ein. Warum sagt keiner, die spinnen? Wenn Unternehmen in allen Teilbereichen reduziert werden auf das Kriterium des Ertrages, so dass sogar wie bei der Telekom im Moment sich die Mitarbeiter um neu zugeschnittene Aufgabenfelder bewerben müssen, dann setzt dies unmittelbar voraus, dass alle, die diesem Kriterium nicht standhalten, ausgeschieden werden, und dass jeder Einzelne das in ihm, was zu diesem Kriterium nicht passt, an den Rand drängt.

Ein ungeheures Vergessen von menschlicher Vielfalt, Konflikten und Machtstrukturen wird nahe gelegt, während der Raum eines Kriteriums ausgebreitet wird. Warum aber wird dann die Anordnung von Schülern, Lehrern und Schulen auf einer Skala von so vielen Betroffenen als Verbesserung, als Objektivierung von Beurteilung begrüßt, das eng geführte Studium als effizient, die Bestrafung des Arbeitslosen als gerecht, das Auseinanderdriften der Länder als notwendig, die konsequente Steigerung der ökonomischen Produktivität als Erweiterung gesellschaftlicher Möglichkeiten? Warum werden diese linearen Kriterien, nach denen optimiert werden soll, akzeptiert? Vielleicht liegt dies daran, dass das Einfallstor diesen Denkens breiter ist und viel näher am Einzelnen, als oft angenommen wird?

»Experten« statt Demokratie

Die Konstruktion eines solchen Kriterien-Raumes ist jetzt an einem paradigmatischen Beispiel in allen Facetten untersucht worden: bei den PISA-Tests.(4) Man muss sich daran erinnern, dass die PISA-Studie von allen Seiten als Beleg zitiert wurde und wird: Hier wurde also offensichtlich in einer Weise verfahren, die weithin als sinnvoll empfunden wird. Die Messung eines Outputs, einer von Experten definierten Größe an der Stelle der weitaus komplexeren Sache selbst, und seine Einordnung auf einer Skala werden zu einem Ziel-Ersatz.(5)

Dass in Deutschland ganz anders als in den USA keine Tradition des Testens besteht, dass ihm die Fachdidaktik kritisch gegenübersteht, hat letztlich keinen Einfluss. Es ist kein Zufall, dass auch hier politische Gremien für ein privates Unternehmen entschieden, das Expertentum verkauft. Die neue Struktur kommt von außerhalb, ein Schnitt durch den gordischen Knoten traditioneller Politik gewissermaßen. Das Ergebnis macht natürlich nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit einfacher, reduziert aber die Möglichkeiten des Erkennens und Handelns. Wenn zum Beispiel nach der Maßgabe der Grundkenntnisse in Mathematik und Landessprache gilt: »No one left behind«, wie es die Bush-Regierung für das US-Schulsystem gesetzt hat, dann reduzieren Schulen eben alle anderen Fächer, um dieses Ziel zu erreichen.(6)

Gehen wir jedoch einmal davon aus, dass diese Belohnungs- und Bestrafungssysteme wirklich so funktionieren, wie ihre Planer sie entworfen haben. Gehen wir davon aus, dass wirklich eine Dynamisierung der Bundesländer, des Hochschulbereichs, der Arbeitslosen, der Schulen erreicht wird: Was sind eigentlich die Ziele dieser Geschäftigkeit? Wer hat sie wann diskutiert? Wer hat diese Diskussion wann gehört und mitverfolgt?

Wir verfolgen eine eigenartige Renovierung der Grundlagen unserer Demokratie: Der politische Raum wird in Teilen ersetzt durch einen von Experten erfundenen, von Politikern entschlossen durchgesetzten Kriterienraum, der das Handeln in ehemals öffentlichen Räumen bestimmt. Die zentralistische Regulierung des öffentlichen Bereichs gemäß dieser am Output gemessenen Kriterien, also anhand einer auf einer linearen Skala messbaren, äußeren Norm am Ende des Prozesses, ersetzt die inhaltliche Auseinandersetzung. Genau wegen dieser Tendenz wurde anlässlich des 100. Geburtstages von Hannah Arendt darauf verwiesen, dass sie die Wichtigkeit schon der politischen Äußerung an sich in einem komplexen, vielfach beeinflussten politischen »Reich der Freiheit« herausgearbeitet hat.(7)

Beispiele für diesen Umbau der Politik gibt es auch in anderen zentralen Bereichen: Die Reduzierung des Kohlendioxid-Ausstoßes wurde international vertraglich festgesetzt, die Verbrauchsreduzierung der Autos mit der Industrie abgesprochen – auch hier nach der Festlegung von Output-Kriterien. Dass in diesen Bereichen nicht wie in anderen Bestrafungssysteme mit festgelegt wurden, verwundert nicht: Auch die outputorientierte Politik hat es ja mit Machtstrukturen zu tun! Die Umweltpolitik kann jedoch versuchen, Erfolge darzustellen, obwohl immer weniger Menschen mit dem öffentlichen Nahverkehr fahren, immer mehr in Kurzurlaube fliegen und so weiter. Die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen folgt dem gleichen Prinzip: Es werden Kriterien der Orientierung auf das Allgemeinwohl vertraglich fixiert, bei der Post zum Beispiel die der Mindestversorgung in der Fläche. Die grundlegende Einsicht, dass es bestimmte öffentliche, also politisch zu verantwortende Bereiche der Daseinsvorsorge gibt, geht damit jedoch allen Beteiligten und insbesondere den Bürgern verloren. Ein historisch durchgesetztes Recht auf grundlegende soziale Sicherheit soll aufgelöst werden, indem ihm der argumentative Boden entzogen wird.

Natürlich vermeidet die Ersetzung des politischen Diskurses durch Steuerung von Kriterien-Räumen inhaltliche Konflikte, sie führt aber zu einer grundlegenden Verunsicherung der Bürger, zu Wahlenthaltung und tiefem Misstrauen gegenüber der Politik und den Politikern, was Populismus jeder Couleur möglich macht. Die Form der Politik, die sich als Nicht-Herrschaft, als Politik der Notwendigkeit versteckt, erzeugt übrigens auch ihre spezifische Art von Widerstand: Antistaatlichkeit bis hin zur Verweigerung des Gedankens, dass es so etwas wie ein verbindliches Gemeinsames überhaupt geben könne.

Dass trotzdem der neoliberal inspirierte Umbau der Politik als alternativlos gesehen und von so vielen mitgetragen wird, muss erklärt werden. Sicher stirbt nach und nach eine Politikergeneration aus, die anders sozialisiert worden war. Welche Umstände lassen es aber überhaupt denkbar werden, Politik als Einsetzung von Regelungsmechanismen zu behandeln, die nach definierten Kriterien belohnen oder bestrafen? Gesucht werden muss vielleicht nach so etwas wie einem Mythos, der von der Einbettung des Menschen in seiner Welt handelt, einem Mythos der Metrik anscheinend, der es für sinnvoll erscheinen lässt, komplexe Ziele zu reduzieren zu Punkten auf einer Skala oder in einem mehrdimensionalen Raum. Ein Beispiel aus dem Alltag: Wer läuft oder Rad fährt, tut dies in einer Landschaft, bei bestimmtem Wetter, in einer spezifischen Stimmung mit einer spezifischen Körperverfassung, in einem bestimmten sozialen Rahmen. Erfolg, wie auch immer definiert, setzt eine gewisse Kunstfertigkeit im Umgang mit dieser komplexen Situation voraus, Erfahrung im Lesen ihrer Zeichen. Der Radsportler kann dies heute reduzieren auf den Vergleich mit den Graphen der im Rechner gespeicherten Verläufe früherer Touren und ihrer Geschwindigkeiten. Er kann sich von dem mit der Nabe verbundenen Computer die optimale Trittfrequenz angeben lassen. Wenn Erfolg so durch Messungen definiert wird, dann ist damit verbunden, dass der Radsportler die Zeichen der Situation auf spezifische Art liest und dies in der Haltung, die Situation mit optimiertem Training oder Gerät zu verändern. An die Stelle der eigenen Kunstfertigkeit im Umgang mit den prinzipiellen Grenzen der Situation tritt das der Möglichkeit nach unbegrenzte Expertentum. So lesen wir in den populären Ratgebern: Der gut trainierte 80-Jährige habe die Kondition eines untrainierten 35-Jährigen, und: Wer rudere, beschleunige sein Zellenwachstum. Das Verschwinden der Unverfügbarkeit ist verbunden mit der Aussicht, die Zeichen des Körpers in seiner Umwelt wahrzunehmen, um sie und ihn auch zu bearbeiten.

Lesbarkeit der Natur – Der cartesianische Raum

Wie grundlegend diese Metapher der Lesbarkeit der Natur für wissenschaftliches Arbeiten seit dem christlichen Mittelalter durchgehend war, hat Hans Blumenberg herausgearbeitet.(8) Das Buch der Offenbarung, die Bibel, wird schon von Augustinus verdoppelt gesehen im Buch der Natur, das Gott vorher geschrieben habe. Das Wesen Gottes, das der Gläubige lesen kann, kann auch der Ungläubige am Buch der Natur sehen. Diese Doppelstruktur wird in der christlich geprägten Geistesgeschichte immer wieder neu aufgegriffen und überformt. Sobald sich die faktische Existenz der vom Menschen gemachten Welt neben der natürlichen aufdrängt, erhebt sich zum Beispiel das Problem, die Menschendinge zuzuordnen: Die göttliche Natur muss sich auch an den Teilen der Welt ablesen lassen, die von Menschen gemacht sind. Bei den französischen Enzyklopädisten prägen dann die Techniken das Bild der Welt, die natürlichen Dinge werden isoliert und in ihrem Bezug zum Menschen dargestellt, der ihnen erst Sinn gibt. Alexander von Humboldt versucht als Letzter, Natur als fest gefügten, alles mit allem durchdringenden Zusammenhang zu verstehen, der auf den Menschen einwirkt. Für ihn ist die Landschaft dasjenige, woraus er den Sinn der Natur abzulesen versucht. Mit dem Gedanken der Evolution wird dies unmöglich. Die »evolutio«, wörtlich das Auseinanderrollen der Schriftrolle, lässt jeden momentanen Zustand als beliebig erscheinen. Gelesen werden können allenfalls noch versteckte Strukturen wie zum Beispiel die DNA.

Blumenbergs Auffassung nach steht die Metapher der Lesbarkeit der Natur für den Versuch zu verstehen angesichts des Eingeständnisses der Unverfügbarkeit des Gegenübers, das der Wissenschaftler erkennen will. Deshalb verurteilt er die Umkehrung dieser Metapher, nämlich aus der Lesbarkeit der Natur auch ihre Schreibbarkeit zu folgern, wie sie seit der Gentechnik-Debatte selbstverständlich geworden ist, als Missbrauch und Vorspiegelung falscher Tatsachen. Hier unterschätzt er jedoch vermutlich die materielle Gewalt dieser Metapher beim Stand der Produktivkräfte: Der Forscher hat inzwischen die Denkmöglichkeit, nur noch technologische Unzulänglichkeiten als Hindernis beim Neuschreiben der Struktur zu sehen, ihn trennt nicht eine Welt, sondern nur Raum-Zeit-Koordinaten von seinem Erkenntnisgegenüber, und er kennt die Perspektive: immer mehr zu wissen und zu können.(9)

Wenn es nichts gibt als den Raum, der lückenlos und ohne Ende die Bühne für das Schauspiel der zeitlichen Veränderung ist, dann werden Raum- und Zeitpunkte sowie deren Figurierung und Abstände zu Erkenntnisgegenständen. Schon die Metaphorik des Lesens der Natur verweist also auf tiefer liegende Mythen von Raum und Zeit. Newton begründet nicht nur die moderne Physik in absolutem Raum und absoluter Zeit, sondern erfindet neben Leibniz auch ihr zentrales mathematisches Werkzeug, die Infinitesimalrechnung, die die beliebige Teilbarkeit des Kontinuums, also die tatsächliche Unendlichkeit im Kleinen, voraussetzt. In der sehr spezifischen abendländisch-christlichen Geschichte der Auffassung von Raum und Zeit wird Gegenwart auf einen Zeitpunkt reduziert, wie Rudolf Zur Lippe(10) schreibt, auf die Membran zwischen Vergangenheit und Zukunft, wobei seit dem 11. Jahrhundert die Zukunft das sei, was der Zeit Sinn gebe. Zeit werde seitdem nicht mehr von ihrem Anfang her, sondern von ihrer Perspektive, dem Weltgericht gedacht. Gleichzeitig sei der Raum als unendlich, leer und mit zufälliger Möblierung aufgefasst worden. Andere Vorstellungen verschwänden zwar nicht, spielten aber eine untergeordnete Rolle. Die Kontraktion der Zeit ins unendlich Kleine, als Folge von Zeitpunkten gewissermaßen, und die Expansion des Raumes ins unendlich Große bildeten die zwei Aspekte der Auflösung der alternativen Vorstellung des Ortes, der über seine Geschichte definiert sei.

Descartes steht als Philosoph und Mathematiker an einem Kulminationspunkt dieser Tendenz. Er vertritt eine optimistische Haltung des absoluten Neuanfangs: Nach der Befreiung von den Vorurteilen kann jeder unmittelbar die Wahrheit erkennen. Der Mensch nehme nicht an göttlichem Wissen teil, sondern konstruiere Hypothesen der Welterkenntnis wie Maschinen, die bestimmte, möglichst zufrieden stellende Effekte hervorbringen. Mit diesem Gedanken kann aus dem Metaphernfeld des Lesens in das des Schreibens gewechselt werden.(11) Man muss sich aber klar machen, dass Descartes’ gesamte Argumentation darauf gründet, dass es dieses ganz Andere, nämlich Gott, gibt. Ohne diese Annahme ist in seinem Denken nichts möglich.

Was jedoch später als cartesianischer Raum zur Grundlage wissenschaftlichen Denkens wird, kann jedoch irgendwann von allen Gedanken an Unverfügbarkeiten irgendwelcher Art gereinigt sein: Der Raum wird als ein Ganzes gesehen, das im Nahbereich genauso wie im Fernbereich nichts außer sich hat. In ihm sind die Erscheinungen gewissermaßen Koordinatenwolken. Die Verbreitung der Zentralperspektive in der Malerei der Renaissance hat bei der Verbreitung dieses Raumverständnisses sicherlich eine wichtige Rolle gespielt.(12) Wesentlich wird es dann bei der Entwicklung der Differential- und Integralrechnung durch Newton und Leibniz. Sie gehen davon aus, dass Erscheinungen im Raum in ihrem zeitlichen Ablauf stetige Kurven bilden. Diese Kurven werden als isolierbarer Sachverhalt, lückenlos und ohne Brüche oder Sprünge gedacht. Zu lösen ist das Problem ihres Steigungsverhaltens sowie die Berechnung der Fläche, die sie umhüllen. Zentrales Beweismittel war und ist dabei der Gedanke, dass man sich jedem beliebigen Punkt unendlich, also infinitesimal annähern könne und dass man so den Grenzwert von Rechentermen ermitteln könne. Der mathematischen Forschung ging es in der Folge darum, Verallgemeinerungsmöglichkeiten zu untersuchen. Man stellte zum Beispiel fest, dass man die Berechenbarkeit auch auf Kurven ausweiten kann, die eine unendliche Anzahl von Lücken haben, nämlich so viele, wie die natürlichen Zahlen 1, 2, 3, und so weiter. Der Raum blieb jedoch zunächst absolut im Sinne Newtons.

Spätestens mit der Entdeckung, dass entgegen dem griechischen Denken Räume denkbar sind, in denen sich Parallelen schneiden, ist die Untersuchung von Räumen selbst zentraler Forschungsgegenstand der Mathematik. Man kann sich dann Räume vorstellen, die wie ein Segel im Wind gekrümmt sind oder in sich selbst abgeschlossen, aber unendlich wie eine Kugeloberfläche. Die Leitfrage dabei ist, von welchen Bedingungen abstrahiert werden kann, ohne grundlegende Strukturen des Raumes zu verlieren. Auch wenn exotische Räume untersucht werden, die vielleicht nur zwei Elemente enthalten, ist dies noch ein Versuch zu überlegen, wie weit man sich von den Alltagserfahrungen des dreidimensionalen cartesianischen Raumes entfernen kann.(13) Cantor hat später den Begriff der Unendlichkeit selbst untersucht und entdeckt, dass man verschiedene Arten von Unendlichkeiten, eine Hierarchie von Unendlichkeiten sogar, fordern muss, wenn man den cartesianischen Raum untersucht. Interessanterweise wurde sein Konzept einer aufsteigenden Hierarchie immer größerer Unendlichkeiten, »Mächtigkeiten«, wie er sie nennt, von der katholischen Kirche als Möglichkeit eines Gottesbeweises (Gott = größte Mächtigkeit, Grenzwert der Folge der Mächtigkeiten gewissermaßen) gesehen.

Ausgangspunkt und Bezugsrahmen, also Paradigma großer Teile der Mathematik, ist also der cartesianische dreidimensionale Raum, der im Großen und im Kleinen unendlich ist und nichts außer sich hat. In ihm bewegen sich die Zeitpunkte der Ereignisse, die man untersuchen will. Die mathematischen Modelle geben also bestimmte Denkmöglichkeiten und Fragerichtungen vor.(14) Die Spuren der Trennung von Zeit als Sinnstifterin vom Ende her und unendlichem Raum der Leere, wie sie sich im christlichen Mittelalter allmählich entwickelte, lassen sich besonders deutlich in der Kosmologie erkennen. In ihr kommen die mathematischen Paradigmen zur Wirkung und bestimmen das Weltbild mit.

Als sich zu Beginn der Entwicklung der Relativitätstheorie Hinweise darauf verdichteten, dass man von Singularitäten im Raum ausgehen müsse, also Stellen in der Raumzeit, für die die physikalischen Gesetze nicht mehr gelten können, weil ein entscheidender Parameter gegen unendlich geht, war dies für Einstein noch theoretisch nicht zufrieden stellend und persönlich beunruhigend. Inzwischen werden Singularitäten von den Vertretern der relativistischen Kosmologie gerade als Stellen voll physikalischen Gehalts angesehen. So wie es im dreidimensionalen cartesianischen Raum keine Lücken gebe, so müsse auch der Raum an den Singularitäten gefüllt werden können. Natürlich kann kein kosmologisches Modell so etwas wie Fakten für sich haben, alle spielen Denkvoraussetzungen durch und suchen nach mehr oder weniger vermittelten Belegen für ihre Thesen. Alle bewussten und unbewussten Denkvoraussetzungen unserer Geschichte schlagen also unmittelbar durch.(15) Selbstverständlich ist an einer Mathematik, die zu ihren Zwecken die Unendlichkeit des Raums und all seiner Teile voraussetzt, nichts Falsches. Zu untersuchen wäre aber, auf was sie innermathematisch wie auch in der Physik ihre Blicke nicht lenkt und was sie an Fragen nahe legt. Die Tradition der Handhabung des Unendlichen ist eben auch in der Kosmologie nicht unumstritten. Ilya Prigogine zum Beispiel sieht jedes Werden, auch das in den kosmologischen Singularitäten, als irreduzibel chaotisch, also von Zufällen gesteuert an. Die Stringtheorie andererseits ersetzt den Gedanken des punktförmigen Teilchens, nulldimensional und ohne Ausdehnung, durch den der Strings, die eine bestimmte Größe nicht unterschreiten können.(16)

Von Descartes zum Bewusstsein als Software

Der Mathematiker John D. Barrow, der in Großbritannien auch eine Kommission zur Reformierung des Mathematikunterrichts leitete, ist Vertreter einer relativistischen Kosmologie. Er will mit Unendlichkeiten rechnen lernen, um unendlich zu leben. Sein letztes Buch(17) will ein essayistischer Überblick über Geschichte und aktuellen Stand der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Unendlichkeit sein. Genauer gesagt, reißt er Elemente aus ihrem historischen Kontext und konstruiert damit eine lange Geschichte des Gedankens an das aktual Unendliche, um so seine Existenz zu legitimieren. Weil das Unendliche existiere, müsse man damit entgegen dem mathematischen Brauch auch rechnen können. Seine Perspektive: Die Erforschung des Endes der Menschheit und ihres Teils des Universums mit dem Ziel, die Gesetze dieses Endpunktes zu erfassen und damit das Weiterleben der Menschheit zu ermöglichen, wobei er Weiterleben als Informationsverarbeitung auf Ewigkeit versteht. Extrem leistungsstarke Computer, die unendlich viele Rechnungen in endlicher Zeit erledigen können, könne es nur im Big Bang oder Big Crunch, also den Singularitäten zu Anfang und Ende des Universums, geben, da sich dort in sehr kurzer Zeit unendlich viel ereignen könne.

Vergleicht man mit Descartes, den auch Barrow als Stammvater der modernen Naturwissenschaft zitiert, so wird die radikale Umkehrung der Grundvorstellung deutlich. Bei Descartes kann der Mensch wie das Universum erst als existierend bewiesen werden auf der Grundlage des vollkommen Anderen, des unendlichen Gottes. »Cogito, ergo sum« ist eben nicht der Anfang, sondern nur sinnvoll auf Grund der Existenz Gottes.(18) Barrow dreht diesen »Gründungsmythos« um: Alles ist menschlichem Erkennen und menschlicher Handhabung offen, also auch das Unendliche von Raum und Zeit. Die Sperrigkeit des Unendlichen zu überwinden sieht er als den Schlüssel für das vollständige Verständnis der Natur und des Universums an. Aus Descartes’ Voraussetzung der grundlegenden Unverfügbarkeit über das Ganze wird bei ihm die Denkvoraussetzung, dass alles wissbar ist und alles machbar, in theologischer Formulierung die Perspektive, dass die Menschheit sich im Universum als Gott setzt.

Ein früheres Buch Barrows breitet sein Weltbild aus.(19) Dort plädiert er nach einer Auseinandersetzung mit den wesentlichen mathematischen Schulen für ein neues naturwissenschaftliches Paradigma: Das Weltall sei als Computerprogramm zu verstehen, als Software auf einer spezifischen Hardware, nicht mehr nach dem Paradigma der Wärmekraftmaschine mit ihrem Zentralbegriff der Entropie. Mathematik könne insofern wahr sein, als das Weltall eine mathematische Struktur sei. Die mathematische Forschung nähere sich in einem evolutionären Prozess dieser Struktur an. Produktiv sei deshalb vor allem eine bestimmte Mathematik, nämlich die der Berechenbarkeit.(20) Dabei grenzt er sich jedoch von der mathematischen Schule des Intuitionismus aus dem 19. Jahrhundert ab (Brouwer, Kronecker usw.), die aus einer Kritik an den Annahmen der Infinitesimalrechnung heraus auf einer endlichen Konstruierbarkeit der Mathematik aus den natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4 und so weiter bestanden hatte. Diesen ausdrücklichen Verzicht auf das aktual Unendliche bespöttelt Barrow als »die unbefleckte Konstruktion«, eine Anspielung auch auf die Annahme der göttlichen Natur der natürlichen Zahlen bei Kronecker. Dagegen setzt er die »befleckte«, aus der evolutionären Anpassung entstandene Konstruktion, bei der das aktual Unendliche eine zentrale Stelle einnimmt. Dabei greift er auf das Konzept der »Meme« von Richard Dawkins zurück: Wenn Ideen interessant und nützlich seien, pflanzten sie sich fort und passten sich dabei immer wieder neu an. Man solle produktive Algorithmen verwenden, die sich durch den Prozess der natürlichen Auslese entwickelt hätten, nicht fehlerfreie, wie in der klassischen, axiomatisch begründeten und deduktiv vorgehenden Mathematik.

Da für Barrow der, der erkennt, und das, was erkannt wird, in der berechenbaren mathematischen Struktur zusammenfallen, sind für ihn Mensch wie Universum Teile eines Programms, das vielleicht von anderen Programmen höherer Ordnung installiert wurde. In Computersimulationen könne heute schon die Entstehung von Galaxien simuliert werden, mit höherer Rechnerkapazität jedoch auch die Kondensation der Materie bis hin zu Planeten, biologischer Evolution und so weiter, bis hin zu ausreichend komplexen Zuständen, bei denen man von Bewusstsein sprechen könne. Entsprechend entstünde ein wechselwirkender Prozess von Teilen der Simulation mit anderen, Selbst-Bewusstwerden von Strukturen, eine »Naturwissenschaft« und eine »Theologie« aus der Rechnerwelt also.

Mathematische Größen seien nicht Abstraktionen, wir selbst seien mathematische Baupläne.

Bewusstsein sei eine Form der Software, die keinen notwendigen Bezug zu einer spezifischen Hardware habe. Unser Bewusstsein stehe nicht im Dialog mit der materiellen Welt, es sei nicht ihr Teil, sondern Teil der Mathematik.(21)

Die Metaphorik des Lesens der Welt hat sich, das wird bei Barrow deutlich, endgültig von jeder Vorstellung eines unverfügbaren Gegenübers gelöst, Lesen und Schreiben der Welt verschmelzen untrennbar. Damit lässt er das moderne Bemühen um Erklärung der fremden Welt, das mit Descartes begann, hinter sich. Er sieht nichts mehr außer dem Raum des cartesianischen Paradigmas. Da die Menschen auch dessen Widersprüchlichkeiten, nämlich seinen Anfang und sein Ende, noch bearbeiten sollen, setzt Barrow sie als Herrn der Welt. Aus der Natur, deren fremden Sinn der Forscher zu entziffern versucht, ist das Programm geworden, das geschrieben ist und umgeschrieben werden soll.

Wegen der Entdeckung der prinzipiellen Endlichkeit des Universums wird die Zeitachse zum größten Problem: Der optimistische aufklärerische Gedanke des absoluten Raums, der erforscht werden kann, so dass seine weißen Flecken allmählich verschwinden werden, wird ersetzt durch die Vorstellung einer Zeitreihe von Zuständen, die notwendig dem Fluchtpunkt des Big Crunch zulaufen.(22) Im Hinblick auf diese Perspektive ist Wissenschaft dann ein evolutionärer Prozess des »survival of the fittest«. Der Handlungsdruck ist groß, denn schon heute wird über Leben oder Tod entschieden: Unsere Gegenwart und unser Ort mit ihrer Geschichte sollen Nichts sein.

Im wissenschaftlichen Programm des Mathematikers zeigen sich also mythische Denkvoraussetzungen, deren Widerhall man ebenso in den banalsten Deutungen des Alltags finden kann: Die Angst vor dem Ende, vor der Unverfügbarkeit wird verschmolzen mit der Chance des evolutionären Wettbewerbs. Evolution der Unternehmen wie der Wirtschaft insgesamt, evolutionäre Anpassung der politischen Rahmenbedingungen in föderativer Konkurrenz sowie die konkurrierende Leistung der Mitarbeiter, um weiter arbeiten zu dürfen, Output-Messung bei Universitäten, Studenten, Schülern, Lehrern, Schulen sowie bei Läufern und Radlern mit der Maßgabe, sich an die Spitze des Vergleichs zu setzen – prinzipiell handelt es sich immer um einen Prozess, der keine Grenzen und keine Ziele kennt. So wie sich die Erkenntnis bei Barrow nicht auf einen Zustand hin bewegt, den sie erreichen will, so ist auch für Unternehmen, Volkswirtschaften, politische Systeme oder Bildungseinrichtungen bei vielen der derzeitigen Meinungsmacher ein Zielzustand außerhalb des Denkmöglichen. Es geht in der Tat nur um Konkurrenz im Wortsinn: um nichts als nebeneinander zu laufen.(23) Die Unendlichkeit dieses Prozesses selbst ist in der Tat ihr Thema.

In dem Maß, in dem ein sozialer Sachverhalt mit statistischen Methoden auf eine Skala abgebildet werden kann, werden Kriterien-Räume gebildet. Dabei können deren Skalen entgegen dem statistischen Fachwissen so behandelt werden, als ob sie nicht nur Ordnung mit einer gewissen Fehlerwahrscheinlichkeit, also eine ungefähre Ordnung von Teilaspekten, sondern sogar Abstände zwischen komplexen sozialen Sachverhalten messbar machen würden. Ihre selbstverständliche Bewertung macht soziale Selbst-Regierung möglich. Dass Herrschaft sich so formen kann, verweist darauf, dass man nach Mythen suchen muss, die es erlauben, Begriffe über Messungen in einem cartesianischen Raum zu bilden und dies auch im Bereich des unvorstellbar Kleinen oder Großen zu tun.

Beantwortet die Wissenschaft unsere Fragen?

Eine Schule am Nordrand des Ruhrgebiets nimmt zu Beginn und am Ende des 5. Schuljahres an Sprachstandstests teil. Der im Vergleich zu anderen Schulen große Zuwachs von 7,5 Punkten führt dazu, dass das Leseförderkonzept der Schule zur Orientierungsmarke für die anderen Teilnehmerschulen werden soll. Ein Erfolg, den die Kolleginnen mit viel Idealismus und Arbeitseinsatz erreicht haben und auf den sie zu Recht stolz sind. Ihre Arbeit ist, ohne dass sie das wissen, Teil der neuen Managementstrategie für die Schule: Schaffung eindeutiger, von selbst verständlicher, linearer Kriterien für Erfolg und Misserfolg verbunden mit Benchmarking, Abschaffung der traditionellen Fortbildung, Auflösung bestimmter Hierarchieebenen und strikter Kontrolle des Outputs. Die Kollegien, so das Ideal, regieren sich selbst gemäß dieser Kriterien. Und über die Vielfalt dessen, was ein gutes Schulsystem ausmacht, wird nicht mehr gesprochen.

Ein Schüler, nennen wir ihn Can oder Kevin, wird besonders hervorgehoben, weil seine Kompetenzpunkte in der deutschen Sprache besonders gesteigert werden konnten: Welchen Anteil hatte er an diesem Erfolg? Und was wird davon bleiben in einer Klasse, die viel zu groß ist? Oder wenn seine Eltern keinen Sinn in der Sprachkompetenz sehen, weil sie sich als soziale Verlierer fühlen? Wie wichtig ist ihm überhaupt Lesen und Schreiben, wenn in der Klasse nicht jeder mit seinen persönlichen Schwächen und Stärken geborgen ist? Der Kämmerer der Stadt schlägt gleichzeitig die Schließung von Verbraucherberatung, Musikschule, Bücherei sowie Skulpturenmuseum und Fernseh-Institut vor, den bundesweit bekannten Kultureinrichtungen der Stadt. Hat diese Zerschlagung eines wesentlichen Teils der sozialen Infrastruktur keine Auswirkungen auf das, was die Schule leisten kann? Hat die damit verbundene verdeckte Zwangsprivatisierung von Bildung keinen Einfluss auf Can oder Kevin?

In dem Maß, in dem das lineare Kriterium Raum greift, kann über diese Fragen nicht mehr geredet werden. Dann stört es niemanden, wenn die Schulministerin »Dynamik« erzeugen will, oder wenn in einer offiziösen Veröffentlichung geschrieben wird, die Abweichung der Leistungswerte einer Schule von den Ergebnissen der Vergleichsgruppe könne als durch die Schule erzielter »Mehrwert« (value added) interpretiert werden.(24) Dies heißt – man muss es sich klar machen! – mehr Wissen zu produzieren als der Durchschnitt, also unabhängig davon, wie sich der Durchschnitt entwickelt, ohne jede Frage nach einem Ziel. Nicht nur wird Wissen ökonomisiert, die Perspektive seines unbeschränkten Wachstums wird eröffnet. Dieses Ausgreifen des ökonomischen Denkens wird hoffentlich als absurd und brutal empfunden – genauso absurd und brutal wie der viel vertrautere Gedanke einer unendlichen Mehrwert-Produktion im ökonomischen Bereich. Und vielleicht müssen wir die Weltbild-Hersteller in den Naturwissenschaften aus dem gleichen Grund daraufhin prüfen, wie sie unsere Geschichte von Raum und Zeit weiter schreiben. Vielleicht entscheidet sich auch hier, ob wir es schaffen, Ziele zu erörtern, statt nur blinde Notwendigkeit zu sehen.

 

1

Die vielen Beiträge in: M.Serres (Hrsg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt am Main 1994, arbeiten diesen Grundgedanken vor allem an wissenschaftlichen Prozessen der Moderne exemplarisch heraus.

2

In einer offiziellen Broschüre des Bundesministeriums für Familie vom Oktober 2006 wird jedenfalls zusammen mit dem Bundesverband der deutschen Industrie BDI das Ergebnis einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft IW zu »Wachstumseffekten einer bevölkerungsorientierten Familienpolitik« vorgestellt.

3

Der aus den Begriffen »gouverner« »und mentalité« von Michael Foucault zusammengesetzte Begriff spielt seit längerem auch in Deutschland in der soziologischen Analyse eine Rolle, vgl. z. B. Ulrich Bröckling u. a (Hrsg): Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt am Main 2000.

4

In dem von Thomas Jahnke und Wolfram Meyerhöfer herausgegebenen Buch Pisa & Co. Kritik eines Programms (Hildesheim/Berlin 2006) werden nicht nur sehr systematisch und detailliert methodische Fragen zur Auswertung der PISA-Studie gestellt (Joachim Wuttke), sondern auch Hintergründe und Zusammenhänge erörtert: Christine Keitel macht zum Beispiel mit einem Überblick über die Sozialgeschichte des Testens deutlich, dass es in den USA aus der Notwendigkeit entstand, überhaupt irgendwelche bundesstaatlichen Kriterien gegenüber der kommunalen Schulautonomie zu setzen. In Europa sind Bildungstests tatsächlich erst mit TIMSS und PISA seit etwa 10 Jahren von Bedeutung. Hans-Dieter Sill weist darauf hin, dass eine seit 1995 laufende Diskussion über bundesweit einheitliche Kernziele des Unterrichts mit der aktuellen Definition der Bildungsstandards nicht aufgegriffen wurde. Deren Entstehung sei als Versuch einer Bildungsreform von oben zu verstehen, bei der im Konflikt zwischen Bund und Ländern die Wissenschaft des PISA-Konsortiums zu Hilfe gerufen wurde. Wolfram Meyerhöfer analysiert PISA und Co. als Produkte einer tendenziell industrialisierten Wissenschaft, die Rangreihen, aber nicht Erkenntnis anstrebt.

5

Joachim Perels weist auf die evangeliumsferne Argumentation eines Impulspapiers des Rates der EKD hin, in dem eine Steigerung des durchschnittlichen Gottesdienstbesuchs von 4 auf 10 Prozent, eine Trauquote von 100 Prozent sowie eine signifikante Steigerung der Taufquote angestrebt werden. (»Das Evangelium wird zur Ware«, in: FR, 7.11.06)

6

Sebastian Moll: »Lernen nach der Bush-Methode«, in: FR, 23.5.06.

7

Hans-Martin Schönherr-Mann: »Über den eigenen Schatten springen«, in: Freitag, 13.10.06, sowie Rahel Jaeggi: »Die im Dunkeln sieht man nicht«, in: FR, 14.10.06.

8

Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1996 (1979).

9

Blumenberg zeigt selbst an Mallarmé und Flaubert, dass bei ihnen das Lesenkönnen als Metapher der Auseinandersetzung mit dem Anderen der Natur zum Schreibenwollen führen kann, zur Neuschreibung dieses Verhältnisses, genauer zur Vorstellung, es im Autor aufzuheben: Sie versuchen in der Attitüde von Weltschöpfern eine neue Welt aus dem Nichts zu schreiben. Das Lesen des Buchs sollte einer Epiphanie gleichen.

10

Zu einer Geschichte des Raumverständnisses gibt Rudolf Zur Lippe (»Raum«, in Christoph Wulf (Hrsg): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim, Basel 1997, S. 169 ff.) viele Hinweise. Schon die Denkfigur des Lesers setze voraus, dass hier eine Einheit die Einheit der Natur, also Gottes Sinnhaftigkeit entziffern möchte. So wie Gott im Monotheismus als substanzialisierte, mit sich selbst identische Zentralität aufgefasst werde, so stehe ihm ein ebensolches Erkenntniszentrum, das Ego, gegenüber.

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Blumenberg schreibt, Descartes gehe zur Metaphorik von Bau und Vorrichtung, von Fundament und Gestell, von Mechanismus und Stadtplan über. Meines Erachtens ist schon hier die neue Möglichkeit zu sehen, die Metapher der Lesbarkeit der Natur umzukehren: Um lesen zu können, muss man schreiben lernen.

12

Richard Fichtner: »Der ›Raum‹ in der Renaissance-Malerei und in der klassischen Physik«: www.didmath.ewf.uni-erlangen.de/vorlesungen/Darst_Geo_SS2001/material/raum_mnu.doc

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Einen guten, sehr kompakten Überblick über die heutigen Strukturen der klassischen Mathematik gibt Pierre Basieux: Die Architektur der Mathematik, Reinbek 2004 (1999).

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Der Gedanke, dass es an der Natur nichts mehr gebe, was sich dem wissenschaftlichen Verständnis entziehe, scheint zumindest in der Biologie erst seit kurzem vorherrschend geworden zu sein. Die Wissenschaftsphilosophin Isabelle Stengers (Wem dient die Wissenschaft?, München 1998) sieht das Experiment als Macht des Wissenschaftlers der Moderne, als Argument, das in der wissenschaftlichen Debatte Fakten schaffe. Mit der zunehmenden Verwendung statistischer Instrumente sowie der höheren Rechnerleistung werde das, was das Experiment nicht klären könne, zum Rückstand, der mit den Mitteln der Statistik in den Griff genommen werde. Insbesondere bei der Genomforschung sei dieses Vorgehen von Bedeutung. Stengers bezeichnet dies als Verstümmelung des Denkens, weil so wissenschaftliches Fragen unterbunden werde.

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Bernulf Kanitscheider (Kosmologie. Geschichte und Systematik in philosophischer Perspektive, Stuttgart 2002 (1988)) arbeitet diesen Grundzug immer wieder heraus.

16

Kanitscheider 467 ff.

17

John D. Barrow: Einmal Unendlichkeit und zurück. Was wir über das Zeitlose und Endlose wissen, Frankfurt am Main/New York 2006.

18

René Descartes: Abhandlung über die Methode, die Vernunft richtig zu gebrauchen. Meditation über die Grundlagen der Philosophie, Wiesbaden 2006.

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John D. Barrow: Ein Himmel voller Zahlen. Auf den Spuren mathematischer Wahrheit, Reinbek bei Hamburg 1999.

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Er weist auf die prinzipiellen Grenzen deduktiver Mathematik hin, die Gödel nachgewiesen habe, und plädiert deshalb für eine experimentelle Mathematik der Zukunft, die Ergebnisse, die mit dem Computer an einer Vielzahl von Beispielen errechnet wurden, auch als – vorläufig – wahr anzusehen habe. Dabei markiere der Computereinsatz bei mathematischen Beweisen wie beim Vierfarbenproblem (Färbung einer beliebigen »Landkarte« mit maximal vier Farben) den Übergang: Auf Grund deduktiver Überlegungen wurde ein endliche Anzahl von möglichen Ausnahmefällen bestimmt, die dann jeweils für sich vom Computer durchgerechnet wurden. Da sie sich als unproblematisch erwiesen, galt die Vermutung entgegen der mathematischen Tradition als bewiesen.

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Hier wird deutlich, wie Barrow das anthropische Prinzip, das in Teilen der Kosmologie vertreten wird, auffasst: Menschen sind ein Mittel, mit dem das Universum sich seiner selbst bewusst wird.

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Wie weit eine solche Denkweise wirkt, wird schlaglichtartig klar, wenn man liest, dass zum Beispiel Jean-Francois Lyotard (zum Beispiel in »Materie und Zeit«, in: Das Inhumane, Wien 1989, S. 71 ff.), mit einem Bedauern zwar, aber ähnlich argumentiert: Sein Fluchtpunkt ist der Sonnentod der Erde.

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Diese Klärung stammt von Michael Jäger, dessen Anregungen dieser Text auch an anderen Stellen viel verdankt.

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Rainer Peek: »FAIRgleiche. Wie unterschiedliche Rahmenbedingungen von Schulen bei Leistungsvergleichen und Ressourcenzuteilungen berücksichtigt werden können«, in: Forum Schule, Nov. 2006, S. 10 ff.