Peter Lohauß

Parteienkonstellationen im Wandel

Programmatische Krisen und die soziale Gerechtigkeit als »Leitkultur«

Die deutsche Parteienlandschaft wandelt sich. Die Grünen haben sich etabliert, nun ist die Linke dabei, sich in klar umrissenen Milieus zu situieren. Ihrem Aufstieg liegt ein Erosionsprozess der SPD zu Grunde. Sie hat sich in der zentralen Frage der Deutschen, der sozialen Gerechtigkeit, weit von alten Idealen wegbewegt. Die CDU/CSU hat nach ihrer Fast-Wahl-Niederlage den Charme des Sozialen wieder entdeckt. Unser Autor zeigt, wie sehr die Einstellungen in der Bevölkerung und die Vorstellungen der Parteien in der Wahrnehmung der realen Verhältnisse differieren. Aus dem Versuch der Parteien, ihre Politik um Gerechtigkeitsfragen zu gruppieren, folgen auch Annahmen über mögliche oder wahrscheinliche Mehrheitsbildungen und Koalitionen.

Die Veränderungen in der bundesdeutschen Parteienlandschaft verliefen langsam, aber stetig. Im Unterschied zu unseren Nachbarländern Italien und Frankreich, ganz zu schweigen von den neuen EU-Mitgliedsstaaten im Osten, waren die Entwicklungen bei uns übersichtlich. Der Anteil der Nichtwähler wird allmählich immer größer, die beiden großen politischen Parteien erodieren sehr langsam. Nur gelegentlich bei Wahlen in den östlichen Bundesländern wird angesichts der geringen Wahlbeteiligung die Frage aufgeworfen, wie repräsentativ die politischen Parteien überhaupt noch für den Wählerwillen sind.

Im Jahr 2005 kam es jedoch zu einem raschen und unvermuteten Umschwung in den politischen Grundkonstellationen des gewohnten Parteiengefüges, dessen Folgen erst heute genau zu ermessen sind. Erwartbar war 2005, dass die rot-grüne Regierung, nach langen und vergeblichen Bemühungen, auf dem zentralen Politikfeld der hohen Massenarbeitslosigkeit deutlich spürbare Verbesserungen zu erreichen, zum nächsten regulären Bundestagswahltermin durch eine schwarzgelbe Regierungskoalition mit einem deutlich neoliberalen Wirtschaftsprogramm abgelöst werden würde. Durch die Ergebnisse der von Gerhard Schröder durchgesetzten vorgezogenen Neuwahlen wurde jedoch diese vorgezeichnete Entwicklung vereitelt.

Was sich bis heute in den die große Koalition bildenden Parteien abspielt, ist nun erstaunlicherweise die rhetorische Rücknahme sowohl der vormaligen Regierungs- wie der vormaligen Oppositionspositionen auf den Feldern der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Noch erstaunlicher ist, dass die Forderung nach einem Mindestlohn, die von SPD, Gewerkschaften, Unternehmern und CDU/CSU noch 2004/5 scharf abgelehnt wurde, es bis Ende 2007 auf die Agenda der Koalition geschafft hat. Und die größte Überraschung ist, dass die LINKE sich nunmehr bundesweit zur fünften Kraft im bundesweiten Parteigefüge etabliert hat und damit im Macht- und Koalitionsspiel ganz neue Bedingungen setzt.

Im Folgenden werden mit Hilfe von Ergebnissen der aktuellen politischen Wahl- und Milieuforschung(1) einige Erklärungen dafür zusammengetragen, wie dieser Umschwung zustande kommen konnte und ob es sich tatsächlich um einen Linksruck der Wähler handelt.

Änderungen im Parteiengefüge

Die für die meisten westlichen Demokratien traditionellen politischen Lager der Konservativen und der Sozialisten/Sozialdemokraten werden in Deutschland durch die CDU/CSU und die SPD jeweils als in der Substanz unangefochtene Volksparteien(2) der Mitte geschlossen vertreten. Weitere Parteien führen lediglich ein Randdasein, können aber einflussreich werden, weil durch unser Verhältniswahlrecht zum Regieren in der Regel Koalitionen gebildet werden müssen.

Im Großen und Ganzen hat es in der Geschichte der BRD nach der Verfestigung des »Drei-Parteien-Systems« in den Sechzigerjahren nur zwei wesentliche Änderungen in der Parteienkonstellation gegeben: in den Achtzigerjahren entstanden die GRÜNEN und konnten sich in der Folge dauerhaft als kleine Partei weitgehend flächendeckend über der Fünf-Prozent-Hürde bei Landtags- und Bundestagswahlen konsolidieren, und in den Neunzigerjahren entstand die PDS aus der ehemaligen DDR heraus und ist nun als DIE LINKE in ihrer Konsolidierungsphase. Beide Neugründungen entstanden am linken Rand des Wählerspektrums und demzufolge büßte jeweils die SPD einen Teil ihres Wählerpotenzials ein. Der CDU/CSU gelang es dagegen bislang immer, den rechten Rand des Wählerspektrums durch populistische Rechtswenden, insbesondere vor und in Landtagswahlen, so einzubinden, dass sich Rechtsaußen keine Partei dauerhaft in den Parlamenten halten konnte.

Die Grünen – Wandel der politischen Milieus

Die Grünen konnten sich in Westdeutschland etablieren, weil sich in den Achtzigerjahren ein postmaterialistisches, alternatives Milieu herausbildete, dessen Werte und politische Ziele von dieser Partei verkörpert wurden, während die Volksparteien dieser Entwicklung abwehrend bis feindlich gegenüberstanden. Als fest umrissenes Sozialmilieu sind »die Alternativen« in den Neunzigerjahren erodiert, aber die entsprechenden Werthaltungen und Lebensstile haben sich genügend weit über die Gesellschaft in andere Milieus hinein verbreitet, so dass immer noch hinreichend »Bedarf« für eine alternative und grüne Partei besteht. In der Nach-achtundsechziger-Zeit haben sich letztlich in der Bundesrepublik »kritische Bildungseliten«(3) etabliert, die bis heute mehrheitlich grün wählen. Daneben hält ein Teil des »engagierten Bürgertums« an den Werten von sozialer Gerechtigkeit fest, ist in Friedens- und Umweltfragen engagiert und gesellschaftspolitisch eher libertär gesinnt. Dieses Milieu steht zwar mehrheitlich den Volksparteien nahe, ein Teil von ihnen ist aber weiterhin an Bündnis90/Die Grünen orientiert. In Ostdeutschland sind beide Milieus deutlich kleiner als im Westen. Kennzeichnend für Grünen-WählerInnen ist ihr durch Bildung erworbener hoher sozialer Status, ein entsprechend hohes Durchschnittseinkommen und die Tatsache, dass ihre Werte und Lebensstile trotz ihres hohen sozialen Engagements von den Milieus am unteren Ende der sozialen Schichtungen immer noch vehement abgelehnt werden.

Die Wahlabsichten der WählerInnen für Bündnis90/Die Grünen zu Bundestagswahlen waren in nicht unerheblichem Maß von der Zufriedenheit der WählerInnen mit der SPD abhängig: Stieg die SPD bis 40 Prozent, fielen die Grünen auf 5 Prozent, fiel die SPD unter 30 Prozent, stiegen die Grünen bis auf 10 Prozent. In Hinblick auf ihr Wählerpotenzial sind die Chancen für Bündnis90/Die Grünen, weiter eine wichtige Rolle unter den bundesdeutschen Parteien zu spielen, strukturell nicht schlecht: Die Schichten mit hohem Bildungsstatus sollten tendenziell wachsen und die anhaltende politische Bedeutung der grünen politischen Schwerpunkte ist ebenfalls garantiert.

DIE LINKE – Milieuübergreifende Fundierung

DIE LINKE hat ebenso sehr wie die GRÜNEN einen bemerkenswert klaren gesellschaftsstrukturellen Hintergrund. Die Bevölkerung der DDR hatte für sich besondere Milieus mit ihnen eigentümlichen Grundorientierungen und Lebensstilen herausgebildet. Darüber hinaus bestanden auch spezifische Interessenlagen gegenüber dem »Westen«, die legitimerweise auch einen eigenen politischen Ausdruck suchten. Der wichtigste Faktor war aber wohl der besondere Verlauf der Wiedervereinigung. Da der Vereinigungsprozess wesentlich einseitiger Übernahme- und Anpassungsprozess war, ist klar, dass viel eher diejenigen, die sich als »Gewinner« fühlten, auch die bundesrepublikanischen parteipolitischen Orientierungen übernahmen, während diejenigen, die sich als Verlierer fühlten und fühlen, weiterhin einen eigenständigen politischen Ausdruck suchten. Ebenso klar ist, dass dadurch die entmachteten DDR-Eliten und die sozial Abgestiegenen auf einmal »im gleichen Boot saßen« und sich so eine recht breite Basis der PDS bilden konnte.

Wahl- und Sozialforscher beschrieben den wichtigsten Teil des Wählerstamms der PDS in unerfreulicher Deutlichkeit als »abgehängtes Prekariat«.(4) »Abgehängt« deshalb, weil die vielfach zu DDR-Zeiten gut ausgebildeten und jedenfalls sozial abgesicherten und sozial anerkannten ArbeitnehmerInnen durch die wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen des Vereinigungsprozesses Arbeit, Lebensinhalt und soziale Anerkennung verloren. Die Begriffsschöpfung »Prekariat« bezieht sich auf eine Bevölkerungsgruppe, die trotz sozialstaatlicher Übertragungen auf ein Lebensniveau an der unteren Grenze der sozialen Stufenleiter gedrückt ist. Allein aus dieser Konstellation jedoch hätte die PDS sich nicht als bundesweite Partei etablieren können, da hierfür schon allein das zahlenmäßige Gewicht der ostdeutschen Wählerschaft bei Bundestagswahlen nicht groß genug ist.

Mit der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 überstieg die neu zusammengeschlossene LINKE erstmals bundesweit deutlich den Fünf-Prozent-Bereich und ist mittlerweile in der Sonntagsfrage dauerhaft auf 10 Prozent geklettert.(5) Die Vorbereitung für diesen Erfolg war die desaströse Politik der SPD unter Schröder, die in ihrem identitätsstiftenden Kernmilieu der »bedrohten Arbeitnehmermitte« allein mit der Ankündigung der Hartz-Reformen akute soziale Ängste auslöste und schließlich ab 2005 vor allem für ältere, langzeitarbeitslose Arbeitnehmer einschneidende und überwiegend negative Änderungen durchsetzte. Hier wurden Kernelemente der sozialen Gerechtigkeitsvorstellungen massiv angegriffen, und der von Sozialdemokraten verantwortete Sozialstaat erwies sich als unfähig, nach lebenslangen Arbeitsleistungen einen auskömmlichen Lebensstandard in Würde zu erhalten. Bei gleichzeitig anhaltender, ja steigender Arbeitslosigkeit und massiv verschlechterten Startchancen der jungen Generation im Berufsleben stand dem auch keine kompensatorische Wirtschafts- oder Sozialpolitik gegenüber. Zudem kehrten sich die in der Hoffnung auf Wirtschaftsbelebung durchgesetzten massiven Steuererleichterungen für Unternehmen und Unternehmer nunmehr auch gegen die Regierung, indem die soziale Kluft zwischen denen, die aus Gewinnen und denen, die von ihrer Arbeitsleistung leben müssen, massiv zunahm.

Dass die Proteste gegen die Hartz-Reformen von der PDS benutzt werden konnten, ist klar. Bemerkenswert bleibt die politische Leistung, die WASG als Chance zur Westausdehnung zu nutzen und dies selbst unter Inkaufnahme einer Identitäts- sprich Namensänderung. Die gerade rechtzeitig gelungene Verschmelzung zur LINKEN vor der Bundestagswahl 2005 war die notwendige organisatorische Voraussetzung für eine zu erwartende nachhaltige Festigung.

Im Juni 2006 ermittelte TNS Infratest Sozialforschung bereits ein Potenzial von Parteianhängern der LINKEN von bundesweit 20 Prozent der »kritischen Bildungseliten«, 16 Prozent der »bedrohten Arbeitnehmermitte« und 28 Prozent des »abgehängten Prekariats«. Das ist bemerkenswert, weil es zeigt, dass es der LINKEN als einziger kleinen Partei gelingt, aus sozial disparaten Milieus Anhänger zu finden. Das gilt sowohl für die Linkseingestellten der »kritischen Bildungseliten«, die zuvor meist gar nicht mehr oder SPD oder GRÜNE gewählt haben, die »bedrohte Arbeitnehmermitte«, die zuvor überwiegend Nichtwähler war oder an den großen Parteien orientiert war, und vor allem für das »abgehängte Prekariat«, das zuvor resigniert war und sich kaum an Wahlen oder Politik beteiligte und das keine andere Partei auch nur annähernd so häufig erreicht. Gerade wegen dieser vergleichsweise breiten Fundierung ihrer Anhängerschaft hat die LINKE gute Chancen, sich in den folgenden Jahren als fünfte Kraft in den Landtagen und im Bundestag zu etablieren.

Soziale Gerechtigkeit als Leitkultur

Quer über alle politischen Einstellungen hinweg eint eine große Mehrheit der Deutschen eine besonders starke Betonung sozialer Werte. 83 Prozent halten »Soziale Gerechtigkeit«, 78 Prozent »Freiheit von sozialer Not«, 77 Prozent »Solidarität« und 51 Prozent »Gleichheit der Lebensverhältnisse« für wichtig oder sehr wichtig. Dagegen beläuft sich die Zustimmung für Werte wie »Selbstverantwortlichkeit« nur auf 56 Prozent und für »Leistungsorientierung« auf 50 Prozent. Das »freie Spiel der Kräfte« und das »Gewinnstreben« hält sogar nur eine Minderheit von rund einem Viertel für wichtig oder sehr wichtig. Dabei unterscheiden sich die Ergebnisse auch zwischen SPD- und CDU-Anhängern bei weitem nicht so deutlich, wie es die Parteiprogramme und die Verlautbarungen der Generalsekretäre im Vorfeld der letzten Bundestagswahlen nahe legten. Die zur Wertorientierung sozialer Gerechtigkeit gehörenden Statements werden von CDU-Anhängern lediglich zu 5 Prozent weniger häufig als bei SPD-Anhängern als wichtig oder sehr wichtig gekennzeichnet. Auch von den CDU-Anhängern bevorzugen 70 Prozent die Werte der sozialen Gerechtigkeit, aber nur 42 Prozent diejenigen der Marktfreiheit. Diese im Juni 2006 erhobenen Einstellungen sind bereits seit langem kennzeichnend für die Befindlichkeit der deutschen Wähler und wurden seit der Wiedervereinigung durch die entsprechenden Orientierungen der Ostdeutschen noch einmal verstärkt.

Die sich durch alle großen Wählermilieus hindurchziehende Betonung von sozialer Gerechtigkeit hat eine weitere, für Deutschland typische Ausprägung. Untersucht man den Wert der sozialen Gerechtigkeit in seinem Spannungs- und Konfliktfeld gegenüber Marktfreiheit näher, so ergeben sich hier eindeutige Präferenzen:

– 62 Prozent meinen, der Staat solle eine umfassende soziale Absicherung der Bürger garantieren und lediglich 18 Prozent, dass dies der Eigenverantwortung der Bürger überlassen bleiben sollte;

– 48 Prozent meinen, der Staat solle der Wirtschaft Vorgaben machen und auf deren Einhaltung dringen und nur 26 Prozent, die Wirtschaft solle möglichst frei von staatlichen Eingriffen bleiben;

– 44 Prozent halten es für das vorrangige Ziel der Wirtschaft, dem Gemeinwohl zu nützen, und nur 31 Prozent sehen das vorrangige Ziel der Wirtschaft in der Erzielung von Gewinnen.

Gemeinsam ist allen sozialen Milieus eine, wenn auch unterschiedlich begründete, allgemein negative Haltung dem Staat gegenüber sowie ein seit Jahren weiter sinkendes Vertrauen in das politische System und in erster Linie die politischen Parteien. In offenem Widerspruch hierzu ist gleichzeitig in allen gesellschaftlichen Schichten eine stark fordernde Haltung dem Staat gegenüber zu finden – übrigens auch bei denen, die überhaupt keine sozialen Probleme haben. Ein nunmehr jahrzehntelanges publizistisches Trommelfeuer über leere Staatskassen, demografische Krisen und Globalisierungszwänge hat an der Anspruchshaltung dem Staat gegenüber kein bisschen geändert, vielmehr werden diese Haltungen mit noch größerer Vehemenz und gleichzeitig ausgeprägterer Resignation hinsichtlich ihrer Verwirklichung vertreten.

Die Parteien gelten – auch dies in deutlichen Widerspruch zu den obigen Meinungen – gleichzeitig als Dienstleistungsorganisationen für spezifische Alltagsbedürfnisse, deren Funktionieren in einer diffusen Art mit dem demokratischen System zusammenhängt. So wird Politik, soweit sie überhaupt wahrgenommen wird, ganz pragmatisch immer stärker nur noch daran gemessen, was sie dem eigenen Geldbeutel bringt oder wie weit sie ihm schadet. Das wird immer wieder deutlich, wenn politische Veränderungsvorschläge in der medialen Öffentlichkeit kaum mehr auf ihre Inhalte abgeklopft werden, sondern lediglich auf echte und vermeintliche monetäre Vor- oder Nachteile für die jeweiligen Interessengruppen hin diskutiert werden.

Fehler von Rot-Grün

Bei der Untersuchung der Bewertungen der Reformen der rot-grünen Koalition kommt die Friedrich-Ebert-Stiftung zu einem ernüchternden Ergebnis: In allen Untersuchungsteilen wird herausgestellt, dass die Hartz-Reformen als Synonym für den sozialen Abstieg wahrgenommen werden, die Gesundheitsreform als Paradebeispiel einer sozial unausgewogenen Reform gesehen wird und insgesamt die Reformbemühungen überhaupt nicht als spezifisch sozialdemokratisch gelten. Dabei verstärkte der verunglückte Kommunikationsprozess noch die soziale Spaltung: Die Koalition erklärte die bisherige Verteilungspolitik faktisch als beendet, sei es aus Mangel an Mitteln, sei es wegen unvermeidlicher Reformen. »Daraus zogen bestimmte Gruppen den Schluss, ihre Ansprüche nun verteidigen zu müssen. Die um die Sicherung ihres Besitzstandes fürchtende ›neue Mitte‹, aber auch die alten Mittelschichten, begannen, gemeinsam ihre Ansprüche zu verteidigen. Dabei setzten sie unter anderem deshalb auf die großen Parteien, weil diese mit ihrer Parole, dass Wahlen ›in der Mitte‹ gewonnen werden würden, bereits eine Vorentscheidung hinsichtlich ihrer Zielgruppen getroffen hatten. Die Parteien wiederum, sowohl die eine, die vorgab die neue soziale Mitte zu vertreten, als auch die andere, die in der ›alten Mitte‹ ihr wichtigstes Klientel sah, beeilten sich daraufhin zu erklären, dass sie weiterhin die Interessen der neuen – und damit die der alten – Privilegierten vertreten würden. So verlor der tradierte, die Bedürftigen und die unteren sozialen Schichten begünstigende Reformbegriff seine bisherige Bedeutung – und beide großen Parteien jeweils einen Teil ihrer bisherigen Anhängerschaft. Das untere soziale Drittel des Wahlvolks, das zeigen die Ergebnisse deutlich, betrachtet sich von der politischen Kommunikation entweder nicht angesprochen oder gezielt ausgeschlossen.«(6)

Der allmähliche Ausschluss gerade derjenigen Schichten aus der politischen Kommunikation, zu deren Gunsten eine Politik der sozialen Gerechtigkeit zuförderst betrieben werden muss, ist ein zentrales Ergebnis der Regierungstätigkeit einer Sozialdemokratie, die den Kontakt zur sozialen Realität in dieser Hinsicht verloren hat, und der GRÜNEN, die für gerade für diese Schichten seit jeher nur ein Negativ- und Schreckbild darstellen und deshalb trotz allen sozialen Engagements hier weitgehend kommunikationsunfähig sind.

Eine Rolle mag dabei auch spielen, dass die Wahrnehmung von sozialer Gerechtigkeit durch Politiker sich deutlich von der der Bevölkerung unterscheidet. In einer Befragung 2006 hielten 56 Prozent der Bevölkerung die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland für ungerecht, dagegen waren nur 28 Prozent der Mandatsträger im Bundestag der gleichen Einschätzung.(7) Allerdings meinten 90 Prozent der Bundestagsabgeordneten der GRÜNEN und 67 Prozent der SPD, dass im Ergebnis der Regierungstätigkeit von Rot-Grün die soziale Gerechtigkeit abgenommen habe. Demgegenüber hatten 43 Prozent der CDU- und 50 Prozent der FDP-Abgeordneten den Eindruck, die soziale Gerechtigkeit habe unter Rot-Grün zugenommen. Auch dies zeigt, dass die Bundestagsparteien im politischen Richtungskampf weiträumig an den tatsächlichen sozialen Verhältnissen und an den Wahrnehmungen ihrer eigenen Wählerklientel vorbeizielen.

Fragt man nach der Gerechtigkeit der Einkommensverteilung, hält sich zwar eine Mehrheit der bundesdeutschen Berufstätigen selbst für gerecht entlohnt, aber nur 23 Prozent der Befragten halten die Managergehälter und nur 29 Prozent die Hilfsarbeiterlöhne für gerecht.(8) Wenn es um Gehälter von Managern geht, wird in der Bevölkerung schon seit langem und nicht erst seit der »Mannesmann-Affäre« und den daran anschließenden Mediendebatten eine ausgeprägte Gerechtigkeitslücke verspürt. Mit zunehmendem Ausmaß an wahrgenommener Ungerechtigkeit in Bezug auf das eigene Einkommen tendieren die befragten Erwerbstätigen dazu, bei der Sonntagsfrage anzugeben, sie würden sich eher nicht an der Wahl beteiligen. Die Untersuchung kommt Ende 2004 zu dem Schluss: »Wenn es um die Frage der Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft geht, so ist es offenbar nicht nur wichtig, wie der Zugang zu gesellschaftlich begehrten Positionen gestaltet ist, sondern auch, mit welchen Vorteilen diese Positionen am Ende ausgestaltet sind. Verengt man soziale Gerechtigkeit allein auf die Dimension der Chancengerechtigkeit, so läuft man Gefahr, das Gerechtigkeitsempfinden breiter Bevölkerungsschichten, das auch die Ebenen der Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit einschließt, zu verletzen. Gerade darin besteht jedoch ein zentrales Problem, dem die politischen Entscheidungsträger derzeit in Deutschland gegenüberstehen: Strukturelle Reformmaßnahmen laufen dann Gefahr, nicht realisiert werden zu können, wenn sie den traditionell herausgebildeten Gerechtigkeitsempfindungen der Wählerinnen und Wähler mit großer Mehrheit widersprechen.«(9)

Die ausgeprägte politische Wechselstimmung gegen die rot-grüne Koalition entstand, weil die Mehrheit der Bevölkerung sie als unmittelbar verantwortlich für eine immer weiter aufreißende Gerechtigkeitslücke ansah, bei gleichzeitiger Beschneidung der eigenen Chancen durch hohe Arbeitslosigkeit, gedämpfte Einkommensentwicklungen und Abbau sozialer Leistungen und Rechte. Da sich diese Situation aber erst im Laufe der Legislaturperiode deutlich öffentlich und politisch artikulierte, war die damalige Opposition quasi in der Falle zwischen einer in diesem Punkt noch viel schlimmeren Programmatik und dem herannahenden Wahltermin.

Die Kehrtwenden in der Großen Koalition

Vor diesem Hintergrund war der Kurs der CDU-Führung, der sich 2003 im neoliberal getönten Leipziger Programm niederschlug, einigermaßen kühn und im Grunde mehr dem ideologischen publizistischen Trommelfeuer einer eher einflussreichen als großen Gruppe von neoliberalen Interessenvertretern geschuldet als klugem parteitaktischem Kalkül. Bedenkenswert ist auch, dass die CSU diesen Kurs nie voll mitgetragen hat, nicht zuletzt, weil bei ihr die Rückbindung an die Interessen der Parteimitglieder besser funktioniert als bei der großen Schwesterpartei.

Aber mit gar nicht so langer Verzögerung hat auch die CDU reagiert. Angetrieben vom Schock der fast verlorenen Wahl 2005 stellte das neue Grundsatzprogramm von Ende 2007 das Wort »Gerechtigkeit« in den Mittelpunkt – allein 35 Mal wird sie dort beschworen, auch gern erweitert zur Familien-, Chancen-, Leistungs- und Generationengerechtigkeit. Nur das Wort »christlich« komme noch häufiger vor, hat Heribert Prantl in der SZ ausgezählt. Zusammen mit der Gerechtigkeit steht meist die »soziale Marktwirtschaft« (26 Nennungen), die die CDU weltweit durchsetzen möchte. Grundlage der CDU-Politik bleibt das christliche Menschenbild, aus dem sie die Grundwerte Solidarität und Gerechtigkeit sowie Freiheit ableitet. Gerade in diesem Zusammenhang wird dann der Begriff der »deutschen Leitkultur« auf die Höhe des Grundsatzprogramms gehoben. Dies alles geschieht auf dem Grundsatzprogrammparteitag in Hannover unter einem riesigen Schild mit der Aufschrift »Mitte«. Das heißt nur, dass die CDU seit dem Leipziger Parteitag, angestoßen durch die beinahe verlorene Wahl, gemerkt hat, dass die Mitte für einen neoliberalen Kurs nicht offen zu gewinnen ist.

Auch die SPD hat bis Ende 2007 ihren Canossagang angetreten und mental Abschied von der Agenda 2010 genommen. Das ließ sich einmal grundsätzlich und weitgehend unverbindlich bei der Formulierung des Grundsatzprogramms machen. In letzter Minute wurde in das neue »Hamburger Programm« wieder der Begriff »demokratischer Sozialismus« eingeführt. Wie weit das Ersetzen von Schröders »neuer Mitte« durch »solidarische Mehrheit« eine andere Politik signalisiert, muss hier nicht diskutiert werden. Wichtiger war, dass der Beschluss zur Wieder-Verlängerung des Arbeitslosengeldes für Ältere ein positives Signal in Richtung der am meisten durch die Agenda-Politik gebeutelten Zielgruppe geben sollte. Dabei nahm man offenbar in Kauf, dass gleichzeitig auch eine zentrale Intention der Hartz-Reformen konterkariert wurde: dass nämlich nachhaltige Sozialpolitik nicht darin bestehen sollte, möglichst lange Nicht-Arbeit zu alimentieren, sondern den Ausschluss aus der Arbeitswelt zu vermeiden oder zu verkürzen. Trotz deutlicher empirischer Nachweise auf leichte Erfolge gerade in dieser Beziehung war den Genossen ein politisches Beruhigungssignal wichtiger. Der Rückzug von Müntefering und die Konsolidierung der Stellung Becks als Parteivorsitzender sind weitere Anzeichen der Absetzung von der Agenda 2010, ohne dass jedoch daraus eine neue politische Linie erkennbar wird.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Debatte um den Mindestlohn. Auf der einen Seite bewegt sich die SPD hier wieder nach langer Zeit in ihren traditionellen Bahnen, indem sie lautstark für die Interessen auch wenig verdienender Arbeitnehmer eintritt. Das Eintreten für eine Allgemeinverbindlichkeit eines Verdi-Tarifvertrages mit der Post, einem quasi noch staatlichen Monopolisten, und somit eines unteren Tariflohns von 8,00 Euro bis 9,80 Euro liegt ganz auf gewohntem Terrain wie zum Beispiel beim Entsendegesetz und bezweckt hier wie dort in erster Linie den Schutz der gewerkschaftlich organisierten Stammbelegschaften gegen ausländische und sonstige unterprivilegierte Arbeitnehmer. So notwendig dies im Einzelfall sein mag, so wenig setzt es sich mit den gravierenden sozialen Problemen auseinander – dem wachsenden sozialen Ausschluss und der Unfähigkeit der Sozialsysteme, darauf angemessen zu reagieren. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn – der von Experten eher in der Höhe von 4,50 als von 9,80 angesetzt wird – ist zwar mittlerweile dringend erforderlich, bedeutet doch aber politisch nichts anderes, als dass endgültig die Zerschlagung des bundesrepublikanischen Systems der allgemein verbindlichen Flächentarifverträge akzeptiert wird, eben des Systems des sozialen Ausgleichs, für das in der Vergangenheit vor allem die SPD politisch einstand und das den relativen Wohlstand der westdeutschen Arbeitnehmer garantierte. Der Mindestlohn ist in Deutschland ein großer Schritt auf dem Weg des oft als Folge der Globalisierung beschworenen Umbaus der Sozialsysteme und markiert die Armutsgrenze für einen großen Teil nichtprivilegierter Arbeitnehmer. Insofern deuten auch die jüngsten Verlautbarungen keineswegs auf eine wirkliche Rücknahme der Agenda 2010 oder des Kurses zum Umbau des Sozialstaates hin.

Mit Blick auf die Wähler haben sich die rhetorischen Wenden der Sozialdemokraten auch noch nicht ausgezahlt: Zur Jahreswende fiel Beck im Vergleich zu Merkel bei der Frage nach der Wahlabsicht bei einer fiktiven Direktwahl zum Bundeskanzler auf 18 Prozent gegen 55 Prozent zurück. Dagegen wünschen sich die Wähler fast verzweifelt von der Großen Koalition mehr soziale Gerechtigkeit und gleichzeitig glauben sie nicht, dass diese Erwartung erfüllt wird.(10)

Programmatische Krise und offene Zukunft

Die Entwicklung seit der Bundestagswahl 2005 kann man dahingehend zusammenfassen, dass in der Politik – und auch in großen Teilen der Medien – die Rhetorik der neoliberal getönten Reformen deutlich zurückgenommen wurde, ohne dass die grundlegende Weichenstellung verändert wurde.

Die SPD steckt in einer fortdauernden programmatischen Krise. Aus allen ihren Traditionen und ihrem innersten Selbstverständnis heraus ist sie die Partei der solidarischen Unterprivilegierten, die sich ihren gerechten sozialen Anteil an der Gesellschaft erkämpfen. Sie gehörten immer zu den Opfern des kapitalistischen Systems und sie erreichten mit Reformen ihren gerechten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum. Diese Formeln gehen schon lange nicht mehr auf – wesentlich deshalb, weil dies eine erfolgreiche Strategie war und die ehemals Unterprivilegierten heute zur Mitte und zu den Oberen einer vergleichsweise reichen Gesellschaft gehören. Ihren Zusammenbruch musste diese Identifizierung erleben, als im Wiedervereinigungsprozess plötzlich die Opfer aus dem Osten den westdeutschen Gewinnlern gegenüberstanden, und die SPD nie eine Einstellung hierzu entwickeln konnte. Genauso problematisch ist es, dass plötzlich im Rest der Welt nicht mehr noch unterprivilegiertere Opfer des Kapitalismus auf unsere Entwicklungshilfe und Solidarität warten, sondern dass von unseren nächsten Nachbarn im Osten bis hin zu den Schwellenländern in Asien und Lateinamerika die ehemals Unterprivilegierten als Konkurrenten auf den Arbeits- und Warenmärkten auftreten. In der diffusen Gemengelage der Globalisierung ist der SPD die Vorstellung davon verloren gegangen, wer sie ist und wen sie vertritt. Was hält die jetzt beschworene »solidarische Mehrheit« zusammen? Ist sie Gewinner oder Opfer der Globalisierung? Für wen tritt sie solidarisch ein? Wer vertritt diejenigen, die nicht dazugehören? Wenn die SPD keine Antworten auf diese Fragen findet, wird ihre innere Erosion weitergehen, denn eine Art der Opfersolidarität machte ihren inneren Identifikationskern aus, und dieser kann nicht durch tagesaktuelle Themen ersetzt werden.

In der jetzigen politischen Lage hat die LINKE leichtes Spiel. Ihre Haupt-These, dass die Reichen für alles nur Wünschbare doch leicht bezahlen könnten, wird von vielen geglaubt. Sie vertritt zudem einen Teil der Opfer authentisch. Es ist leicht abzusehen, dass der SPD mittelfristig nichts anderes übrig bleibt, als mit dieser Partei, die in keinem Punkt etwas anderes vertritt als ihr eigener linker Flügel, irgendwie zusammenzugehen. Es ist schon überraschend, wie hartnäckig der im Rahmen der beschränkten Möglichkeiten große Erfolg der Berliner rot-roten Koalition in der Hauptstadt im Rest der Republik übersehen und geradezu verdrängt wird.

Zwar ist die Zahl der Nichtwähler und der politisch Resignierten mittlerweile groß genug, um daraus eine durchaus bedeutende Partei zu gewinnen, aber sie stehen eben nicht einfach als politisches Reservoir für die Parteien zur Verfügung. Letztlich bleibt ein Teil der vormaligen SPD-Wähler abgespalten bei den LINKEN und bei den GRÜNEN, so dass die SPD zu klein wird, um mit einer 5- bis 10-Prozent-Partei eine Regierungskoalition einzugehen. Etabliert sich die LINKE in den Landtagen, wird die SPD dauerhaft auf große Koalitionen angewiesen bleiben, wenn die SPD-Führung ihre manische Scheu vor Lafontaine nicht überwindet. Sofern auf absehbare Zeit jenseits großer Koalitionen überhaupt noch Regierungskonstellationen möglich sind, ergeben sich insbesondere für die GRÜNEN mehr und mehr offene Optionen in dem dann vielfarbigen Politpoker.

1

Gero Neugebauer (2007): Politische Milieus in Deutschland, Studie der Friedrich Ebert-Stiftung, Bonn: Dietz.

2

Angesichts der Erosion der Wahlergebnisse der großen Parteien ist mit Recht auch der Begriff »Volksparteien« in Frage gestellt worden. Solange aber beide Parteien so vehement um die Besetzung der politischen »Mitte« streiten und keine andere Partei ihnen dies streitig macht und solange die Relation zwischen »großen« und »kleinen« Parteien bei der Regierungsbildung noch so deutlich ist, kann man den Begriff noch verwenden.

3

Soziale Milieus nach TNS Infratest Sozialforschung, Juni 2006. Demnach gehören zum gesellschaftlichen unteren Drittel »Selbstgenügsame Traditionalisten« (11 %), »Autoritätsorientierte Geringqualifizierte« (7 %) und »Abgehängtes Prekariat« (8 %), zum mittleren Drittel »Zufriedene Aufsteiger« (13 %) und »Bedrohte Arbeitnehmermitte« (16 %) und zum oberen Drittel »Leistungsindividualisten« (11 %), »Etablierte Leistungsträger« (15 %), »Kritische Bildungseliten« (9 %) und »Engagiertes Bürgertum« (10 %). Die Milieus ergeben sich im Wesentlichen aus der Auswertung einer repräsentativen Umfrage mit Antworten zu Statements, die die Einstellungen zu drei Wertekonflikten messen. Diese sind »Liberalismus – Autoritarismus«, »Soziale Gerechtigkeit – Marktfreiheit« sowie »Religiosität – Säkularität«. Ausführlich in Neugebauer (2007), S. 68 ff.

4

Ebd.

5

Politbarometer, http://www.zdf.de

6

Neugebauer, a. a. O., S. 130.

7

R. Vehrkamp, A. Kleinsteuber: »Soziale Gerechtigkeit – Ergebnisse einer repräsentativen Parlamentarier-Umfrage«, in: S. Empter, R. Vehrkamp (Hrsg.): Soziale Gerechtigkeit – eine Bestandsaufnahme, Gütersloh 2007, S. 283–302.

8

S. Liebig, J. Schupp: »Entlohnungsgerechtigkeit in Deutschland? Hohes Ungerechtigkeitsempfinden bei Managergehältern«, in: Wochenbericht des DIW Berlin 47/04, http://www.diw.de

9

Ebd.

10

Politbarometer 11.–13.9.07.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 1/2008