Xaver Brenner

Mythos 68 – Oder die Fortsetzung einer Bewegung

Der gegenwärtig wieder anschwellende Streit um die Bewertung der 68er-Bewegung zeigt, dass 68 gerade nicht Geschichte ist. Ganz offensichtlich wird doch immer noch um die Folgen von 68 gestritten, als wäre 68 nicht vorbei. An der Frage: »Wie hältst du’s mit dieser Revolte?« scheiden sich immer noch die Geister. So gesehen geht 68 weiter, nur manche 68er, so unser Autor, haben das offenbar noch nicht bemerkt. Dabei gibt es keine Gründe für eine falsche Scham. – Ein Plädoyer gegen die StiIllstellung der Geschichte.

Bisher sind alle Versuche, die 68-Bewegung zu einem Mythos zu erklären und zur Historie zu machen, gescheitert.(1) »Vergesst 68« ist reine Verdrängung. Was aber wird verdrängt und vor allem, warum? Nach wie vor geht es um jene Themen, die schon damals unsere Gesellschaft in Bewegung brachten. Sie sind bis heute wirksam. 68 ist damit auch zur Metapher für die weiterlebenden Konflikte in dieser Gesellschaft geworden.

Es ist paradox. Die Themen von damals sind geblieben, ja noch gewachsen, aber die Bewegung, die sie dieser Gesellschaft auftischte, ist fast verschwunden. Dieses Paradoxon gibt zum Nachdenken Anlass. Am leichtesten macht es sich ein Teil der liberalen Öffentlichkeit. In der Süddeutschen Zeitung hat Thomas Steinfeld die 68er-Bewegung zum »Scheinriesen«(2) erklärt, weil sich die riesenhaften Probleme angeblich immer von selbst lösen oder gelöst haben, die uns seit damals bewegen. Nun ist hinlänglich bekannt, dass mit dem Verschwinden des Unglücksboten das Problem nicht verschwindet. Heute wird der Bote nicht umgebracht, sondern einfach zum »Mythos 68«, und damit für nicht existent erklärt. So einfach und doch so falsch. Alles, was die 68er in die öffentliche Debatte brachten, ist heute im Weltmaßstab wirksam und zu globalen Problemen angewachsen, die gelöst werden müssen. Also lebt der »Scheinriese« in den Riesenproblemen weiter.

Die zweite Gruppe in der 68er-Debatte bilden die Konservativen. Auf ihre Weise treiben sie die Themen von damals am aktivsten weiter. Sie wollen weder vergessen noch verdrängen. Im Gegenteil. Sie wollen verantwortlich machen. »Seit 68 …« ist für sie so zur anklagenden Metapher für das Weiterwirken dieser Bewegung geworden. Die 68er sind an allem schuld, was nach ihrer Meinung in dieser Gesellschaft falsch läuft. Jede auch nur irgendwie relevante gesellschaftliche Frage – von der Erziehung über den Kindermangel bis zur Energiefrage – führen sie mittlerweile mit dem Hinweis auf die Verantwortung der 68er. Auf paradoxe Weise sind die konterrevolutionären 68er zurzeit die aktivsten 68er. Die Neokonservativen, Koch, Merz, Diekmann und Co., setzen mit umgekehrten Vorzeichen heute das Projekt 68 unter dem Begriff des Kampfes gegen den »Werteverfall« fort.

Vergesst 68 – wirklich nicht möglich?

Was so lebendig ist, kann gar nicht tot sein. Dieser Befund drängt sich auf. Vielleicht haben ja die Konservativen Recht. Vielleicht ist die Revolution von 68 noch nicht vorbei. Wenn dem so ist, warum verdrängen das die 68er? Vor dem Hintergrund dieser Frage wäre 68 in Wirklichkeit keine »glücklich gescheiterte Revolution«,(3) sondern nur eine unglücklich verlassene Revolte. Auf halbem Weg stecken geblieben im Dickicht der kulturellen Neugründung dieser Republik. Das Projekt, das einmal selbst ein »kulturelles Paradigma« dieser Republik war, wie Karl Heinz Bohrer sagt,(4) wäre dann immer noch wirksam und harrte seiner Fortsetzung.

Folgen wir diesem Gedanken. Begreifen wir die 68er-Bewegung nicht als Phantom, sondern als Phänomen unserer Geschichte, so bleibt doch die Frage: Warum sehen nur die Konservativen ihre eminente Wirkung? Warum unterschätzen, verdrängen oder vergessen sie so viele Alt-68er? Möglicherweise hilft uns zur Klärung dieser Frage eine geschichtsphilosophische Erkenntnis Hegels, die auch vergessen wurde.

– Für ihn gehen die Denkmuster wirklich geschichtlicher Bewegungen in die politischen und kulturellen Handlungsmuster ihrer Völker über und verändern deren Kultur grundlegend. So geschehen während der »Französischen Revolution«.(5)

– Das Geschichtlichwerden eines grundlegenden gesellschaftlichen Prozesses hat für Hegel etwas mit Verallgemeinerung zu tun. Alles, was in das allgemeine Bewusstsein übergeht, verschwindet jedoch als besondere Bewegung.

Die kulturelle Erneuerungsbewegung in der Beziehung zwischen den Geschlechtern, in der Musik, in der Erziehung, im neuen Verhältnis zur Dritten Welt und im Verhältnis zur Natur, das war eine weltweite Bewegung. Sie trat als besondere Bewegung in jedem Land auf. Hier hat Joscha Schmierer Recht, wenn er sich gegen die Provinzialisierung und Verdeutschung von 68 wendet.(6) War sie auch eine weltweite Bewegung, so stellte doch der Kalte Krieg die Geschichte in Ost und West immer am konkreten Ort still.

Damit liegen die Ursachen für diese Bewegung im Aufstand gegen den Stillstand der Zeit, gegen die Ruhe als allgemeine Bürger-, aber auch als allgemein verordnete Proletarierpflicht. Diese Bewegung erfasste deshalb New York, Tokio, Paris und Berlin genauso wie Prag (Dubcek(7)). Weil 68 eine vielschichtige, weltweite Kulturrevolution war, lag ihr Erfolg in ihrem allgemeinen, die Lebenswelt der Völker in Ost und West verändernden Charakter.

Wenn das Verschwinden im Allgemeinen – nach Hegel – geradezu ein Charakteristikum erfolgreicher sozialer Bewegungen ist, dann droht ihnen auch an dieser Stelle in paradoxer Weise die größte Gefahr. Indem ihre Motive zum Lebensstil der Mehrheit werden, verschwinden scheinbar die Gründe, für ihren Erfolg weiter zu streiten. Wenn selbst die Konservativen wesentliche Elemente der neuen kulturellen Lebenswelt übernommen haben (moderater Feminismus, Umweltbewegung, Pop-Musik), scheint die Bewegung am Ziel. Doch hier schlägt der Erfolg in den Miss-Erfolg um. Unsere Kultur hat sich so verändert, dass man sich den Zustand vorher gar nicht mehr vorstellen kann, weil man grundsätzlich anders lebt. Insbesondere für junge Menschen verschwindet damit aber auch die Notwendigkeit, den Stand der Freiheit zu verteidigen, weil man den Stand der Unfreiheit nicht erlebt hat.

Erinnern wird damit zu einer Aufgabe, die keine antiquiert historische, sondern eine aktiv geschichtliche ist. Die gegenwärtig einsetzende Revisionsbewegung von 68 setzt exakt am Phänomen des Verschwindens gelebter Erfahrung an. Die Debatte um die »Leitkultur« sollten wir begrüßen. In ihr wird greifbar, was wir verlieren, wenn wir jene Leitbilder wieder zurückholen, die uns die gewonnene Fähigkeit zur Selbstgestaltung wieder abnehmen.

Eigentlich wäre das die Stunde der 68er, wenn es sie denn noch gäbe. Sie müssten ihr Projekt verteidigen, wenn es denn je ein Projekt gewesen wäre. Sie müssten sich aufraffen, die neue Kultur der Bundesrepublik zu verteidigen, an deren Neuformulierung sie beteiligt waren.

Doch hier gibt es die größten Probleme mit dem Personal von 68. Mit Max Weber könnte man sagen, dass sich der größte Teil der damals Aktiven, den Erfordernissen des Lebens folgend, in ihre Berufe abgesetzt hat, dabei aber ihre Berufung vergaß.(8) Dass dieser Prozess von Leuten lächerlich gemacht wird, die selbst nichts anderes im Kopf haben, als in der Angestelltengesellschaft Karriere zu machen, ist die eher zynische Pointe dieser Geschichte. Das tatsächliche Problem einer Bewegung ohne Beweger löst dieser Hinweis nicht.

»Phantasie an die Macht«

Karl Heinz Bohrer hat sich diesem zweiten Aspekt des Verschwindens der Beweger zugewandt. Unter dem Titel: »Fantasie, die keine war«(9) fragt er nach der Macht einer Bewegung, die »selbst einmal ein kulturelles Paradigma war«, und den Akteuren, die vergessen haben, was sie einmal wollten. Was sie vergessen haben, liegt für Bohrer auf der Hand: die Veränderung dieser Gesellschaft. Spannend ist jedoch, warum sie ihr zentrales Anliegen vergessen haben. Das ist keineswegs klar. Wenig überraschend ist, dass Bohrer bei seiner Suche nach den Gründen für diese Amnesie die Machtfantasien und die Gewaltfrage in den Mittelpunkt stellt. Doch das geschieht nicht auf die üblich denunzierende Weise. Bohrer stellt die intelligente Frage, wie es denn zur Transformation der 68er in die grün-friedlich-bewegte Richtung kam, die die Machtfrage pazifizierte.

Und Bohrer weiß, keine geschichtliche Bewegung ist harmlos. Jede will verändern. Unter dem Slogan: »Phantasie an die Macht« wollten die 68er diese Republik verändern, als sie auf dem besten Wege war, ihre Verfassung zu vergessen. Für die in der Formel von der Fantasie verborgene Machtfrage hat der Konservative Bohrer ein Gespür. Ja, wie alle Konservativen hat er ein unverstelltes Verhältnis zur staatlichen Gewalt, wenn sie vom Staat ausgeübt wird und sich zwischen Staaten ereignet.

Doch wir sprechen nicht über den Einsatz der Bundeswehr im Jugoslawien-Krieg. Für den Einsatzbefehl dorthin hat der damalige Außenminister Fischer den erstaunten Beifall der Konservativen bekommen. Für seinen Auftritt als Straßenkämpfer, damals auf dem Frankfurter Pflaster, gab es hingegen massive Kritik. Aber auch hier unterscheidet sich Bohrer wohltuend vom Gros der Konservativen. Er sieht die Disparität zwischen berittener Frankfurter Polizei und zunächst friedlichen Demonstranten. Trotzdem: Warum dieses Messen mit zweierlei Maß, warum die Erlaubnis dort, die Empörung hier? Die Spur dieser Empörung führt ins Zentrum der Wirksamkeit politischer Bewegungen. Da jede verändern will, stellt sie die Machtfrage. Tut sie das nicht, so ist sie ein Karnevalsverein.

68 war ein fantasievoller Aufstand gegen den Stillstand der Zeit. Eine beständige Tabu- und Grenzverletzung. Mit Go-ins, Sit-ins und Teach-ins provozierte diese Bewegung den Stillstand und forderte die Macht heraus. Die Rede war von der »Ausweitung der Kampfzonen«. Die Diskussion um Macht, um Gewalt gegen Sachen und nicht gegen Personen, sie fand statt. »Auf welcher Seite der Barrikade stehen wir«, das war im bleiernen Herbst 1977 keine akademische Frage. Mit dem feinen Gespür für eben diese Machtfrage geht Bohrer der Verschiebung dieser Debatte nach. Er schreibt, »wie unglaubwürdig die heutige Berührungsangst mit Baader-Meinhof oder dem Mescalero-Brief ist«. Dann folgt ein sehr gewundener, aber doch zentraler Satz, der nach der Verbindung von Gewalt und kultureller Veränderung fragt. Es habe sich »gezeigt, wie subtil miteinander verbunden sehr viele ›progressive‹ Erscheinungen jener Jahre waren und wie fern die heute nur noch denunziatiorisch verwandte Metapher von der ›Gewalt‹ damals ein Codewort zwischen Legitimität und Kriminalität … war.« Der Gegenstand, auf den diese Debatte bezogen war, das sei die »sich kulturell und psychologisch objektiv verändernde westdeutsche Gesellschaft« gewesen.(10)

Diese Differenzierung mag hilfreich sein. Hinreichend, um das Machtphänomen im politischen Prozess zu erklären, ist sie nicht. Die so genannte Römerbergrede von Joschka Fischer,(11) die eine Wende in der Gewaltfrage gegen Personen bildete, erwähnt Bohrer nicht. Aber eine Wende von was weg und auf welche Richtung hin? In die Gewaltfreiheit (Pazifismus)? Hier wird die Debatte in der 68er-Bewegung unklar. Die Akteure hatten die Machtfrage gestellt und waren auf das Gewaltproblem gestoßen.

Machtfrage und Gewaltenteilung

Hier beginnt Bohrers Fehldeutung. Einerseits nimmt er die Versuche des ökologisch-friedensbewegten Teiles der 68er für bare Münze, die eigene Geschichte zu verharmlosen. Andererseits spricht er sehr feinsinnig vom »Umschlag der bellikosen Qualitäten von 68 in die pazifistische Epoche danach«. Die bellikosen Qualitäten sind seine Metapher für den angestrebten Machtwechsel. Befragt man den Duden, so erhält man die Auskunft: Ein »Bellizist ist ein Befürworter des Krieges«. Nach Kants Einsicht finden Kriege jedoch zwischen Staaten statt und nicht in Gesellschaften. Verstehen wir demokratische Revolutionen(12) immer noch als Bürgerkriege, wie Hobbes(13) sie sich dachte, so wird aus der legitimen Frage nach der Macht innerhalb einer Gesellschaft eine Kriegsfrage zwischen Staaten.(14) Nach diesem Muster wird jeder soziale Konflikt um gesellschaftliche Macht auf die kriegerische Gewaltfrage verkürzt. Und das ist nun allerdings wieder ein sehr konservatives Denkmuster. Es fällt exakt hinter die Erfolge der Französischen Revolution zurück. Die demokratische Revolution beendet im Prinzip den fatalen Schluss, dass jede soziale Revolution als Bürgerkrieg (Hobbes) ausgetragen werden muss. An ihre Stelle setzt sie das prinzipielle Recht auf Machtwechsel und auf Gewaltenteilung.

Kant hat das so formuliert: Innerhalb von Gesellschaften leben Menschen nach dem Prinzip der Vereinigung (das republikanische Ziel), während nach dem »Völkerrecht« Staaten in »Absonderung (…also) an sich im Zustand des Krieges« leben.(15) Diese so einfache Unterscheidung wurde in dieser Klarheit weder von den 68ern noch von ihren Kritikern in ihrer prinzipiellen Bedeutung verstanden. Sonst würde die Machtfrage nicht ständig als Kriegsfrage (Bürgerkrieg) diskutiert und die Frage nach Gewaltenteilung und Machtwechsel nicht als illegitime Umsturzidee tabuisiert.(16)

So gilt es auch hier zu erinnern:

– In der Demokratie geht jede »Staatsgewalt vom Volke aus«.(17) Sie wird als Macht, durch Wahlen alle vier Jahre, vom Volke neu verteilt! So weit die Theorie unserer Verfassung.

– Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle durch das Volk sind legitim und legal (Montesquieu(18)). Parteien, die zur Macht streben und die Regierungsgewalt erobern wollen, sind unverzichtbarer Bestandteil des demokratischen Prozesses. So weit die gewünschte Praxis.

Terroristische Gewalt, wie sie in der Tat am Rande der 68er-Bewegung entstand (Bader-Meinhof-Gruppe), hat diese Bewegung abgelehnt.(19) Gleichwohl wird seit Jahren immer wieder die absurde Gleichsetzung der Gewalt der Bader-Meinhof-Gruppe mit den Protesten gegen den Vietnam-Krieg versucht. So weit die Unterstellungen.

Gegen die Stillstellung der Geschichte in Ost und West hat die 68er-Bewegung das Recht dieser und anderer Gesellschaften auf Dynamik eingefordert. Zu besichtigen war dieser Stillstand am Eisernen Vorhang. Er drückte sich aus in der Niederschlagung des »Prager Frühlings« durch die Sowjetunion. Er drückte sich auch im Versuch der USA aus, mit Hilfe der Domino-Theorie jede Veränderung in der Dritten Welt (Vietnam) mit Krieg oder mit Konterrevolution (Chile) zu beantworten. Der amerikanische Senator Fulbright schrieb damals ein viel gelesenes Buch mit dem Titel: Arroganz der Macht. Er hätte es auch: Arrogante Stillstellung der Geschichte nennen können. So weit die geschichtliche Realität damals.

Gegen die Stillstellung der Geschichte in Ost und West hat sich eine Bewegung der kulturellen Erneuerung gebildet. Unkoordiniert, unbewusst, aber mit einem feinen Gespür für das Gestrige. Der Stern hat in seiner Serie über die 68er daran erinnert, dass der Spruch: »Unter den Talaren Muff von tausend Jahren« von dem anwesenden Professor Bertold Spuler mit dem Ruf beantwortet wurde: »Ihr gehört nach Auschwitz!«(20) Vielleicht kann die nachgeborene Generation ermessen, in welchem gesellschaftlichen Klima diese Bewegung agierte. So weit der Blick auf die Widerstände.

Eine Bewegung, die derartige Verkrustungen aufbrechen wollte, war nicht harmlos. Vor allem verletzte (to harm) sie das Harmoniebedürfnis. In ihrer Dynamik wirkte ein Lebensentwurf. Er richtete sich gegen das zentrale Tabu dieser Gesellschaften. Die Tabuisierung jeder Veränderung durch die Gleichsetzung von Veränderung mit Gewalt. Sprachen die 68er von »Flower power«, so missverstand das die bürgerliche Mehrheit als Erklärung des Bürgerkriegs. Doch in einer Frage waren und sind die konservativen Kritiker wie Bohrer den 68ern voraus. Sie wussten, dass kein Niemand mit noch so viel Fantasie die Macht erringt. Es muss immer ein Jemand sein, und wenn er Schröder heißt und am Kanzlerzaun zu Bonn rief: »Ich will da rein!« Auch auf dem Weg durch die »Institutionen« stellten die 68er die Machtfrage. Sie wollten diese Gesellschaft verändern. Verschämt hat ein Teil der 68er dieses Begehren heute vergessen, während umgekehrt die konservative Mehrheit seit jenen Tagen versucht, jede gesellschaftliche Neuerung als Gewalt zu deuten.

Diesem Deutungswillen – Veränderung sei illegitime Gewalt – entsprangen letztlich alle Verdrehungen im Zusammenhang mit der Bewegung von 68. So wurden Idole erzeugt, Bilder verdreht und Stimmungen gemacht: Baader, Che Guevara, Dutschke. Alles ging durcheinander und war doch eine geschlossene, kulturpolitische Imagination. »Die wollen dir deine Lebensform nehmen!« Diese Botschaft, von der Bildzeitung millionenfach verbreitet, lebte aus der Furcht vor Veränderung. Sie ist zugleich die Grundlage eines verdeckten Kulturkampfes, der bis heute in unserer Gesellschaft ausgetragen wird. So ist 68 ein kultureller Mythos und gleichzeitig eine Chiffre für die Furcht vor Veränderung in unserer Kultur.(21)

Die Unfähigkeit zu erinnern – die falsche Scham vor dem eigenen Wollen

Greifen wir den Gedanken von Kant erneut auf. Vereinigung, um die Macht innerhalb eines Volkes zu erringen, ist ein republikanisches Ziel. Dagegen sucht die terroristische oder anarchistische Aktion die Absonderung und die putschistische Überwältigung. Sie fällt damit hinter die von Kant entdeckte republikanische Einheit des Volkes zurück.

Der Terrorismus sprach vom »Krieg gegen das Schweinesystem« (Baader). Er fiel in diesem Sinne in den Bürgerkrieg (Hobbes) zurück, weil er in geistigen Territorien dachte, die nicht zu überzeugen, sondern nur zu überwältigen waren. Alle noch so sektiererischen Kaderparteien haben nie vom Krieg gegen das Volk gesprochen. Selbst die seltsam klingende und aus China importierte Formel: »Dem Volke dienen!« ging immer von der Vereinigung aus. Jeder Flugblattverteiler vor dem Fabriktor suchte die Bewusstseinsveränderung der Arbeiterklasse. Alle Revolutionsfantasien dieser Gruppen, selbst wenn sie vom Klassengegensatz ausgingen, waren auf die »Eroberung der politischen Macht für das Volk« (Marx)(22) gerichtet. Damit war ein Damm errichtet, der gehalten hat. Er hat gehalten gegen die Versuche der Baader-Meinhof-Gruppe, in diese Bewegung einzudringen.

Doch hier vermischen und verdrängen die Mitglieder eben dieser Bewegung ihre Vergangenheit. Bei allem Revolutionsgerede hat diese Bewegung nie den Rubikon zum Krieg gegen die Mehrheit überschritten. Hier aber setzt die »Berührungsangst« (Bohrer) mit der Machtfrage ein. Einerseits entspringt sie einer Verdrehung der Macht- in die Gewaltfrage und andererseits entspringt sie aber auch der Unterstellung, dass jeder gesellschaftliche Veränderungswille illegitim sei.

In ihrer grün-pazifistischen Hinwendung haben viele 68er einen politischen Mechanismus entdeckt, den sie zu einem Fluchtweg aus der eigenen Geschichte umgestalteten: den Zwang der Verhältnisse. Der Gedanke ging so: Wenn sich die Bundesbürger schon nicht zu gesellschaftlichen Veränderungen bewegen lassen, so werden sie dazu infolge der List der Natur gezwungen. Getrieben durch die Folgen ihrer Naturzerstörung erkennen sie schließlich doch, dass sie ihre Gesellschaft verändern müssen. Über diese Brücke ist in der Tat ein großer Teil der 68er-Bewegung ins grüne Milieu gewechselt.

Diese Transformation hat zu zwei Vergesslichkeiten geführt. Die erste betraf die eigene Geschichte. Die zweite einen Grundsatz der Politik. Selbst die Öko-Bewegung musste Politik machen, musste gestalten und irgendwie die Machtfrage stellen. Der Weg in die Parlamente war vorgezeichnet. Damit aber auch die Gefahr der Entsorgung der persönlichen Verantwortung für gesellschaftliche Veränderungen über den Wahlschein. Die 68er-Bewegung ist im Urnengang einen zweiten, scheinbar harmlosen Tod gestorben. Doch damit haben sich die 68er aus ihrer Bewegung verabschiedet, ohne zu bemerken, dass ihr Projekt trotzdem weiterlief, auch noch an der Grünen Partei vorbei.

Hier beginnt nun der eigenartigste Teil der Geschichte der 68er-Bewegung. Sie verschwindet und steht doch immer wieder auf. Einerseits verschwindet diese Bewegung im Alltag der Republik, andererseits taucht sie in ihren Problemen wieder auf. Die Erinnerungsliteratur von einigen ihrer prominenten Vertreter (Fischer, Strasser, Langhans) ist nur ein Hinweis.(23)

Es sind die Themen von damals, die bis heute an Dringlichkeit nicht verloren haben, wie die Existenz von Attac(24) beweist. Irgendwie scheint alles mit 68 zusammenzuhängen, aber irgendwie weiß doch keiner so recht, wie es mit diesem Phänomen weitergehen soll. So oszilliert die Formel von 68 zwischen politischer Verantwortung und einem Mythos, den man vergessen will.(25)

Sind wir doch endlich selbstbewusst genug, zu unseren Fehlern und Erfolgen so zu stehen, als wären sie lebendig. Nicht tot und abgetan. Lebendig und zum Streiten. So wie sich andere reife Völker auch über ihre Geschichte streiten und sie gerade dadurch lebendig halten. So sollten auch wir unsere Geschichte lebendig halten, gerade weil wir uns nicht einig sind.

Sich mit einer Revolte zu bescheiden, die vieles sehr deutsch wollte. Die davon nur weniges, aber das Wenige wirklich erreichte. Eine solche deutsche Geschichte gut zu finden, die nicht sowieso verläuft, sondern gerade deshalb, das müsste endlich unsere Sache sein. Fortsetzung folgt!

1

S. Claus Leggewie: »1968 ist Geschichte«; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B22-23/2001, S. 3 ff.

2

S. Thomas Steinfeld: »Der Scheinriese. Mythos 1968: Es wäre Zeit ihn zu beerdigen. Stattdessen wird er immer größer«, in: SZ, 27.10.07.

3

Leggewie, S. 5.

4

Karl Heinz Bohrer: »Fantasie, die keine war«, in: Die Zeit 7/01.

5

Hegel: Philosophie der Geschichte, Frankfurt am Main 1970, S. 529. »Das System des Staates erschien als eine Ungerechtigkeit. … Der Gedanke, der Begriff des Rechts machte sich mit einem Male geltend, und dagegen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten. Im Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden, und auf diesem Grunde sollte nunmehr alles basiert sein.«

6

Vgl. Joscha Schmierer: »Wider die Provinzialisierung und Verdeutschung von 68«, in: Kommune 4/07. Die Stillstellung geschah hier und jetzt, ganz existentiell durch die strukturelle Macht der deutschen Verhältnisse. So führt der Blick über die Grenze hinaus, auf die internationale Szene, auf der Ebene der persönlichen Betroffenheit wieder zurück auf den Einzelnen. Er war betroffen und er begehrte auf. Anders kann man die Antriebe, die Wut auf die Verhältnisse und die Entschlossenheit sie zu ändern, nicht verstehen.

7

Der Prager Frühling 68 verstand sich von Anbeginn an als politische Bewegung. Dort hat man von der Hnutí 68 gesprochen, was Bewegung 68 heißt. Nie war von einer Generation 68 die Rede.

8

Vgl. Max Weber: Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist, Stuttgart 1968, S. 361. Weber weist auf den Zusammenhang zwischen Beruf als Arbeitsverhältnis und geistigem Selbstverständnis als handlungsleitendes Gefühl und Wissen einer Berufung hin.

9

Siehe FN 3.

10

Ebd.

11

S. das Interview mit Joschka Fischer: »Halten wir fest: Die 68er sind an allem schuld«, in: Tagesspiegel, 30.12.07.

12

Nicht nur die »Französische Revolution«, auch die »friedliche Revolution« 1989, die »orange Revolution« in der Ukraine, die »Nelkenrevolution« in Georgien sind damit gemeint. Alles Massenbewegungen, die die herrschenden Machtverhältnisse umgestützt haben.

13

Hobbes hat in einer »kühnen Reduktion … die Willensfreiheit« bestritten und aus dem »Willen zur Selbsterhaltung« eine Lehre vom Naturzustand entwickelt, in dem die Menschen in ständigem Kriegszustand leben (bellum omnium contra omnes), siehe Hans Maier: »Thomas Hobbes«, in Politische Denker, München 1975, S. 137–139. Um diesen Kriegszustand zu beseitigen, müssten die Menschen sich zum Staat entschließen (Gesellschaftsvertrag). Dabei ist Hobbes der Fehler unterlaufen, dass sie schon ein Staat sein müssen, um einen Krieg zu führen. Auf dieser Einsicht baut Kants Kritik an Hobbes auf. Die Gesellschaftsbildung kommt über die inneren Notwendigkeiten voran. Die Vernunft zur Staatengründung ist nur die Metapher für diesen Prozess.

14

Diesem Missverständnis sitzt auch heute noch die amerikanisch-konservative Politikwissenschaft auf. Das Buch von Robert Kagan: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, lebt von der Idee, die Europäer leben mit Kants Idee vom »ewigen Frieden« auf der Venus, während die Amerikaner »die anarchische Hobbes Welt« akzeptieren und daraus die geeigneten Schlüsse für Krieg und Bürgerkrieg ziehen. Dass sie mit dieser historisch überholten Theorie den irakischen Teil der Welt in den »Mars« verwandeln haben, ist leider das bittere Ergebnis dieser Weltsicht.

15

Kant versteht unter dem Begriff vom Volk, nach den Grundsätzen der Vernunft, die Idee der Vereinigung. Obgleich dort »unfriedliche Gesinnungen« existieren, ist doch das allgemein anerkannte Ziel, »sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nötigen und so den Friedenszustand … herbeiführen«. (S. 146) Im Gegensatz dazu setzt »die Idee des Völkerrechts … die Absonderung … benachbarter Staaten voraus«. Und ein »solcher Zustand (zwischen Staaten) ist an sich schon ein Zustand des Krieges«. Kant: Zum ewigen Frieden (1795), 2. Abschnitt, Hamburg 1964, S. 146–147. Die Überwindung des Bürgerkrieges geht bei Kant auf die Idee der Vereinigung zu einem Volksinteresse zurück. Die Gesellschaft kann nicht in verschiedene Staatsgebiete oder Staatskörper gespalten werden. Diese große Klammer war für das 19. Jahrhundert die Vernunftidee. Hobbes, der noch voll im Feudalismus lebt, denkt den Staatskörper repräsentiert im Körper des Souveräns. Und da kann es konkurrierende Adelslinien in einem Land geben (Tudor, Stuart). Die Differenzierung von Krieg und Bürgerkrieg – im Sinne Kants – macht er nicht.

16

Das betrifft die deutsche Revolution von 1848. Als Konsequenz muss nicht nur der Sieg des preußischen Militarismus und der Krieg gegen Frankreich 1870/71 angesehen werden. Auch der 1. Weltkrieg ist bei einem Sieg der demokratischen Revolution von 1848 zumindest in dieser preußischen Form nicht denkbar. Wer im 19. Jh. die Revolutionen verpasste, der musste die Konterrevolutionen erleben.

17

Grundgesetz, Art. 20 (2). Absatz 3 wird die Gewaltenteilung festgelegt und in Abs. 4 das »Recht auf Widerstand« gegen alle Angriffe auf die demokratische Ordnung.

18

Montesquieu: Vom Geist der Gesetze (De l’Esprit des lois/ 1748). Hier heißt es: »Um den Missbrauch der Macht zu verhindern, muss vermöge einer Ordnung der Dinge die Macht der Macht Schranken setzen.« (Buch XI 4)

19

Die »Rote Armee Fraktion« hat immer wieder versucht, die Differenz zwischen anarchistischer Aktion, die auf die Errichtung eines Despotismus zielte, und der Idee einer radikaldemokratischen Massenbewegung, wie sie z. B. Marx im Kommunistischen Manifest formulierte, zu überbrücken.

20

So geschehen am 9. November 1987 im Audimax der UNI Hamburg. Zit. In: Stern 50/07, S. 77.

21

Nur so kann man die Warnrufe über den Kulturverfall verstehen, wie sie heute von Merz bis Diekmann erhoben werden.

22

Vgl. Das Programm des Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW). Es hat im Zentrum gerade die demokratischen Forderungen aus dem Kommunistischen Programm (Marx/Engel) von 1848. Dort ist von »der Erkämpfung der Demokratie« die Rede, allerdings nur im Zusammenhang mit der »Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse«. (Marx-Engels-Werke, Bd. 4, S. 481) Trotz dieser zeitbedingten Kampfformel geht die Forderung auf die französische Revolution zurück. Sie ist getragen von einer ideengeschichtlichen Grundströmung, die die 68er damals nicht erkannten.

23

Nachzulesen im Buch von Hannover/Schnibben: I can´t get no – ein paar 68er treffen sich und rechnen ab. Auf Nachfrage werden dort jedoch nur zwiespältige Erklärungen produziert. Man sei ja damals dabei gewesen. Was man aber politisch wollte, das wusste man damals nicht so genau. Und heute, im Rückblick? Ja, es sei schon toll gewesen, man habe ja auch was bewegt. Aber damit möchte man jetzt nichts mehr zu tun haben.

24

attac (association pour une taxation des transactions financières pour l’aide aux citoyens, dt. »Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Nutzen der Bürger«). Schon der Urspruch dieser Bewegung zeigt, dass sie aus einem Problemfeld entstanden ist, das sie längst verlassen hat.

25

Das will Bohrer sagen, wenn er in seiner Schlussbemerkung schreibt: Sie (die 68er) hätten die »Erinnerung historischer Mythen … und auch die symbolisch-mythische Ansicht der deutschen Geschichte zerstört. Infolge dieser Zerstörung ist auch das Vergessen von 68 keine bloß politische Taktik oder eine massenhaft auftretende Gesinnungsänderung. Es ist eine zwanghaft sich einstellende Bewusstseinsleere. Das Vergessen von 68 wird so zur bleibenden Erbschaft von 68.« Bohrer: »Fantasie, die keine war«, Die Zeit 7/01.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 1/2008