Balduin Winter

Der Westen und die anderen

Auf dem Weg zu einer neuen Bipolarität?

Etwa alle drei Monate steht Klaus-Dieter Frankenberger von der FAZ »auf dem Trampolin der Globalisierung« (31.8.07): Jenseits von Frankfurt vermeldet er Schwindel erregende Sprünge – Atem anhalten, ungeheure Kräfte, es verschlägt ihm (fast) die Sprache: Das gehört heute zum gängigen Vokabular. Doch findet er sie wieder und »auf der Suche nach Ordnung« (20.11.07) stellt er über den Haifischteich der Weltpolitik fest, »es bündeln sich Krisen und Konflikte in einer Dichte, wie es beileibe nicht ›normal‹ ist, dafür aber möglicherweise für Perioden des Umbruchs charakteristisch«. Iran, Russland, Pakistan, Georgien, Dauerkriege in Afrika, Islamismus, Jihadismus, Separatismus, die heiße Zone vom Maghreb bis Südasien und im Hintergrund »der Megatrend der wirtschaftlichen (und politischen) Kräfteverlagerung nach Asien ... – einiges los in der Welt«.

Frankenberger unterscheidet sich wohltuend von anderen Vertretern der Publizistik, die das Schreiben über Globalisierung zu einer Sparte der Fantasy-Literatur gemacht haben. Vom Chefingenieur der NASA, Dennis M. Bushnell, zirkuliert ein Werk, das im Wesentlichen aus Schlagwörtern und Schaubildern, jedoch aus kaum einem zusammenhängenden Satz besteht. Er lässt die Menschheit in eine schöne neue Welt der IT-Revolution, Gentechnologie und Robotisierung der Arbeit hineintaumeln, perfektioniert darin die Kriegstechnologie und macht nebenbei Arm und Reich gleich. James Canton, vermutlich nekrophober Chef einer San Franciscoer Denkfabrik, denkt sich für 2015 die Lebenserwartung der Menschen mit 100 Jahren aus. Wahrsagerei wirkt dagegen wie exakte Wissenschaft. Thomas Friedmans Bestseller Die flache Welt scheint in diesen Kreisen gut angekommen zu sein, denn Multimanager und Roland-Berger-Berater Stephan Magnus zitiert ihn gern, wenn er Banker und Börsianer für die Zukunft fit macht. Kernsatz seiner Studie: »Unser zukünftiges Spielfeld ist eine extrem reiche, globalisierte Welt.« All diesen Utopismen gemeinsam ist das Fehlen jeglichen Konfliktbewusstseins, kein Gedanke an politische Widersprüche und Krisen trübt den utopistischen – eigentlich: weltflüchtigen – Fortschrittsgedanken.

Etwas aber verbindet sogar die Drei-Groschen-Ecke mit der seriösen Analyse: Die Wirkungsmacht der Globalisierung als tatsächlich globale, Welt umspannende. Es gibt nur eine Welt; wenn auch Michael Stürmer schon mal für Nordkorea die rote Karte bereithält (Welt, 19.12.07), widerlegt ihn die jüngste Entwicklung um dieses Land. Eine Welt, deren Zerklüftungen ihm, ähnlich wie Frankenberger, Sorgen bereitet: »Eine Welt ohne Weltordnung, und Europa mitten darin, kann nicht ewig warten auf die Antwort.« Stürmer erinnert an 1947, an eine ähnliche Phase großer Unordnung, als man sich auch, wie heute, die Frage stellte: »Gibt es den Westen noch?« Damals, in einer freilich historisch ganz anderen Situation, konnte diese Frage positiv und bezogen auf Europa wesentlich mit dem, was man heute »soft power« nennt, gelöst werden. Dagegen mehren sich heute die Zweifel trotz einer gesicherten Ausgangsposition.

Man kann einen weiten Bogen ziehen von George Bush sen. als historischem Sieger der Ost-West-Konfrontation über die »konservative Revolution« in den USA zu ihrer neokonservativen Formierung, gewissermaßen Wurmfortsatz und »Internationale« der republikanischen Schmelzmasse der Achtzigerjahre. Diese wollten den Schwung der Umwälzungen nutzen und dabei doch »die Zeit anhalten«, denn »die Zeit ist gegen uns«, so George W. Bush sibyllinisch wenige Tage nach den Terrorakten vom 11. September. Aber kann »die Zeit« gegen jemanden sein? Dieser Eindruck mag entstehen, wenn jemand ihre Zeichen nicht richtig deutet. – Das Ende der Geschichte eines Francis Fukuyama (der inzwischen andere Denkpfade beschreitet) steht ebenso für diesen Bogen wie Samuel P. Huntingtons The Clash of Civilizations und Larry Diamonds Schriften über die demokratische Weltoffensive. Die beiden letzteren fanden ihren Niederschlag in der National Strategy of Security des Weißen Hauses vom September 2002, jener programmatischen Festlegung auf militärischen Demokratie-Export, nachträglich intellektuell unterfüttert von Robert Kagans Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung.

Dieser Bogen neigt sich nunmehr zusehends. Skeptizismus gegenüber den vorherrschenden Welt-Bildern verbreitet sich. Vermehrt wird über die Weltlage und die Rolle Amerikas in der Welt nachgedacht. Ein Schlagwort, Antithese zum »Project for The New American Century« von Cheney, Kagan, Kristol, Wolfowitz und Co., lautet: das »postamerikanische Jahrhundert«. Eine Kostprobe dessen hatte schon Walter Laqueur im Merkur (Aug. 2005) über eine Nebenfront, nämlich die – allerdings schräg gestellte – demografische Frage vermittelt. Zunächst schien sich der Diskurs auf der Ebene des transatlantischen Konflikts abzuspielen: Niedergang der USA, Aufstieg des neuartigen supranationalen Gebildes Europäische Union (Rifkins, Kupchan, Leonhard u. a.). Längst aber standen – im Hintergrund – jene Aufsteiger an, die, aus welchen Gründen auch immer, allzu leicht als »Block« zusammengewürfelt werden: die BRIC-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China) und die reichen Golfstaaten, deren Pro-Kopf-Einkommen mittlerweile das europäische übersteigt. Auch ökonomisch verbindet diese Länder nur wenig. Es ist wohl so, dass die Umwälzungen der letzten zehn Jahre alle Erwartungen und Prognosen der Ökonomen und Politologen ins Leere geführt haben. Nicht vermutete Umwälzungen spielen sich ab. Kaum jemand wagt es, längerfristige Vorhersagen zu treffen.

Steven Weber und seine Kollegen Ely Ratner und Naazneen Barma versuchen den Zustand der Welt zu beschreiben und Schlüsse daraus zu ziehen (The National Interest, 7/07). Eingangs polemisieren sie kurz gegen »binäre Paradigmen« von Autoren, die Verlaufsformen eines Widerspruchs zwischen den USA und der VR China mit möglichen Partnern da und dort und möglichen Optionen da und dort aufwerfen. Denn alles wird anders. Für die Ära nach dem Kalten Krieg, sagt Weber, gilt nicht mehr »die Erzählung von allmählicher Modernisierung und fortschreitender Integration zum Nutzen aller«. Die aufsteigenden Mächte streben nicht länger ihre Aufnahme in den Westen an. Es geht ihnen vielmehr darum, den Westen, insbesondere die USA als Führungsmacht, zunehmend irrelevant zu machen. »Es entsteht eine Welt ohne Westen.«

»Diese beruht auf einer raschen Vertiefung der Interkonnektivität innerhalb dieser sich entwickelnden Welt – im Austausch von Waren, Geld, Personen und Ideen – überraschend autonom von westlicher Kontrolle, in der Entwicklung eines neuen, parallelen internationalen Systems mit seiner eigenen charakteristischen Gruppe von Regeln, Institutionen und Währungen. ... Die aufstrebenden Mächte haben begonnen, eine alternative institutionelle Architektur und eigene Modalitäten von Governance zu artikulieren, die das Gerippe ihrer eigenen, aufnehmbaren und in den Augen vieler Länder vom Rest der Welt legitimen politökonomischen Ordnung bilden.«

Kritisiert wird von den Autoren Robert Zoellicks Begriff »responsible stakeholder«, der für den Fall China den Prozess wachsender Annäherung bei fortschreitender kapitalistischer Entwicklung und sich formierender, demokratiebereiter Mittelschichten als modellhaften Assimilationsvorgang beschreibt. »Sich an eine US-amerikanisch geführte großzügige Weltordnung anzupassen ist nicht attraktiv«, behauptet Weber mit Verweis auf grundlegende historische Unterschiede in den Aufstiegsgeschichten Großbritanniens, Deutschlands, der USA und Chinas. Es sind vor allem ökonomische Beispiele, Grundstoff- und Infrastrukturgeschäfte großen Umfangs zwischen China und anderen aufsteigenden Ländern, Dokumente enormen Wachstums gegenüber einem müde gewordenen Westen. Damit werde die Grundlage neuer Verbindungen gelegt, der Westen mehr und mehr an den Rand gedrückt, ins Zentrum rücken die aufsteigenden Mächte, allen voran China, »die Werkbank der Welt«.

Allmählich fragt man sich, ob der Aufstieg des britischen Empires wirklich nur von eifrigen Händlern bewirkt wurde. Denn das Politische kommt bei Steve Weber und seinen Kollegen zuletzt; doch es kommt als krönendes Problem. Sie präsentieren die »unverletzbare Souveränität in der Welt ohne Westen« als Hauptwiderspruch zum modernen großzügigen Internationalismus«, womit politisches oder militärisches Eingreifen in die Angelegenheiten des Staates gemeint ist. Jetzt geht es um die Universalität westlicher Werte, ihrer Grundlagen und Umdeutungen seit dem Westfälischen Frieden. Damit sind sie in der Rüstkammer des Westens, im großen Komplex Gesellschaft-Staat-Individuum angelangt und handeln Religion, Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte ab. Demgegenüber verhält sich die Welt ohne Westen ziemlich ignorant, ihre Staaten seien lediglich ein »Marktschauplatz zur Erfüllung von Verträgen«, alle Aussagen über Individualismus und Rechte machen wenig Sinn. »China hat den Individualismus als wirtschaftliche Ideologie angenommen ohne jenen demokratischen Anteil, den Amerikaner als selbstverständlich erachten. Aus ›Ein Mann, eine Stimme‹ wird ›Ein Mann, ein Handy‹.«

Schließlich wird »ein schmutziges Geheimnis« gelüftet: Die westlichen Ideen seien niemals tief in Psychologie und Politik der Länder außerhalb des Westens eingedrungen. Schon während der Ära des Kalten Krieges hätten diese Länder viele Entwicklungen gar nicht dem Westen, sondern illiberalen Ländern zugeschrieben, jetzt sinke der Einfluss der USA erst recht.

Die Autoren erwägen schließlich verschiedene Umgangsweisen mit der Welt ohne Westen. Nur kurz wird auf »aggressive« Lösungen eingegangen, Vorgehen gegen Schwachstellen der Aufsteiger, Ausnutzen möglicher Spaltungslinien, doch mit »unerschwinglichen Kosten und Risiken« muss gerechnet werden. Eine weitere Möglichkeit wäre die Reduktion der Attraktivität der Welt ohne Westen: Schutzzölle, Wirtschaftskrieg, Nationalismus, besondere Treueprämien für treue Vasallenstaaten. Auch das würde enorm teuer werden und die globalen Beziehungen zum Zerreißen anspannen. Und auf Kosten der Freiheit gehen.

Leben und leben lassen hieße die Alternative, »ohne die Welt ohne Westen für das, was er ist, zu akzeptieren«. Es wird Verbindungen geben, die genutzt werden können, Interdependenzen, um globale Probleme wie die Klimaerwärmung zu lösen. »Die Welt ohne Westen ist natürlich nicht mehr als ein monolithischer Block wie auch der Westen selbst.« Das kann pragmatisch werden, muss nicht in Kriegen enden, ist aber, was es ist: Bipolarität.

Gesellschaftliche Entwicklung verläuft in keiner Weise rational, insbesondere folgt sie nicht einem überindividuellen Prinzip: Sie ist ungeplant, aber dennoch gerichtet und strukturiert. So lässt sich ein grober Extrakt aus Der Prozess der Zivilisation von Norbert Elias ziehen. Er erinnerte nachdrücklich daran, dass man die Entwicklung von Gesellschaft nur verstehen kann, wenn man lange Zeiträume in die Betrachtung einbezieht, »nicht wenige Jahre, nicht Jahrzehnte, sondern viele Jahrhunderte«. Darauf verweist auch Manuel Castells in seinen Anmerkungen zur chinesischen Zivilisation (Informationszeitalter, 1. u. 3. Bd.), wenn er den Aufstieg Chinas unter dem Aspekt des »Wiederanknüpfens« betrachtet. Da könnte sich manche Aufgeregtheit lockern, statt neue Barrieren hochzuziehen.

China hat lange gebraucht, bis es – vom Westen – das Angebot der schönen neuen Warenwelt angenommen hat. Zuvor hat es mit der nationalen Amalgamisierung des westlichen Marxismus sehr zwiespältige Erfahrungen gemacht, die noch bei weitem nicht verarbeitet sind. Das Angebot der Demokratie und ihrer spezifischen Adaption steht im Raum. Das wird dauern. Umgekehrt hat »der Westen« auch einiges bei sich zu bearbeiten. Castells nennt die »außerordentliche Kluft zwischen unserer technologischen Überentwicklung und unserer sozialen Unterentwicklung«. Dieses Manko bezieht sich sowohl auf die neue Ökonomie, der eine soziale Seele eingehaucht werden muss, als auch auf das politische Handeln, das weit hinter dem kreativen »Ich denke, also erfinde ich!« hinterherhinkt.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 1/2008