Jörg-Michael Vogl

Staatserkundungen

Ein Plädoyer gegen die Rundum-Ökonomisierung des gesellschaftlichen Lebens

Wenn über das gesprochen wird, was vom Staat erwartet wird, muss im gleichen Zug darüber gesprochen werden, was als seine Herausforderung gesehen wird und wie dieser Horizont strukturiert ist. In den folgenden Staatserkundungen zeigt unser Autor, dass sehr grundlegende Vorstellungen über die Form der Unsicherheiten und über ihren Verlauf in der Zeit mitschwingen, wenn über staatliche Aufgaben gesprochen wird. Wenn der Staat zum Träger der Messlatte von »output« und Ökonomisierung wird hat das nichts mehr mit einer Schwäche sondern mit einer Verstigung von Alternativlosigkeit zu tun. Gegen die Sicht einer Gesellschaft »notwendiger Entwicklungen« gilt es die Ergebnisoffenheit und Verhandlungsfähigkeit der Zukunft zu behaupten – also auch die Demokratie für die Produktion.

Lange Zeit war in der politischen Öffentlichkeit unbestritten, dass sich der Staat verschlanken und von Überforderungen entlasten müsse, schon notgedrungen aus Finanznot, aber auch um Bürokratien abzubauen, effizienter zu werden und die Verantwortung der Bürger zu erweitern. Umgesetzt wurde dieser Prozess als betriebswirtschaftliche Rationalisierung, insbesondere durch die Computerisierung mit ihren Zentralisierungsmöglichkeiten. Gleichzeitig war weitgehend unbestritten, dass eben diesem Staat immer mehr Aufgaben der Schaffung von innerer und äußerer Sicherheit zugeschrieben wurden, auch hier im Kern über die Zentralisierung von Datenbanken. Man könnte versuchen, diesen offensichtlichen Widerspruch zwischen Sicherheitserwartungen an den Staat und Misstrauen ihm gegenüber polemisch zu nutzen und nach einer Seite aufzulösen. Hier soll dagegen das Feld der möglichen Denkweisen erkundet werden, das von diesen beiden Zentralbegriffen »Staat« und »Unsicherheit« aufgespannt wird.

Ein Schüler aus dem Ruhrgebiet hat, bevor er sich um eine Lehrstelle bewirbt, schon einige Male Bekanntschaft mit »dem Staat« machen können: Zum Beispiel wurden seine sprachlichen Fähigkeiten, falsch: seine Kenntnisse in deutscher Schriftsprache, in zentral gestellten Tests bewertet, ebenso seine Grundkenntnisse in Mathematik und Englisch. Die Tatsache, dass diese Erhebung zentral durch den Staat durchgeführt wird, schafft bei allen Beteiligten Vertrauen in die Objektivität und Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Die Tests etablieren mit der Norm eine Denkweise, an der man sich orientieren kann und muss.(1) Die elementaren Mängel, die alle Experten schon in der Anlage der Testsituation beim Deutschtest vor der Grundschule sahen, sind für diese Wirkung ebenso ohne Bedeutung wie die Textlastigkeit aller anderen Erhebungen: Erfolgreich kann nur der sein, der das Nadelöhr des Textverständnisses überwindet. Auch andere pädagogische Kritikpunkte fallen unter den Tisch, so die, dass Leistung auch kommunikativ ist, die Begründung der klassischen mündlichen Note also, und vor allem der, dass der Lernzuwachs beim einzelnen Schüler mehr über seine Lernbereitschaft aussagt als ein punktueller Wissensstand am Stichtag. Nur ein solcher Vergleich von Ausgangslage und Ergebnis könnte auch, wenn überhaupt, die Leistungen von Schulen beurteilbar machen – ebenso bedeutungslos.

Erst recht interessiert niemanden, dass die Sachverhalte eine Vorgeschichte haben, dass die Mutter eines Schülers zum Beispiel drei Sonnen- beziehungsweise Nagelstudios betreibt. Solche Studios werden in den Läden eröffnet, aus denen sich die Filialisten in den schrumpfenden Innenstädten zurückgezogen haben, eine unsichere Verdienstmöglichkeit aus den Einkommen der Unterschicht. Der Junge wächst vernachlässigt auf. Die Klassenlehrerin hat mit ihm ein Gespräch mit der Mutter eingeübt: Er habe ein Recht auf tägliche Zuwendung. Die Mutter sieht als Lösung nur, dass ihr Sohn sich täglich an seinen Großvater wenden könne …

Dass der Staat angesichts aller Aspekte der Kritik nichts tut als die Messlatte anzulegen, zeigt ein System: Diese Orientierung am »output« soll genauso in der beruflichen Bildung durchgesetzt werden, bei der nur noch abgeprüft werden soll, ob jemand ein zertifiziertes Qualifikationsmodul beherrscht, unabhängig davon, wo er die Qualifikation erworben hat. »Lebenslanges Lernen« übersetzt sich dann mit dem individualisierten Zwang, die eigene Qualifíkationsstruktur dem Arbeitsmarkt ständig anzupassen. Diese »output«-Orientierung ist explizit mit dem Aufruf an alle Beteiligten verbunden, das Beste aus ihren Ressourcen herauszuholen – sich schon in der Schule ins Rennen zu stürzen. Und der Staat wird deutlich: »Die Möglichkeiten, die sich dir heute bieten, sind vielfältiger denn je. Jeder hat die Chance für sich selbst zu entscheiden, was für ihn das Richtige ist. Jugendliche am Anfang des neuen Jahrtausends haben ein großes Maß an Freiheit. Du kannst dein Leben flexibler gestalten, als das noch bei deinen Eltern der Fall war. Aber diese Fülle an Möglichkeiten bringt gleichzeitig eine Menge Risiken und Ängste mit sich, die es zu bewältigen gibt.« Wie man schon im Voraus die innere Einstellung verbessern kann, wird dann in zwei »kleinen Regeln« mit auf den Lebensweg gegeben: »1. Je mehr du dich informierst und über deine Möglichkeiten weißt, desto kleiner wird der innere ›Schweinehund‹, den du überwinden musst. 2. Bei jeder Jobsuche geht es in erster Linie um die Eigeninitiative. Mit einem Wort: ›Machen.‹«(2)

Im Hinblick auf die Ressourcen hat der Schüler den Staat allerdings von einer anderen Seite kennen gelernt, jedoch ebenfalls, ohne dass hier im komplexen Zusammenhang diskutiert wird: Nicht nur Mittelkürzung beim Personal, bei der Ausstattung, Renovierungsstau bei den Gebäuden – Tipp: Eine blinde Scheibe sollte der Lehrer beim nächsten Sturm mit dem Hammer einschlagen, Versicherungsfall! Darüber hinaus wurden Aufgaben des Staates auch strukturell aufgelöst: Mit großem Gewinn an Selbstbewusstsein für die Schülerinnen und Schüler organisierte früher ein Experte im Arbeitsamt ein Bewerbungstraining. Nach der Neustrukturierung zur Arbeitsagentur wurde ihm gekündigt, er konnte danach in ein Projekt an der Uni einsteigen, nach dessen Ende er bei der Volkshochschule und inzwischen beim Bildungszentrum des Handels unterkam. Auch hier zeigt der Staat sich seinen Bürgern: Dass die Bundesagentur für Arbeit im »top-down«-Verfahren betriebswirtschaftlich organisiert wurde, hat nichts mit einer Erhöhung von Effizienz zu tun. Jeder Arbeitssuchende wird seitdem je nach Grad der Vermittelbarkeit in eine von vier Kategorien eingeteilt. Die Berater bieten Maßnahmen nur einer Kategorie von Menschen an, nämlich der, die aus denjenigen besteht, von denen sie vermuten, dass sie durch diese Maßnahmen in Jahresfrist wieder vermittelt sind – solange sie nämlich für ihn zuständig sind. Dass sie genau dies tun und nichts anderes, wird mit einer Vielzahl von Kennziffern durchgehend kontrolliert. Sie dürfen nicht Probleme bearbeiten, sondern müssen Mittel »effizient« einsetzen, indem sie aussortieren.(3) Der Schüler wächst also in einen Staat hinein, der Unsicherheit schafft: für ihn selbst, für seine Schule, für die Berufsberatung. Für seine Eltern ist dies nichts Neues, sie arbeiten schon lange in einer Grundstimmung der Unsicherheit.(4) Diese Sicht der Gesellschaft erobert seit einiger Zeit den Bildungsbereich, die Schulen genauso wie die Universitäten.(5)

Dass dieses Staatsmodell nicht aus Schwäche geboren wurde, wird schlaglichtartig klar, wenn man hört, dass den Energiekonzernen aus einem »benchmarking«-Prozess heraus gesetzliche Vorgaben für die Effizienz ihrer Netze gemacht werden sollen: Gemessen an der Effizienz des besten Netzbetreibers soll die Produktivität der Netze um einen bestimmten Prozentsatz jährlich steigen.(6) Die »Transformation des Staates«,(7) die beobachtet wird, hat nichts mit einer Auflösung, gar einem »Absterben«(8) des Staates zu tun. Es gibt klare, wirkmächtige Vorstellungen davon, welchen Herausforderungen der Staat gegenübersteht und welche Umstrukturierungsanforderungen sich daraus ergeben. Als Grundtendenz lässt sich insbesondere im europäischen Einigungsprozess eine Ablösung von klassischem Regieren durch »governance«-Prozesse feststellen: Entscheidungen werden nicht mehr hierarchisch durchgesetzt, sondern in komplexen, nicht hierarchischen Netzwerken ausgehandelt. An einem zentralen Bereich sei dies verdeutlicht: Die Versuche der Vereinheitlichung des europäischen Rechtsraumes wurden blockiert, bis man auf legislative Akte verzichtete. Stattdessen legte man schließlich nur noch zentrale Aspekte fest, die geregelt werden sollten. Die Ausarbeitung wurde anschließend in Expertenkommissionen, durch Ausschüsse aus den nationalen Verwaltungen sowie durch unabhängige Agenturen konkretisiert: Das, was angestrebt worden war, nämlich der Abbau von innereuropäischen Handelsbeschränkungen, wurde in diesem Prozess jedenfalls erreicht. Aber es wird nur erreicht auf der Grundlage klarer, allgemein akzeptierter Annahmen, welche Strukturen der Staat haben solle, nämlich solche, die den »Wettbewerb« fördern.(9) Auf der Ebene der allgemeinen Schlagworte wird immer wieder verdeutlicht: Jener »Wohlfahrtsstaat«, der als verantwortlich für die Absicherung aller elementaren Lebensrisiken angesehen wurde, ist beendet. Der Staat sei jetzt »aktivierend«, solle »fit machen« für die Bewährung in der Unsicherheit des Lebens für Schüler ebenso wie für Betriebe in der internationalen Konkurrenz, »Wettbewerbsstaat« im umfassenden Sinn. Auch die politischen Schlagworte legitimieren also Unsicherheit, genauer: Sie stützen die Herstellung von Unsicherheit.

In dieser Situation trifft die Rede von der »Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft«, die an konservative Argumentationen aus den 1960er-Jahren anknüpft,(10) vielleicht aus dem gleichen Grund auf spontane Zustimmung wie die Tatsache der staatlichen Messlatte bei den Schülerleistungen oder gesetzliche Effizienzvorgaben für Netzbetreiber. Sie scheint die Sicherheit der Zentralisierung, die des »starken« Staates, anzubieten. Diese räumliche Metapher des Staates, der zum Beispiel einheitliche Wissensstandards der Schulabgänger sichert, ist aufs Engste verbunden mit der Vorstellung einer Zukunft, deren Notwendigkeiten wir wie Naturgesetze schon kennen, nicht mit einer anderen möglichen Vorstellung einer offenen Zukunft, die gestaltet werden muss und kann. Diese zweite Vorstellung von Zukunft würde die Bestandsaufnahme dessen, was ist, verlangen, die Debatte über Ziele und dann über Mittel, wie man ihnen näher kommen kann – eben Politik als Versuch, Unsicherheit zu gestalten.

Die Zukunft, die über den Schüler kommt, scheint dagegen klar zu sein, ohne dass solche politischen Diskussionen irgendwie von Bedeutung wären. Darüber wird er überall, nicht nur von seinen Eltern und Lehrern, ständig belehrt. Die »Möglichkeiten sind vielfältiger denn je« und »jeder hat die Chance«: Man kann Millionär oder Schlagerstar werden, wenn man nur hart genug an sich arbeitet – im Unterschichtenfernsehen ein alter Hut. Aber man liest auch auf jedem Kassenzettel eines großen Handelsunternehmens, als Losung gewissermaßen, »Jeden Tag ein bisschen besser«. Vielleicht stutzt man – wirklich jeden Tag, immer besser? Das bedeutet zunächst, dass es nur eine Dimension des »besser« oder »schlechter« gibt, also nur eine Messlatte. Und: Anscheinend ist diese Messlatte nach oben offen, wir werden ohne Ende immer besser bedient werden. Der banale Werbeslogan erinnert nicht zufällig an das Messen des Staates. Bei beiden schwingt unausgesprochen mit, dass die Zustände heute als »besser« oder »schlechter« eingeordnet werden können, dass sie einige Zeiteinheiten später jedenfalls »besser« sein sollen. Die Zustände lassen sich gewissermaßen wie Punkte im cartesischen Koordinatensystem Zeiteinheit für Zeiteinheit eintragen, ihre Entwicklungskurven im Lauf der Zeit betrachten, an ihnen Entwicklungsgesetze formulieren. Die Zeit ist dabei nur eine formale, lineare Einheit, sie bietet kein offenes Problem in ihrem Verlauf.(11) Und: Ein Ziel, ein Ende haben diese Entwicklungskurven nicht. Der »Wettbewerbsstaat« aktiviert, misst Erfolg und Nichterfolg und zwingt so in ein Rennen, dessen Richtung jedem bekannt ist. Dies ist auch der Verhaltenshorizont von Eltern. Wenn Kinderbedürfnisse dabei zu kurz kommen, muss man dies sicher moralisch beurteilen. Vollständig wird diese Beurteilung jedoch erst mit der gesellschaftlichen Vorgeschichte: Verantwortungslosigkeit dem Kind gegenüber ist auch Zeichen für eine gesellschaftliche Unmöglichkeit, Ziele zu denken.

Springen wir in ein anderes zentrales Politikfeld, so blitzen neue Seiten des Staates auf: Dass nur über eine schnelle Begrenzung des Kohlendioxidausstoßes Klimaänderungen begrenzt werden können, ist inzwischen Konsens, ebenso dass hier der Staat Verantwortung dafür trägt, bestimmte Ziele zu erreichen. Roland Schaeffer arbeitet in seinem Artikel »Das Klima, die Dinge und die Menschen«(12) detailliert heraus, warum es nur politische Lösungen angesichts des Klimawandels geben kann. Das vorherrschende Lösungsmodell sei dagegen das des Einbaus der Umweltkosten in die Kalkulation der Unternehmen, zum Beispiel über die Kohlendioxidsteuer. Gesellschaften und auch ihr Konsumverhalten würden aber eben nicht über Preise gesteuert, sondern insbesondere über ihre materiellen Artefakte, deren Entstehung wiederum nur gesellschaftlich verstanden werden könne. Nebenbei kritisiert er in diesem Zusammenhang auch die Messlatte des ökologischen Fußabdrucks: Selbst dem gutwilligen Individuum ermögliche dies nicht, seinen »Fußabdruck« zu verkleinern, weil eben jeder Einzelne Teil einer ganzen Gesellschaft ist mit all ihren langfristigen, historisch entstandenen, strukturellen Gegebenheiten. Schaeffer macht deutlich, dass der Weg in einen deutschen ökologischen Sozialstaat sofort begangen werden könnte – auch wenn ihm der Staat wie gelähmt erscheint. Ich möchte begründen, warum man nicht auf ein »Aufwachen« oder »Erstarken« dieses Staates hoffen kann, weil der Staat tatsächlich zurückerobert werden muss.

Dazu ist es sinnvoll, von Alltagsdiskursen weg zu verallgemeinernden soziologischen Analysen hin zu gehen. Dass auch hier Theorien der »sozialen Beschleunigung« abgehandelt werden, überrascht nicht. Die Verrücktheit einer Metapher wie der der Beschleunigung zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen liegt allerdings auf der Hand: Das Bild setzt einen Raum voraus, in dem die gesellschaftlichen Zustände von Zeiteinheit zu Zeiteinheit eine Spur hinterlassen, die in unendlicher Punktfolge immer mehr Raum überwindet. Die Metapher enthält die Aussage, dass wir die Entwicklungsgesetze an sich sehen können, ihren gesamten Verlauf also, prinzipiell bis in alle Ewigkeit. Und dies hat Konsequenzen in Bezug auf die Möglichkeit von Politik. Hartmut Rosa zum Beispiel(13) analysiert die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne unter dem Titel »Beschleunigung«. Alltägliche Sichtweisen wie »Je mehr Zeit wir sparen, desto weniger haben wir« und Empfindungen des Grundgefühls zunehmender Beschleunigung verbindet er mit soziologischen Ansätzen von Simmel, Elias, Virilio und so weiter, mit dem Anspruch, sie zu systematisieren. Dabei macht er zwar Beharrungstendenzen aus, aber da er in der sozialen Beschleunigung einen selbst antreibenden Prozess sieht, soziale Akzeleration als eine der Zentralstrukturen der Moderne, erwartet er ein katastrophisches Ende dieses Prozesses, insbesondere sein Einmünden in die Öko-Katastrophe. Konsequenz: Es »setzt sich in der Spätmoderne immer stärker die Wahrnehmung einer richtungslosen historischen Veränderung durch, die nicht länger politisch zu steuern oder zu kontrollieren ist …« Hier wird das Problem offensichtlich: Mit der Akzeptanz der Metapher der Beschleunigung begibt er sich schon der kritischen Analyse, die er sucht. Allerdings werden die Dinge nach seiner Analyse nicht »jeden Tag ein bisschen besser« …(14)

Gegen diese Sicht einer Gesellschaft der notwendigen Entwicklung, der man sich nur anpassen könne, um nicht zu scheitern, und deren Unsicherheiten genau in dieser Möglichkeit des Scheiterns liege, wie sie anscheinend vom Alltäglichen bis hin zur theoretischen Soziologie vorherrschend ist, gibt es natürlich pragmatische Argumente: Dem Schüler wäre sicher geholfen, wenn das Leben seiner Mutter in stabileren Bahnen verliefe, die schulischen Ressourcen stabilisiert würden, er die Hilfe, die er beim Übergang in das Arbeitsleben benötigt, bekäme. Oder: Die Klimakatastrophe hätte schon seit langem durch konkret umsetzbare Maßnahmen eingedämmt werden können, und dies hätte tatsächlich für die Zukunft einen äußerst gewichtigen Unterschied gemacht. Wenn staatliches Handeln sich der Herausforderung gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze gegenübersieht, ergibt sich eine Politik der Notwendigkeit.(15) Dies bedeutet nicht, dass sich seine Maßnahmen irgendwie als Sachlogik durchsetzen. Wir sind überall mit klassischer, zentralisierter Staatsmacht konfrontiert: Zentrale Prüfungen ohne pädagogische Diskussion, unter Strafandrohung für diejenigen Schulleitungen, die nicht alles für die Geheimhaltung tun, regelmäßige dreitägige Inspektionen aller Schulen sowie jeden Unterrichts, Bachelorisierung des Studiums und Studiengebühren trotz aller Argumente aus den Universitäten. Ebenso wurde die Verbetriebswirtschaftlichung der Arbeitsvermittlung von oben herab durchgesetzt – unmittelbar nachdem in einem internen Optimierungsprozess mit dem Sachverstand der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter Beteiligung der Gewerkschaft klare Effizienzsteigerungen erreicht worden waren. Die Ökosteuer wird gegen populistische Stimmungen, die Effizienzsteigerung der Stromnetze gegen die Konzerne durchgesetzt: Man braucht nicht nach dem Staat zu rufen, er ist sehr aktiv.

Der Staat handelt jedoch entsprechend dem Bild, das über die Form der Unsicherheit und über staatliches Verhalten in ihr vorherrscht. In dem Maß, in dem insbesondere die Vorstellung vorherrschend ist, es gebe Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung, bezüglich derer man nur mehr oder weniger erfolgreich sein könne, und hierin bestehe die Unsicherheit der Zukunft, in dem Maß bleibt eine staatliche Politik der Exekution dieser Notwendigkeit unbestritten, so aktiv sie Zustände auch fördert oder herstellt. Angesichts des stummen Zwangs der Zeit scheint Entscheidungsfreiheit illusorisch, wird Verantwortungslosigkeit zu einer gesellschaftlichen Grundstruktur gemacht, die sich im Staat verdichtet.

Im historischen Rückblick hat Robert Castel(16) herausgearbeitet, dass der Staat historisch zuerst als Rechtsstaat Verantwortung für einen grundlegenden Schutz der Bürger übernommen hat. Die Entwicklung zum Sozialstaat, verbunden mit dem »sozialen Eigentum« der Existenzsicherungssysteme, sei eine folgerichtige und legitime Erweiterung gewesen. Daran habe sich auch angesichts der Redeweisen von Flexibilisierung und Individualisierung, allgemeiner der »quasimetaphysischen Risikoüberhöhung« durch Autoren wie Beck oder Giddens nichts geändert. Das Recht (!) auf Teilhabe aller Bürger an der »Gesellschaft der Ähnlichen« müsse der Ausgangspunkt aller Diskussionen bleiben. Unser Schüler im Ruhrgebiet kann jetzt im Rahmen einer Kampagne der Landesregierung – »Kein Kind ohne tägliche warme Mahlzeit« – bei der Schulleitung ein besonders preiswertes Mittagessen beantragen: klassische Armenfürsorge, nicht Recht am »sozialen Eigentum«. In diesem Sinne meine ich, dass der Staat tatsächlich erst wieder zurückerobert werden muss.(17) Dass es dabei nicht um eine nostalgische Wiedereinsetzung der Handlungsbereiche des klassischen Sozialstaates geht, spricht Castel klar aus: Die sozialen Dimensionen der neuen Unsicherheitsfaktoren müssten aufgedeckt werden, nicht von »Risiken«, sondern von »noch nicht da gewesenen Schädigungen durch die Art der Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung« müsse gesprochen werden.

Wenn man die Zukunft für offen hält, mit den Möglichkeiten und Unsicherheiten des Lebens behaftet, dann bleibt, um dem Staat Richtung zu geben, genau die klassische liberale Vorstellung der Politik: Politik ist, wie man zum Beispiel von Hannah Arendt lernen kann, seit der Antike der Bereich der Entscheidung. Insbesondere ihr Spätwerk Das Denken, Das Wollen und Das Urteilen versucht den Gedanken zu retten, dass die Bürger über die »res publica« entscheiden könnten. Sie versucht dies gerade angesichts des fürchterlichen Scheiterns der Hoffnungen der Aufklärung auf Fortschritt, am Tiefpunkt der rationellen Menschenvernichtung durch Menschen wie du und ich auf der Basis eines »naturwissenschaftlichen« Gesetzes zur Erzeugung einer reinen Herrenrasse.(18) Philosophisch kann sie dies mit nichts anderem begründen als mit der menschlichen Möglichkeit neu anzufangen, letztlich daraus, dass Menschen geboren werden.

Sie verteidigt jedoch nicht nur die Möglichkeit der Politik angesichts der Unsicherheiten der Zeit, sondern aktualisiert auch den Bereich, der Gegenstand der Politik sein soll. Die ökologische Diskussion hat sie nicht mehr aufgenommen, sie hat jedoch in Vita activa aus grundsätzlichen Überlegungen heraus den Horizont menschlichen Handelns klar herausgearbeitet, dass nämlich die Menschheit in der Lage ist, ihre Welt grundlegend zu verändern bis hin zur kompletten Zerstörung.(19) Dass mit der Verfügbarkeit der Atombombe eine grundsätzlich neue Situation eingetreten war, war schon von anderen Philosophen thematisiert worden. Mit Arendts Argumentation war die Möglichkeit der Selbstvernichtung gewissermaßen nicht mehr punktuell, sondern systematisch geworden. In der ökologischen Diskussion wurden aus anderen Quellen als philosophischen diese Gedanken mehr und mehr Allgemeingut. Mir scheint, dass damit – bewusst oder nicht – auch angefangen worden ist, staatlicher Politik historisch neue Aufgabenbereiche zu überantworten, nämlich dem ökonomischen System grundlegend Ziele zu setzen, es also einzuhegen.

Das ist in der Politik nichts Neues. In den 1970er-Jahren gab es zum Beispiel in der alten Bundesrepublik eine breite politische Debatte über »Lebensqualität« als Ziel. Sie wurde aufgelöst in den konservativen Mahnungen, der Staat dürfe nicht überfordert werden durch eine Inflation der Ansprüche, die an ihn gestellt werden, sowie in der antiautoritären Ablehnung staatlicher Bevormundung. In der ökologischen Diskussion heute ist jedoch klar, dass spätestens dann, wenn effizientere Ressourcennutzung nicht als ausreichend angesehen wird, sondern eine Änderung von Lebensstilen angezielt wird, ein Staat, der gewissermaßen als ideeller Gesamtbetriebswirt gesehen wird, der ökologische Kennziffern für die Entwicklung vorgibt, vollkommen untauglich ist.

Wenn ich oben von einer Rückeroberung des Staates gesprochen habe, so war dies also doppelt ungenau: Auch ein »Wohlfahrtsstaat«, der seine Experten über die Steigerung der Lebensqualität der Bevölkerung entscheiden lassen wollte – und der zumindest in Deutschland auf einer strukturellen Benachteiligung der Frauen beruhte –, ist ja zu Recht kritisiert worden. Die Vorstellung, dass gesellschaftliche Ziele zentralistisch durch Bürokratien umgesetzt werden könnten, ist im Westen desavouiert und im Realitätstest des Ostens zusammengebrochen, so dass zu Recht über die Grenzen staatlicher Möglichkeiten gesprochen wird – und dies ist eben auch ein zentrales Gegenargument gegen die derzeitigen Versuche staatlicher »Tonnenideologie« zum Beispiel im Bildungsbereich oder in der Umweltpolitik. Andererseits ist jedoch mit den ökologischen Krisen offensichtlich geworden, was seit der Möglichkeit der realen Selbstvernichtung der Menschheit prinzipiell denkbar war: Der Staat muss erobert werden für die demokratische Bestimmung der wesentlichen ökonomischen Ziele. Dies kann nur in der Anerkenntnis der vollständigen Unsicherheit über die Zukunft geschehen, unter Verzicht auf jedes vorgebliche Gesetz in der Zeit, nur in der Auseinandersetzung mit dem, wie ich die Dinge nach dem, was ich von anderen gehört habe, sehe, welche Ziele ich sehe nach dem, was ich von anderen gehört habe, und mit welchen Mitteln ich sie, nach dem, was ich von anderen gehört habe, erreichen möchte (Arendt).

Wenn niemand Gesetze in der Zeit kennt, kann die gesellschaftliche Planung der grundlegenden ökonomischen Ziele nicht auf die Produktionsstrukturen ausgerichtet sein. Es kann nur um eine gesellschaftliche Organisation der Nachfrage gehen. »Eroberung des Staates« bedeutet zunächst nichts anderes, als dass bewusst und ausdrücklich über Wege der Organisation der Nachfrage debattiert wird.(20)

Und hier muss nichts neu erfunden werden. Diese Diskussion ist in Deutschland seit langem und in aller Breite in Gang. Paradigmatisch und viele Diskussionen zusammenfassend war die Studie über ein nachhaltiges Deutschland, die das Wuppertal-Institut für Misereor und BUND durchführte.(21) Insbesondere wenn dort über Ziele eines guten Lebens nachgedacht wird, geht es um den Kern der Bestimmung gesellschaftlicher Ziele für die Produktion. Diese Diskussion ist nicht auf bestimmte Teile der Gesellschaft beschränkt. Alle Parteien, viele Verbände, auch Unternehmen nehmen teil: Wenn dort »Corporate Social Responsibility« etabliert wird, dient dies natürlich höherer Effizienz und Marketing-Zwecken. Ein Stück der ökologischen Probleme ist jedoch auch dort aufgenommen. Mit Hilfe des populistischen Zentralorgans, der Bildzeitung, können Umweltverbände eben, auch wenn es anrüchig ist, gesellschaftliche Nachfrage organisieren. Genauso geschieht dies auch, wenn der Kaffeeröster oder die Post Ökostrom anbieten. Allerdings eben auch, wenn überall das Navigationssystem für den Individualverkehr durchgesetzt wird, statt einen verlässlichen, bequemen Nahverkehr auszubauen. Dies Letztere geschieht ohne jede politische Diskussion, so dass gesellschaftliche Macht unkritisiert eingesetzt werden kann: Mit großen Summen für die Entwicklung und Durchsetzung dieser »technischen Artefakte« (R. Schaeffer) wird der Markt strukturiert, werden Verhaltensweisen nahe gelegt oder erzwungen, die den Weg in die Klimaveränderungen verfestigen. Die Nachfrage ist schon immer gesellschaftlich organisiert, dies wird jedoch nicht als politische Aufgabe gesehen, schon weil die Richtung, in die alles läuft, als unentscheidbar erscheint. Es werden, mit anderen Worten, keine Ziele des Wirtschaftens entwickelt, nicht nur weil gesellschaftliche Mächte dem entgegenstehen, sondern noch elementarer, weil ihre Möglichkeit nicht gesehen wird. Wenn aus ökologischen Überlegungen heraus klar ist, dass die gesellschaftlich entstandenen technologischen Strukturen, die bestimmte Nachfragen nach sich ziehen, verändert werden müssen, dann muss man nach einem bewussten, demokratischen, legitimen Prozess der Änderung suchen, letztlich also nach einem neuen Staatsmodell.

Eine Ebene dieses demokratischen Prozesses der Bestimmung wirtschaftlicher Ziele ist schon weit entwickelt: Ökologische, teilweise auch soziale Aspekte der Produktion sind wesentlicher Teil vieler Verbrauchertests, exemplarisch werden ganze Produktlinien, also auch die Wirkungen von Herstellungsweisen und Vorprodukten untersucht. Eine Ware zum Beispiel, von der bekannt wäre, dass sie in Kinderarbeit hergestellt wird, würde niemand kaufen wollen. Und hier genau liegt ein Problem struktureller Macht, weil Informationen eben auch breit zugänglich sein müssen, um für die individuelle Entscheidung wirksam werden zu können. Stellen wir uns in einem Gedankenexperiment vor, dass für jeden Euro, den ein Unternehmen für Werbung ausgibt, ein weiterer Euro in einen Pool abgegeben werden müsste, aus dem im weitesten Sinn Verbraucheraufklärung bezahlt würde. … Tatsächlich wird jedoch auch diese traditionelle staatliche Aufgabe der Verbraucherberatung finanziell immer weiter ausgetrocknet. Die aufgeklärte Nachfrage muss darüber hinaus dem Angebot auf ernsthaft liberalisierten Märkten gegenübertreten können. Das verlangt auch die gesetzliche Zerschlagung von Machtstrukturen, so wie dies unter anderer Zielsetzung bei der Privatisierung beziehungsweise Auflösung von Monopolstrukturen heute geschieht.

Dass Kinderarbeit nicht akzeptabel ist, ist in unserer Gesellschaft zurzeit Konsens. Die Frage dagegen, ob sich das Verkehrssystem am Individualverkehr oder an öffentlichen Systemen ausrichten soll, überhaupt nicht. Hier wird deutlich, dass eine individuell gut informierte Kaufentscheidung der Kunden nicht ausreicht. Es geht eben wirklich um Prioritäten für ganze Gesellschaften. Auch darüber muss natürlich in einem ersten Schritt öffentlich diskutiert werden. Diese Diskussion muss jedoch in institutionalisierte Entscheidungsverfahren münden, um zu legitimen Beschlüssen zu führen. Die unterschiedlichen Möglichkeiten, von der Aufnahme in Parteiprogramme bis hin zur Etablierung einer eigenen, über Marktwahlen entstandenen Kammer (W. Brüggen, M. Jäger), müssen sicher auch im Hinblick auf die Konsequenzen im gesamten politischen System sorgfältig diskutiert werden, so wie dies früher für das Verhältnis rechtsstaatlicher und sozialstaatlicher Institutionen im politischen Gesamtgefüge debattiert werden musste. Eine zentrale Frage scheint dabei die nach den Grenzen einer demokratischen Bestimmung der Ziele der Produktion zu sein. An einem Beispiel kann man sich die Tragweite dieser Problematik klar machen: Stabile Mehrheiten stehen zumindest in Umfragen gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel. Dürfte eine entsprechende Mehrheit per Gesetz nicht nur jede Freisetzung, sondern auch die Forschung verhindern? Was bedeutet Minderheitenschutz in diesem Zusammenhang?

Was kann andererseits überhaupt Gegenstand politischer Debatte und staatlicher Zielsetzung sein? Individualverkehr oder öffentlicher Personenverkehr? Festnetz oder Mobilfunk? Die Regionalisierung der Wirtschaftsstruktur? Ein gesundheitsfördernder betrieblicher Alltag? Wie können die Grundentscheidungen »klein gearbeitet« werden, von Gesetzen bis hin zum Verwaltungshandeln? Jeder Bereich verweist auf einen ganzen Komplex von Fragen.

Die Einführung der sozialstaatlichen Elemente war mit der Herausbildung neuer »öffentlicher Regulationssysteme« (Castel) verbunden. Dies würde sich wiederholen, von der Neubestimmung der Machthierarchien zwischen Ministerien über die Schaffung neuer halbstaatlicher Institutionen, die Aufgaben im neuen Bereich übernehmen, bis hin zu einer Neubildung oder Umgruppierung der Interessenverbände sowie der Aufnahme neuer Themenbereiche in die Medien. Selbstverständlich kann diese Strategie der Eroberung des Staates nur Dauer erhalten, wenn auch politische Parteien, vielleicht – aus je anderen Traditionen heraus und mit je anderen Begründungen – grüne oder sozialistische, sich dieses Ziel zu eigen machen. Nicht nur aus taktischen, sondern auch aus prinzipiellen Gründen darf sich dieses Projekt jedoch nicht ausgrenzend gegen andere politische Traditionen richten: Niemand kennt ein Gesetz zukünftiger Entwicklung. In diesem Sinn kann die demokratische Bestimmung der Ziele der Wirtschaft prinzipiell nicht das Projekt einer Partei oder Parteigruppierung sein.

Der Gedanke des »gesetzmäßigen Ausbaus des Sozialismus« erscheint inzwischen absurd. Andererseits sind Vorstellungen gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze im Zeitablauf weit verbreitet. Beides ist ein Hinweis darauf, dass staatliche Strukturen im Umgang mit der Unsicherheit der Zukunft auch Welt-Anschauungen verarbeiten, insbesondere auch naturwissenschaftliche. Hier wurde versucht, den Staat als Verdichtung eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses zu verstehen, bei dem auch die vorherrschenden Vorstellungen vom Staat und der Art der Herausforderungen, denen er gegenübersteht, wesentlich sind, bis hin zu den ihm zugrunde liegenden Welt-Anschauungen. Seine Eroberung geschieht auf allen Ebenen, also auch auf dieser.

Und auch hier muss nichts neu erfunden werden. Es gibt eine breite sozialwissenschaftliche Diskussion der Selbstkritik der Moderne: Kritik des Fortschrittsgedankens, des Gedankens der Entwicklung, des unablässigen ökonomischen Wachstums. Es gibt philosophische Diskussionen der »Verzeitlichung der Zeit«,(22) die das, was wir als Zeit denken, als etwas von vornherein und unvermeidbar Relatives und Gewordenes analysieren. Teilweise in direkter Auseinandersetzung mit der philosophischen Diskussion finden auch in den Naturwissenschaften grundlegende Diskussionen über den Zeitbegriff und seine Folgen statt. Die Suche nach der Grand Unifying Theory wird als der Versuch angesehen, die klassische Tradition der Theoriebildung fortzusetzen, als Versuch, eine von zeitlichen Ungewissheiten unabhängige, den gesamten Raum umspannende Theorie zu suchen. Ein alternatives Paradigma verbindet sich mit Namen wie A. N. Whitehead und I. Prigogine. Hier steht der Gedanke der unvermeidbaren Kontingenz der Entwicklung, der Existenz von qualitativen Sprüngen sowie andererseits der Abhängigkeit des spezifischen Heute vom Gestern im Mittelpunkt. Wenn Prigogine von der Selbstorganisation der Natur spricht, dann weil er die je konkrete Naturerscheinung in ihrem Rang erhöhen möchte gegen die Sprechweise, sie sei nur Ausdruck eines tieferen, ewigen Gesetzes. Dieses Raum und Zeit übergreifende Gesetz gebe es nicht, wir könnten also auch nicht Gesetze erkennen, sondern unsere Einsichten als Teil der Natur in einem »Dialog mit der Natur« finden.(23) Dieser Prozess der Erkenntnisgewinnung kann keinen notwendigen Fluchtpunkt haben, den man wissen kann, sonst stünde er unter der Herrschaft eines Gesetzes.

Insbesondere kann dies kein evolutionärer Prozess in dem spezifischen Sinne sein, dass sich lebensfähigere Theorien oder solche Erkenntnisse, die für das Überleben der Menschheit nützlicher seien, durchsetzten. Die Redeweise von der Selbstorganisation der Individuen und ihrer Gemeinschaften, die Anspannung ihrer Kräfte im Rennen, wie sie in vielen populären Redeweisen der neoliberalen Phase bemüht wird, ist allerdings dieser klassenkämpferischen oder rassistischen Interpretation verhaftet: Sie schließt aus, was sich als sozial oder rassisch minderwertig erweist. Sie ist jedoch nur wirksam in dem Maß, in dem ihr erlaubt wird, von allem abzusehen, was Individuen und ihre Gemeinschaften bestimmt, also von deren gesamter Vorgeschichte. Indem das Denken in diesem Sinn »zeitlos« wird, erlaubt man ihm, einen leeren Raum der Möglichkeiten zu setzen. Die »Selbstorganisation« der Individuen ist dann nur ein Weg, sie dem evolutionären »Gesetz« zu unterwerfen. Die Eroberung des Staates mit dem Ziel der demokratischen Bestimmung der Ziele der Produktion muss mit dieser Welt-Anschauung brechen – und kann sich dabei übrigens auch auf Darwin berufen: Genau dies, die Kontingenz der Evolution und damit ihre prinzipielle Ungerichtetheit, hat er für so zentral gehalten, dass er sich große Mühe gab, dies nicht nur verbal, sondern auch optisch dem Leser seiner Bücher nahe zu bringen.(24)

Wenn im Bildungsbereich ohne Scham von »output«-Orientierung und »fit machen« gesprochen wird, also von der Notwendigkeit, sich an ein »evolutionäres Gesetz« (Jeder überwindet den inneren Schweinehund und wird »Jeden Tag ein bisschen besser«) anzupassen, dann wiegt dies aus zwei Gründen besonders schwer. Der Bereich der Bildung und Erziehung ist einer der Kernbereiche, in dem die Gesellschaft seit der Aufklärung das unverwechselbare Individuum und seinen je eigenen Weg in den Mittelpunkt setzte. Mit diesem Gedanken wird gebrochen. Und: Gerade im Bildungsbereich wird wesentlich die Sicht auf die Welt beeinflusst, auch die auf den Staat. In dem Maß, in dem der Staat dazu zwingt, die Individuen nicht mit ihrer ganzen Vorgeschichte zu sehen, sondern sie auf ihre Ressourcen zu verweisen, die sie für ihren Erfolg einsetzen müssten, erweist er sich für Erfolgreiche und nicht Erfolgreiche als einer des Aussortierens und Ausschließens. Die Welt wird eine des Kampfes unterschiedlicher Ressourcen. Wenn man schon vom »starken« Staat spricht, dann nur von einem, der über die Bürgerrechte hinaus, die Rechtsstaat und Sozialstaat bieten, auch die tief greifenden Unsicherheiten, die sich aus der Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung ergeben haben, thematisiert. Wenn es dabei nichts gibt, was man von der Zukunft kennt, muss man sie in Anerkenntnis der Unsicherheit versuchen zu gestalten. Der Staat ist dann stark, weil sich in ihm die Wünsche und die Bestrebungen verdichten, dies zu tun, nicht weil er diesen Prozess steuern könnte. In diesem Gedanken lebt kein naiver Fortschrittsoptimismus der Aufklärung fort. Es würden nur Verantwortlichkeiten hergestellt, wo jetzt keine sind: Es gibt keine Notwendigkeiten, denen man sich nur anpassen kann, die Bürger müssen sich entscheiden.

 

1

In gewissem Sinn setze ich hier Überlegungen aus meinem Artikel »Das Individuum als korrigierbare Software«, Kommune 1/07, S. 68 ff. fort.

2

So in der Einleitung des vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen JoB. Das Job-Lexikon, Juni 2007 (S. 7).

3

Volker Hielscher: »Die Arbeitsverwaltung als Versicherungskonzern? Zum betriebswirtschaftlichen Umbau einer Sozialbehörde«, in Prokla 148 (September 2007), S. 351 ff. Die Kategorien, in denen die Arbeitssuchenden eingeteilt werden lauten: Marktkunde, Beratungskunde-Aktivieren, Beratungskunde-Fördern, Betreuungskunde. Schon in der grundsätzlichen Sprachregelung, man habe es mit »Kunden« zu tun, zeigt sich eine schamlose Lüge. Sie wird zur Zwangsstruktur, wenn entgegen juristischen Bedenken mit diesen »Kunden« »Verträge« geschlossen werden.

4

Die zunehmende Arbeitsverdichtung, die durch Verunsicherung erzwungen wurde, durch Ausgliederung und Verkauf von Betriebsteilen, die Mindestprofite nicht bringen, Streichung von Hierarchieebenen, sinkende Ausbildungs- und Einstellungsquoten, wird verbunden mit zeremoniellen Feiern der Leistungsfähigkeit: So wird ein 25-Jähriger, der sich nach seiner Lehre als fähiger Verkäufer erweist, von Headhuntern umworben, unter anderem mit Kurz-Trips in die USA.

5

Bodo Zeuner schildert in seiner Abschiedsvorlesung diese Prozesse am Beispiel der FU Berlin plastisch – und voller ohnmächtiger Wut; vgl. ders.: »Die Freie Universität Berlin vor dem Börsengang? Bemerkungen zur Ökonomisierung der Wissenschaft«, in: Prokla 148 (September 2007), S. 322 ff.

6

FR, 21.9.07. Pikanterweise wird in Fünfjahresphasen gedacht – man könnte ironisch formulieren, der Sozialismus habe ebenso wie in den detaillierten Vorgaben für die Bildungsprüfungen gesiegt …

7

Stephan Leibfried, Michael Zürn (Hrsg): Transformation des Staates, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.

8

Martin van Creveld behauptet diesen Untergang des Staates im Kern nur, schon auf Grund der Kürze des entsprechenden Kapitels. Vgl. ders: Aufstieg und Untergang des Staates, München: Gerling Akademie-Verlag 1999.

9

Dies geht aus der Darstellung von Christian Jörges hervor. Vgl. ders: »Freier Handel mit riskanten Produkten? Die Erosion nationalstaatlichen und die Emergenz transnationalen Regierens«, in: Leibfried/Zürn (Hrsg.), S. 151 ff.

10

So der Titel des Buches von Berthold Vogel, Hamburg 2007 (Hamburger Edition), der sich dabei auf den konservativen Staatsrechtler Ernst Forsthoff beruft.

11

Die »Entleerung« der unsicheren, sprunghaften Zeit zur linearen Zeitskala scheint unmittelbar einem Denken anzugehören, das von unendlichen Räumen ausgeht (vgl. hierzu meinen Text »Das Individuum als korrigierbare Software«, in Kommune 1/07). Die Begriffe »Ständiges Wachstum« oder »Globalisierung« sind räumliche Metaphern, die die unendliche Ausbreitung nach außen auf die ganze Erde und dann darüber hinaus bzw. nach innen auf jeden Fleck voraus setzen. Eine mit Unsicherheiten, Zufällen und sprunghaften Änderungen verbundene Zeit ist für diese Begriffe nicht von Bedeutung, denn man kennt die Entwicklungsgesetze, die den ganzen, als homogen gedachten Raum umfassen, und man geht von ihrer dauerhaften Gültigkeit aus. Auch die Metaphern der »Konkurrenz«, also des ständigen Rennens im »Wettbewerb«, oder des »Leviathan« als Wahrer der Sicherheit durch Zentralisierung sind in diesem Sinn räumlich, verbunden mit einer leeren Zeitvorstellung.

12

Roland Schaeffer: »Das Klima, die Dinge und die Menschen. Wie die Umweltpolitik ihre ökonomistische Sackgasse verlassen und gesellschaftliche Kraft entfalten kann«, in Kommune 2/07, S. 6 ff.

13

Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen der Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Ähnliche Argumentationsfiguren könnte man auch bei Ulrich Beck und anderen Autoren entdecken.

14

Noch bei einem Theoretiker wie Jean-Francois Lyotard, dessen Name dafür steht, dass die »Großen Erzählungen« des Menschheitsfortschritts als Mythen analysiert werden können, bleibt gewissermaßen die nackte Metapher der linearen Zeitperspektive elementar. Schon Gehirn und Sprache des Menschen, insbesondere aber auch sein Streben nach öffentlichem politischem Diskurs seien wie eine Insel wachsender Komplexität im Weltall der zunehmenden Unordnung. In diesem physikalischen Prozess sei der Fluchtpunkt unabweisbar: Angesichts des Sonnentodes ergebe sich die Notwendigkeit aller wissenschaftlichen Bestrebungen, das Überleben dieser komplexen Struktur zu sichern. Die Neuen Technologien höben die Beschränkungen des Körpers durch seine Umwandlung in Informationen auf. Lyotard sieht die Menschheit in diesem unabweisbaren Prozess vorwärts gerissen. Dem Widerstand, der seiner Ansicht nach aus der Anerkenntnis des »noch nicht« kommen müsste, gibt er wenig Chancen. Damit steht er an der Nahtstelle zu ähnlichen Überlegungen von Naturwissenschaftlern. Vgl. z. B. ders.: »Zeit heute«, in : Heinrich Meier (Hrsg): Zur Diagnose der Moderne, München: Piper 1990, S. 149 ff.

15

Vgl. hierzu meine Analyse in: »Politik der Notwendigkeit – Rückzug des Staates? Ein Streifzug«, in: Kommune 2/04, S. 6 ff.

16

Robert Castel: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg: Hamburger Edition 2005. Der französische Originaltitel gibt seine Leitfrage direkt an: L´insécurité sociale. Qu’est-ce qu’être protegé?

17

Hier wird der Grundgedanke Poulantzas’, den Staat als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zu sehen, in der Blickrichtung gewissermaßen umgekehrt: Die Eroberung des Staates kann man sich nur als Verschiebung von Kräfteverhältnissen vorstellen. Vgl. z. B. Nicos Poulantzas: Staatstheorie, Hamburg: VSA 1978.

18

Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, München: Piper 2006 und dies.: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, München: Piper 1985.

19

Arendts Analyse der vom Menschen selbst geschaffenen Bedingungen verdichtet sich, wenn sie das grundlegend Neue des Gedankens des »archimedischen Punktes«, auf den sich die Wissenschaft außerhalb irdischer Erfahrung stellen könne, herausarbeitet. Vgl. Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper1987, S. 252 ff.

20

Den Vorschlag, Marktwahlen durchzuführen, hat schon vor einiger Zeit Michael Jäger gemacht. Vgl. insbesondere ders.: »Ökologischer Umbau durch Befreiung des Marktes«, in Kommune 10/96, S. 33 ff; Willi Brüggen und Michael Jäger: »Bündnis für Arbeit mit ökologischem Umbau«, in: Das Argument 216 (1996), S. 551 ff.

21

BUND/Misereor (Hrsg.): Zukunftsfähiges Deutschland. Studie des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie GmbH, Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser 1996.

22

So im Überblick Mike Sandbothe unter Bezug auf Kant und Heidegger in ders.: »Die Verzeitlichung der Zeit in der modernen Philosophie«, in Antje Gimmler, Mike Sandbothe und Walther Ch. Zimmerli (Hrsg.): Die Wiederentdeckung der Zeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, zitiert nach www.sandbothe.net/186.html

23

Ilya Prigogine, Isabelle Stengers: Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, München: Piper 1986.

24

Vgl. Julia Voss: »Das Auge der Evolution. Darwin zeichnet den Zufall«, in: Henning Schmidgen (Hrsg.): Lebendige Zeit, Berlin: Kadmos 2005, S. 40 ff.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 1/2008