Michael Ackermann

Editorial

Von einer doppelten planetarischen Bedrohung durch Atomwaffen und Klimawandel sprach Stephen Hawking in Chicago anlässlich der Umstellung der »Uhr des jüngsten Gerichts« von sieben auf fünf Minuten vor zwölf. Ob planetarisches »Sekundenereignis« oder durch Menschen gemachte Entwicklung, für die »Alarmisten« der Versicherungsbranche ist der Klimawandel Fakt. Die Hoffnung, dass bald auch die Marktidealisten merken, dass es einen unabweisbaren Zusammenhang zwischen kapitalistischer Ökonomie und öffentlicher Vorsorge, zwischen Infrastruktur und menschlicher Hilfe gibt, bleibt trotzdem gering. Immerhin war der Erkenntnisgewinn durch den Hurrikan »Kyrill« in Sachen »Gemeinwohl« nachhaltiger als der mediale Sturm, der den »König von Bayern« hinwegfegte. Stoibers »Zeitpfeil 2013« war ein vergleichsweise harmloser Fall linearen Denkens. Gefährlicher ist dieses Denken für die Gesamtgesellschaft, weil es diese mit Effektivitäts- und Kontrollwahn, Planzahlen und Renditeerwartungen auf entpolitisierende Weise zu determinieren sucht (siehe Jörg-Michael Vogl im »Schwerpunkt«). Dabei ist doch klar, dass PISA-Durchschnittswerte nur wenig über die Lernmöglichkeiten der einzelnen Schülerin aussagen, dass Bildung abhängig ist von strukturellen und individuellen Qualitäten, von Organisation und Inspiration. Es ist bezeichnend, dass im Moment größerer Störungen die Stärken menschlicher Improvisationskünste ebenso hervortreten wie die besten Eigenschaften einander »Wildfremder«. Beeindruckender als während des Stillstandes unserer »kulturellen Artefakte«, dem rollenden Material der Bundesbahn während des Hurrikans »Kyrill«, konnte das kaum erfahren werden. Ohne menschliche Empathie kommt unsere produzierte »Umwelt« schnell an ihre Grenzen.

Doch soll hier keine Tirade gegen die Technik oder die »Dingwelt« folgen. Mit Hartmut Böhmes Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne liegt eine ganze enzyklopädische Abhandlung über das Wesen und die Notwendigkeit der Dinge vor. Böhme stellt die Ableitung des Fetischs aus dem magischen Denken Afrikas als kolonialistisches Fantasma auf den Kopf und schüttelt uns Europäer als die eigentlichen Träger von Fetisch und Magie heraus. Böhme will die durchgängig kritische Sicht der Moderne auf Fetisch und Fetischismus aufbrechen, um diese zusammen mit den Dingen gegen ihre Verächter zu verteidigen. »Die Dinge sind das Futteral des Ichs, eine sensible Draperie, aus der ich auch hinausschlüpfen kann, ohne dass dabei das Ich aus den futteralen Dingen verschwände. Man bemerkt dies, wenn man zum ersten Mal eine fremde Wohnung betritt: Das Ich ist da, ohne anwesend zu sein, die Dinge erzählen dem aufmerksamen Besucher von ihrem Besitzer.« Der bewusste Umgang mit dem Fetischistischen eröffnet uns Handlungsräume – selbst der »Konsum … geht niemals in den ökonomischen Daten des Warentausches auf, sondern ist immer selbst schon Kultur«.

Die Verfeinerung der Messtechnik im Dienste des Katastrophenschutzes ist gewiss eine vornehmere Aufgabe als mittels eines Chips einen ganzen Musikladen auf ein empfindsames Körperorgan loszulassen. Doch wirkt in beiden Fällen das Paradigma »der Dinge«. Ohne die Dinge, so Böhme, sind wir nicht lebensfähig. Seit kurzem wird uns (im Badischen Museum von Karlsruhe) vor Augen geführt, dass schon 6000 Jahre vor den Pyramiden oder Stonehenge in Anatolien ein Übergang von den Jägern und Sammlern hin zu Ackerbau und Viehzucht, also vom Nomadischen zum Sesshaften stattfand. Zu unserem Erstaunen produzierten und umgaben sich die fernen Vorfahren schon damals mit Dingen, die nicht nur dem unmittelbaren Überleben dienten. In vielen Fällen sind die Dinge also offensichtlich schon länger verlängerte Sensoren unseres Körpers und Ausdruck von Befindlichkeit und Persönlichkeit, als »die entzaubernde Moderne« angenommen hat. Dies soll nur ein Hinweis darauf sein, dass wir weniger mit Gerichtetheit oder mathematischer Logik, als immer wieder mit Erkenntnissprüngen rechnen sollten. Deshalb müssen wir immer wieder nachdrücklich fragen, wann und wo die »Dinge« aus dem Ruder laufen, welchen »Dingen« wir den Vorzug geben wollen, welche wir fördern, verwerfen oder im Zweifel ächten.

In diesem Zusammenhang ist das Positionspapier »Jenseits der Lager, diesseits der Realität« (vom 5.1.07) der Grünen Katrin Göring-Eckardt, Anja Hajduk, Cem Özdemir, Boris Palmer und Stefan Wenzel interessant. Sie wollen die Grünen mit einem »erweiterten Umweltbegriff« für ein »starkes Bewusstsein von der Bedeutung öffentlicher Güter für den Zusammenhalt der Gesellschaft« positionieren. Als »postmaterialistische Wertepartei« sollen die Grünen demnach Themen wie Ökologie und soziale Gerechtigkeit ausbauen und »ein Seismograph für Erschütterungen in der Gesellschaft« sein, um »grundlegende Spannungen schneller als die anderen Parteien aufzuspüren«. Dass die AutorInnen bei ihrem Plädoyer für Teilhabe und Inklusion die

Debatte um ein Grundeinkommen als »eine trügerische Stilllegung der gesellschaftlichen Konflikte durch bloße Transferleistungen« kennzeichnen, ist allerdings ein argumentativer Schwachpunkt. Mit der bürgerrechtlichen Argumentation von Herbert Hönigsberger in diesem Heft müssten sich die Grünen anfreunden können.