Martin Altmeyer

Die intersubjektive Natur der Seele

Zur Zukunft der Psychoanalyse nach Freud

Das gerade ausgerufene »Jahr der Geisteswissenschaften« stellt die Gegenwartspsychoanalyse vor die alte Frage ihres wissenschaftlichen Selbstverständnisses. Soll sie sich als Geisteswissenschaft definieren? Oder eher als Naturwissenschaft, als »natural science of the mind«, wie Verfechter einer ambitionierten Neuropsychoanalyse seit einiger Zeit fordern? Oder doch als sozialwissenschaftliche Disziplin? Die These unseres Autors ist, dass sie zwischen allen Stühlen sitzt und zusehen muss, wo sie ihren Platz im interdisziplinären Zwischenraum findet.

Dass die Wissenschaft vom Unbewussten unvermeidlich die Disziplingrenzen überschreitet, hängt mit ihrem Gegenstand selbst zusammen. Denn die Psychoanalyse – ob als wissenschaftliche Grundlagendisziplin, als Therapieverfahren oder auch als angewandte Kulturtheorie – befasst sich gerade mit der Vermittlung von Subjektivität (des Individuums oder eines Kollektivsubjekts), Objektivität (der äußeren Realität einschließlich der inneren Natur des Menschen) und Intersubjektivität (der sozialen Lebenswelt). Selbstverständlich ist die Psyche, weil ein Gedanke, ein Gefühl, eine Fantasie, eine Überzeugung, ein Traum oder ein Handlungsimpuls mit neuronalen Prozessen einhergeht, an ihr biologisches Substrat – das menschliche Gehirn – gebunden. Sie lässt sich darauf aber nicht zurückführen, schon gar nicht im Modell von Ursache und Wirkung, wie der materialistische Reduktionismus behauptet. Schon deshalb nicht, weil sich das auf »die Welt da draußen« bezogene Seelenleben symbolisch darstellt, also in Gestalt von lebendigen Bildern, von inneren Szenen, von Empfindungen, die in Worten und Sätzen ausgedrückt werden können; diese Darstellungsformen des Mentalen lassen sich in die Sprache der Neuronenkommunikation, in der es um biochemische Verbindungen und das komplex orchestrierte Feuerwerk der Synapsen geht, nicht übersetzen.

Beim Versuch einer solchen Übersetzung ginge gerade die Eigentümlichkeit mentaler Repräsentationen verloren: ihre Grammatik und ihre Semantik, die sich wiederum aus einem kognitiven Mitteilungsgehalt, einer affektiven Färbung, einer moralischen, sozialen und/oder ästhetischen Dimension ergibt. Zudem bildet die seelische Innenwelt einschließlich des Unbewussten keine abgeschlossene Struktur, sondern entwickelt sich im Rahmen sozialer Interaktionen, die sich dem Zugriff der Naturwissenschaften entziehen. Die Psychoanalyse hat es eben nicht mit der »Kausalität der Natur« zu tun, sondern mit einer »Kausalität des Schicksals«. Deren determinierende Kraft ist nur im Medium systematisch betriebener Selbstreflexion zu brechen und die psychoanalytische Kur ist eine Sonderform dieser Selbstreflexion in Gegenwart eines anderen. Um ihrem Gegenstand, der sich im Prozess der Modernisierung der Welt ständig wandelt, heute noch gerecht zu werden, muss sich die zeitgenössische Psychoanalyse freilich ihrerseits modernisieren.

Eine Renaissance der Psychoanalyse?

Seit ihrer Blütezeit (in den 1970er- und 80er-Jahren) stand eine mit Leben und Werk ihres Gründervaters aufs Engste verbundene Psychoanalyse nicht mehr so sehr im Rampenlicht der Öffentlichkeit wie im Jahre 2006, als mit zahlreichen Veranstaltungen und Kongressen, Feuilletonbeiträgen, Titelgeschichten und Buchveröffentlichungen der 150-jährige Geburtstag Sigmund Freuds gefeiert wurde. Bei dem Dauerfest fiel eines freilich besonders auf: dass Freuds Einsichten in die Conditio humana vor allem aus Sicht eines boomenden Neo-Naturalismus gewürdigt wurden. Denn in der Tat ist die Existenz des Unbewussten, welche die Psychoanalyse stets behauptet und in den Entäußerungen der menschlichen Psyche gefunden hat, von den modernen Kognitionswissenschaften empirisch längst nachgewiesen, auch wenn der neurobiologische Begriff unbewusster Vorgänge sich vom psychoanalytischen Begriff des dynamischen Unbewussten unterscheidet. Der Jubilar, der – ganz dem naturwissenschaftlichen Zeitgeist seiner Epoche verhaftet – als forschender Neurobiologe angetreten war, hätte sich jedenfalls gefreut und bestätigt gesehen.

Denn vom ersten Entwurf einer Psychologie (1895) bis zum postum veröffentlichten Abriss der Psychoanalyse (1940) hatte Sigmund Freud die Hoffnung nie aufgegeben, seine Hypothesen zum Seelenleben würden eines Tages durch Erkenntnisse über die Morphologie und Funktionsweise des zentralen Nervensystems belegt, psychoanalytische Spekulationen durch biologisches Wissen ersetzt werden können. Exemplarisch für viele ähnliche Überlegungen, welche die Vorläufigkeit und Platzhalterfunktion der Metapsychologie betonen, mag die in Jenseits des Lustprinzips (1920) formulierte Erwägung stehen, dass durch die »Biologie … wahrlich ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten … unser ganzer künstlicher Bau von Hypothesen umgeblasen« werden könnte. Kein Zufall, dass der für seine neurobiologische Gedächtnisforschungen mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Eric Kandel (2006) der Psychoanalyse unter Verwendung dieses Freud-Zitats eine Rückkehr zu ihren naturwissenschaftlichen Ursprüngen empfiehlt. Was Jürgen Habermas (1968) ihr einst als »szientistisches Selbstmissverständnis« bescheinigt hatte, scheint sich heute als naturalistischer Königsweg zu erweisen, auf dem die Psychoanalyse neue akademische wie gesellschaftliche Anerkennung erfährt.

Neben einer biologisch fundierten Metapsychologie, die auch der klassischen Triebtheorie mit ihrer Ein-Personen-Psychologie und ihren Energiemetaphern noch zugrunde liegt (der andere gilt lediglich als Objekt für die eigenen libidinösen oder aggressiven Besetzungen) findet man in Freuds Werk allerdings noch einen zweiten Ansatz, der eine Zwei- oder Mehr-Personen-Psychologie favorisiert (der oder die andere wird selbst als Subjekt verstanden, zu dem eine innere Verbindung besteht). Hier wird die konstitutive Bezogenheit des Menschen auf andere Menschen, seine »soziale Natur«, ins Zentrum der Theorie gestellt. »Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie«, heißt es zum Beispiel in der Einleitung zu Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). Es sind solche Auffassungen vom intersubjektiven Charakter der menschlichen Psyche, auf die sich die zeitgenössische Psychoanalyse berufen kann, wenn sie heute an Freud anknüpft, um der fatalen Renaissance eines naturalistisch verkürzten, szientistisch auftrumpfenden Menschenbildes etwas entgegenzusetzen.

Nun kann man den Gründungsvater der Psychoanalyse sicher nicht zum Kronzeugen einer »intersubjektiven Wende« erklären (die in den Nachbarwissenschaften mit Martin Bubers Anthropologie, Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie oder G. H. Meads symbolischem Interaktionismus zu Freuds Zeiten bereits eingesetzt hatte und von der gleich die Rede sein wird). Denn ungeachtet seiner anhaltenden Ambivalenz ist Freud letztlich bei der cartesianischen Trennung von Subjekt und Objekt geblieben, die ein vermittelndes Drittes und damit ein Zwischen (=Inter) nicht kennt. Umgekehrt versetzt freilich ihre verspätet vollzogene, auch als »relational turn« bezeichnete Wende die Psychoanalyse in die Lage, jene von Freud schon widerstrebend registrierte eigentümliche Weltbezogenheit neu zu entdecken, die in den mentalen Tiefen des Subjekts auf die virtuelle Gegenwart des anderen verweist. Aus dieser Perspektive wird auch das Unbewusste, das in der klassisch-psychoanalytischen Topographie eine Art innere Unterwelt darstellt, zu einem relationalen Unbewussten, das auf zwischenmenschliche Beziehungen geradezu drängt und den Einzelnen in Bezug zu seiner sozialen Umgebung psychisch situiert, ohne dass es dabei immer harmonisch zuginge: auch Hass, Neid oder Eifersucht verbinden.

Hier trifft sich modernes psychoanalytisches Denken nicht nur mit den Befunden der Säuglingsforschung, sondern jenseits des Naturalismus auch mit dem Denken einer aufgeklärten Neurobiologie. Diese favorisiert nämlich ihrerseits, nachdem sie jahrhundertelang vergeblich nach der Steuereinheit an der Spitze der neuronalen Hierarchie – dem descarteschen Homunkulus im Kopf – gesucht hat und dabei auf eine nicht-hierarchische Gehirnarchitektur gestoßen ist, die Hypothese einer sozialen Konstruktion des Selbst (z. B. Damasio 1999, Singer 2002). Unter der gemeinsamen Annahme einer Intersubjektivität des psychischen Geschehens bahnt sich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit an, zu der die zeitgenössische Psychoanalyse als Gesprächspartner einiges beizutragen hat – wenn sie ihren durch Schulenkonkurrenz bestimmten Zustand der konzeptionellen Zersplitterung überwinden kann.

Der psychoanalytische »Turmbau zu Babel«

Die Vielsprachigkeit innerhalb der Psychoanalyse hat eine bedrohliche Dimension angenommen. Dabei wirkt die anhaltende Suche nach Gemeinsamkeiten (dem »common ground«) eher wie ein Symptom ihrer Krise. Für symptomatisch kann man auch die anwachsende Literatur zur professionellen Identität des Psychoanalytikers halten. Der Diskurs des Selbstzweifels, der sich bis zu Freud zurückzuverfolgen lässt, verlangt inzwischen eine kritische Verständigung der Psychoanalyse über die eigene Geschichte, in der die Quellen für den gegenwärtigen Zustand der Identitätsdiffusion zu finden sind.

Paradoxerweise liegen die Ursachen des psychoanalytischen Pluralismus der Gegenwart nämlich in der von Freud etablierten Identitätspolitik, die in den Gründerjahren ihren guten Sinn, historisch aber fatale Konsequenzen hatte. Um die Integrität der neuen Lehre zu schützen, die junge psychoanalytische Bewegung zusammenzuhalten und sie gegen die feindseligen Angriffe aus Gesellschaft und Wissenschaft zu verteidigen, hatte Freud die Anerkennung bestimmter Grundwahrheiten gefordert. Dieses »Schibboleth« umfasste zunächst bloß die Tatsache der infantilen Sexualität und die Gültigkeit der dualen Triebtheorie, später auch die Existenz von Widerstand und Übertragung im psychoanalytischen Prozess. Ursprünglich aufgestellt, um etwas zu sichern, was wir heute die Kernidentität der Psychoanalyse nennen würden, trug der Konfessionszwang entscheidend zu ihrer Spaltung bei. Wer immer die Zustimmung verweigerte, galt als Häretiker und wurde ausgeschlossen, wenn er nicht freiwillig ging. Dissidenz führte zur Exklusion. Alfred Adler und Otto Rank, C. G. Jung und Wilhelm Reich, Jacques Lacan, John Bowlby, Harry Stack Sullivan, Erich Fromm und Karen Horney – die Liste der Ausgegrenzten ist lang, und sie enthält die prominenten Namen derjenigen, die ihre Exkommunikation zur Gründung eigener Schulen nutzten oder außerhalb der organisierten Psychoanalyse weiterarbeiteten: einsam und am Ende in seine energetischen Wahnideen verstiegen wie Wilhelm Reich oder interdisziplinär anerkannt wie John Bowlby mit seinen Pionierarbeiten der Säuglings- und Bindungsforschung, ohne die eine empirisch fundierte psychoanalytische Entwicklungspsychologie heute nicht denkbar wäre.

Der Identitätszwang bewirkte das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war: Zersplitterung statt Vereinheitlichung. Der psychoanalytische Turmbau zu Babel hatte begonnen. Was Einheit stiften sollte, förderte den Aufbau konkurrierender Schulen, die mit unterschiedlichen Konzepten und in zunehmender Sprachenvielfalt gegeneinander antraten. So lässt sich der gegenwärtige Pluralismus als das ironische Resultat einer Tradition begreifen, in der die organisierte Psychoanalyse theoretische und klinische Differenzen als Fälle von Abweichung betrachtete, anstatt darin das Auftauchen bisher unbekannter, herausfordernder Ideen zu sehen, die auf den wissenschaftlichen Prüfstand gehörten. Statt empirischer Evidenz wurden Bekenntnisse verlangt, welche die Psychoanalyse zu einer Glaubensfrage machten und insgesamt von der akademischen Welt entfremdeten. Weit davon entfernt, inhaltliche Differenzen so lange offen zu halten, bis entsprechende Befunde zum Beispiel aus der vergleichenden Psychotherapieforschung, aus der Entwicklungspsychologie oder aus anderen Disziplinen der Humanwissenschaften vorlagen, war die psychoanalytische Theoriedebatte lange von einem Kampf um reine Ideen beherrscht, der sich im klinischen Material zwar immer neue Munition verschaffte, aber letzten Endes unentscheidbar bleiben musste. Unter einem wuchernden Ideenhimmel erodierte schließlich die wissenschaftliche Basis der Psychoanalyse, die heute aus vielen Konfessionen besteht, von denen jede einzelne ihre eigene Identität pflegt.

Intersubjektivität – ein Paradigmen-Wechsel in der Psychoanalyse

Dass die Psychoanalyse seit einiger Zeit diese Gefahr erkannt und, um im Bild zu bleiben, nicht nur die Weiterarbeit am babylonischen Turm gestoppt, sondern mit seinem Rückbau begonnen hat, lässt sich nicht mehr übersehen. Seit sie ihre narzisstische Kränkung über verlorene Deutungshoheit und Diskursführerschaft zu verarbeiten beginnt und, unter dem stummen Zwang der ernüchternden Realität bescheidener geworden, sich anhören, anschauen und aneignen muss, was ihre Neben- und Gegendisziplinen wie Säuglingsforschung, Neurobiologie oder auch die Sozialwissenschaften an neuen Erkenntnissen zu bieten haben, ist auch das Angebot der Wissenschaft vom Unbewussten wieder gefragt. Allerdings weniger in Form des klassischen Tiefendenkens. Denn die vertrackten Spuren des Unbewussten finden sich nicht mehr bloß in jenen verborgenen Winkeln des Seelenlebens, die nur der therapeutischen Schürfarbeit zugänglich sind, sondern in dem, was sich in der Beziehung zwischen Patient und Therapeut und – über diesen Sonderfall der therapeutischen Beziehung hinaus – zwischen Menschen im Allgemeinen ereignet: Die individuelle Seele ist mit der des »virtuellen Anderen« vernetzt (s. Altmeyer u. Thomä 2006).

Obwohl es sich bei dieser »intersubjektiven Wende« um die Entfaltung eines ureigenen Potenzials der Psychoanalyse handelt, kann man doch von einem Paradigmenwechsel sprechen. Was seit der Aufgabe der Verführungstheorie durch Freud zum »äußeren Faktor« erklärt worden, als »durchschnittlich zu erwartende Umwelt« abgeschattet geblieben oder aus dem psychoanalytischen Blickfeld gänzlich verschwunden ist, hat in Theorie und Praxis seinen Weg zurückgefunden: die Realität der Außenwelt. Mit dieser Rückkehr wird nicht nur der Bedeutung von Interaktion und Handeln für die Strukturbildungen der Psyche Rechnung getragen, sondern auch das Denken-in-Beziehungen von Innen, Außen und Zwischen psychoanalytisch erneuert. Wir sind dabei, unser dynamisches Verständnis des psychischen Geschehen aus den Beschränkungen eines epistemisch überholten Organismus-Modells herauszulösen, das uns immer noch suggeriert, die Seele sei eigentlich im Körper zu Hause und suche bloß notgedrungen Kontakt zur physischen und sozialen Umwelt. Stattdessen wird die Psyche heute eher als Organ der Vermittlung von Innen- und Außenwelt verstanden, das dieser Funktion gemäß strukturiert ist. Für die normale seelische Entwicklung gilt ebenso wie für ihre Abweichungen: Das Subjekt entfaltet von Geburt an (und in elementarer Form bereits intrauterin) das eigene Potenzial in komplexen Interaktionen mit seiner physischen und sozialen Umwelt. Es bildet sich nicht autonom, sondern im Rahmen von störbaren Objektbeziehungen; gerade deshalb können solche Bildungsprozesse psychopathologisch entgleisen.

Das Paradigma der Intersubjektivität verändert auch das Verständnis dessen, was in der psychoanalytischen Therapie geschieht. Träume, assoziative Einfälle, Erinnerungen des Analysanden entstammen demnach nicht einfach – wie von der klassischen Psychoanalyse angenommen – seiner aparten Innenwelt, um dann auf den Analytiker übertragen und von diesem gedeutet zu werden. Das Stundenmaterial wird nicht einfach vom Patienten geliefert. Es ist nicht »rein«, sondern relational »kontaminiert« und wird im analytischen Prozess kokonstruiert: Der Analytiker ist an der Herstellung der Innenwelt des Analysanden selbst beteiligt. Heute gehört die Einsicht vom psychoanalytischen Prozess als einem Zwei-Personen-Geschehen ebenso zum psychotherapeutischen Standardwissen wie die Erfahrung, dass sich Patienten in subtiler Weise an ihre Analytiker anpassen. Bereits die theoretischen Überzeugungen des Therapeuten, die er vermittels seiner Interventionen durch Sprache, Metaphernwahl, Deutungsangebote und so weiter zum Ausdruck bringt, aber auch seine latenten Weltbildoptionen beeinflussen die Perspektive, aus der Patienten sich selber sehen und verändern.

Wegen der intersubjektiven Kontaminierung des klinischen Materials lassen sich bestimmte metapsychologische Konzepte nicht länger unter Verweis auf eigene Behandlungsverläufe verifizieren. Gefangen in einem selbstreferenziellen Zirkel ist die klassische Fallstudie ungeeignet, die Richtigkeit einer Deutung, die Schlüssigkeit eines bestimmten metapsychologischen Konzepts oder gar die Überlegenheit einer ganzen Theorie zu belegen. Die unvermeidliche Zirkularität der rein klinischen Forschungsmethode ist freilich im intersubjektiven Charakter der analytischen Situation selbst angelegt und hat insofern eine interessante Kehrseite. Sie belegt die Bedeutung der Beziehung als Therapeutikum. Wenn nämlich die dargelegte Heilwirkung vor allem von dem abhängt, was zwischen Analytiker und Analysand passiert, wäre das eine Erklärung für den immer wieder bestätigten Befund, dass Patienten von sehr verschiedenen Therapieansätzen profitieren können, solange nur die therapeutische Interaktion »funktioniert«. Therapeutische Fortschritte lassen sich auf verschiedenen psychoanalytischen Wegen erzielen – unter dieser Prämisse hätten alle methodisch ausgewiesenen Therapieansätze ihre relative Berechtigung, falls sie ihre klinische Wirksamkeit belegen können.

Wissenschaftliche Forschung – Bedingung für die Teilnahme der Psychoanalyse am interdisziplinären Dialog

Wird damit nicht einer postmodernen Beliebigkeit das Wort geredet, im Sinne eines »anything goes«? Das Gegenteil ist der Fall. Die wechselseitige klinische Kompetenzvermutung – um nicht zu sagen: Anerkennung – könnte geradezu eine Voraussetzung dafür sein, dass die psychoanalytischen Schulen ihre scholastische Attitüde aufgeben, die Kirchentore öffnen und den frischen Wind der Wissenschaft hineinlassen. Ausgerechnet ihr Pluralismus versetzt die Psychoanalyse nämlich in die Lage, in Theorie und Praxis zu jener Grundhaltung wissenschaftlicher Skepsis zurückzufinden, welche die eigenen metapsychologischen Hintergrundüberzeugungen den Zumutungen empirischer Prüfung auszusetzen bereit ist. So ließe sich an eine Tradition kritischer Selbstreflexion anknüpfen, die Freud selbst begründet hat, als er seine Erkenntnisse unter den Vorbehalt zukünftiger Forschung und besseren Wissens stellte.

Dazu brauchen wir allerdings eine »hinreichend gute« Empirie, die ihrem Gegenstand und den Qualitätsansprüchen einer Epistemologie der Subjektivität ebenso gerecht zu werden hat wie den anerkannten Forschungsstandards in den Humanwissenschaften. Hier lassen sich beachtliche Fortschritte registrieren. Ein psychoanalytisches Interesse an Grundlagenforschung ist im Wachsen, welches auch das Wissen der Nachbardisziplinen zur Kenntnis nimmt und verwendet. Und zwar keineswegs nur mit dem Ziel, psychoanalytische Hypothesen zur Entwicklung und Arbeitsweise der Psyche anzubieten oder sich bestätigen zu lassen, sondern auch in der Absicht, von deren Konzepten für unsere eigene Theoriebildung zu profitieren und Irrtümer zu korrigieren.

So finden wir etwa bei den Kognitionswissenschaften gewiss auch Erhellendes zur Dynamik des Unbewussten, aber sehr viel Interessanteres zu den affektiven und sozialen Bedingungen für die Entstehung von Bewusstsein, dem die Psychoanalyse in der Vergangenheit zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat (vorbildlich zusammengefasst bei Martin Dornes 2006). So bietet die Entdeckung so genannter Spiegelneuronen durch die Neurobiologie (s. Bauer 2005) Anlass, von einer elementaren Intersubjektivität der Wahrnehmungs- und Erlebensprozesse auszugehen. Die Existenz dieses Neuronentyps erlaubt uns, Handlungen, die wir bloß beobachten, innerlich so mitzuvollziehen, als ob wir sie selbst »virtuell« ausführen: Ein Tanz löst beim Beobachter dieselben neuronalen Reaktionen und muskulären Enervationen aus wie beim Tänzer selbst.

Auch die von der Psychoanalyse zunächst nur zögerlich rezipierten Interaktionsbefunde der Säuglings- und Bindungsforschung sind inzwischen weitgehend anerkannt. Daniel Sterns Theorie von der interpersonellen Welt des Säuglings (Stern 1985) und das so genannte Mentalisierungskonzept – das Konzept einer intersubjektiv vermittelten Entstehung seelischer Funktionen und Strukturen (s. Fonagy/Gergely/Jurist/Target 2002) – fehlen heute auf keinem psychoanalytischen Kongress. Beide auf empirischen Studien und experimenteller Forschung beruhenden, mit raffinierten Beobachtungs- und Aufzeichnungsmethoden arbeitenden, aber stark theoriegeleiteten Projekte gelten heute als Pionierleistungen auf dem Gebiet einer psychoanalytischen Empirie. Sie haben nicht nur die alten Kontroversen zur Entwicklungspsychologie entscheidend vorangebracht, sondern erschließen der Psychoanalyse auch neues Terrain, um ihre Metapsychologie vom Makel reiner Spekulation zu befreien. Eben dieses Ziel verfolgt auch eine von der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) eingesetzte Arbeitsgruppe zur Konzeptforschung unter der Leitung von Marianne Leuzinger-Bohleber, die als Ko-Direktorin des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts auch eine umfangreiche Katamnesestudie über die Langzeitwirkungen psychoanalytischer Behandlungen auf den Weg gebracht und veröffentlicht hat (Leuzinger-Bohleber u. a. 2001).

Die Psychoanalyse hat das Graben in der Tiefe übertrieben. Im Fluss des Lebens fließt alles mehr oder weniger weit oben. Die allertiefste Tiefe ist eine Illusion« – so lautet die kritische Bestandsaufnahme des indischen Psychoanalytikers Sudhir Kakar, aus der eine Psychoanalyse, welche im Zuge ihrer Modernisierung die Psyche zunehmend unter dem Paradigma der Intersubjektivität betrachtet, ihre Konsequenzen zu ziehen scheint. Der aufgeklärte psychoanalytische Blick gilt dem, was – unsichtbar, aber dennoch zu beobachten – an der sozialen Oberfläche passiert, nämlich im Austausch des Einzelnen mit seiner Umwelt, in der Dynamik von Paarbeziehungen, in der Interaktion von und zwischen Gruppen, im interreligiösen oder auch im interkulturellen Konflikt. Darin könnte das intersubjektiv angereicherte Erbe Freuds in Zeiten der Globalisierung bestehen: die Erkenntnis, wie sehr Menschen mental miteinander verwoben sind und unbewusst aufeinander bezogen bleiben – im positiven wie im negativen Sinne. Für diesen Befund bietet eine zusammenwachsende Welt zahlreiche Fallbeispiele.

Literatur:

Altmeyer, M./Thomä, H. (Hrsg.) (2006): Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, Stuttgart: Klett-Cotta

Bauer, J. (2006): Warum ich fühle, was Du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen, Hamburg: Hoffmann und Campe (Original 2005)

Bollas, C. (1997): Der Schatten des Objekts. Das ungedachte Bekannte: Zur Psychoanalyse der frühen Kindheit, Stuttgart: Klett-Cotta (Original 1987)

Buber, M. (1979): »Ich und Du«, in: Das Dialogische Prinzip. Heidelberg: Verlag Lambert Schneider (Original 1923)

Damasio, A. (2000): Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. München (List) (Original 1999)

Dornes, M. (2006): Die Seele des Kindes, Frankfurt am Main: S. Fischer

Fonagy, P./Gergely, G./Jurist, E./Target, M. (2004): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst, Stuttgart: Klett-Cotta (Original 2002)

Freud, S. (1895): »Entwurf einer Psychologie«, in: GW Nachtragsband: S. 373-486. Frankfurt am Main: S. Fischer

Freud, S. (1910): »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci«, in: GW VII, S. 127–212

Freud, S. (1911): »Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens«, in: GW VIII, S. 230–238

Freud, S. (1914): »Zur Einführung des Narzissmus«, in: GW X, S. 137–170

Freud, S. (1917): »Trauer und Melancholie«, in: GW X, S. 427–446

Freud, S. (1921): »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, in: GW XIII, S. 71–161

Freud, S. (1923): »Das Ich und das Es«, in: GW XIII, S. 237–289

Freud, S. (1926): »Hemmung, Symptom und Angst«, in: GW XIV, S. 111–205.

Freud, S. (1930): »Das Unbehagen in der Kultur«, in: GW XIV, S. 419–506

Freud, S. (1940): »Abriss der Psychoanalyse«, in: GW XVII, S. 63–138

Habermas, J. (1968): Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. Main: Suhrkamp

Honneth, A. (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main: Suhrkamp (um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe 2003)

Kandel, E. R. (2006): Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp (Original 2005)

Leuzinger-Bohleber, M. (2001): »Langzeitwirkungen von Psychoanalysen und Psychotherapien: Eine multiperspektivische, repräsentative Katamnesestudie«, in: PsycheZ Psychoanal 55, S. 193–276

Singer, W. (2002): Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Stern, D. N. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta (Original 1985)