Michael Ackermann

Editorial

Es war Zufall, dass einige Beiträge der Gesprächsreihe der UNESCO, »Debatten über das 21. Jahrhundert«, in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Anschlägen vom 11.9. gehalten wurden. Dass die Diskussion über »Die Zukunft der Werte« dadurch besondere Anstöße bekam, zeigt der jüngst erschienene gleichnamige Sammelband (edition suhrkamp 2516). Auf simple Zuschreibungen verzichten die zwei Dutzend Beitragenden weitgehend. Die Lektüre lässt erkennen, dass die Verteidigung der Menschenrechte unter allen Umständen Gemeingut ist, die Vorstellung eines für alle gültigen, einheitlich zu verstehenden Universalismus allerdings nicht. Für Jean Baudrillard ist er mit der Globalisierung, der weltweiten Durchsetzung des Tauschwerts, an sein Ende gekommen. Für Arjun Appadurai gilt der Universalismus durchaus, muss aber angesichts der »neuen Kriege« des Terrors auf einen »taktischen Humanismus zurückzugreifen«, »das heißt auf einen Humanismus, der nicht auf festgelegten universellen Prinzipien beruht, sondern auf einem dauerhaften Verhandlungsprozess«.

Aber wer soll mit wem was verhandeln? Welche Werte könnten Grundlage von Verhandlungen sein? Das sind schwierige Fragen, die hier, wenn überhaupt, unterschiedlich und meist nur tastend beantwortet werden. Erstaunlich aber ist, dass alle Beitragenden es im Grunde wie Paul Ricœur sehen: Das Konzept der »Grenze«, das herausragende Medium des Nationalismus, ist gescheitert. Nach Ricœur müssen wir »Kulturen als sich kreuzende Einflüsse verstehen, die von bestimmten Räumen ausgehen und keine Grenzen kennen«. Es gibt demnach keine stabilen kollektiven Identitäten, auch nicht in islamischen Ländern. Eine kritische Sichtung des »Islamismus« gibt es in manchen Beiträgen gleichwohl, aber auch die Kritik an einer monolithischen Sicht auf »den Islam«, die dumm macht. Die tunesische Schriftstellerin und Essayistin Hélé Béji dreht darum die Blickrichtung einmal um: »Tatsächlich ist die moderne Gesellschaft in ihren Verteidigungsreflexen und Überlebensinstinkten eine Stammesgesellschaft. Warum sollte man in der westlichen Welt nicht einfach einen riesigen und sehr komplexen Stamm sehen, der seine Daseinsberechtigung aus einem von der Ethnologie wiederhergestellten kulturellen Bewusstsein bezieht?«

Trifft Hélé Béji damit etwa nicht die Befindlichkeit eines bestimmten »Stammesverhaltens«, welches kulturelle Exklusivität ständig betont? Nehmen wir, zum Beispiel, Roland Koch. Seine Beiträge zu »Aufklärung« und »Werten« sind notorisch von der »brutalstmöglichen« Sorte. Mit seinem Gespür für schwelende Probleme und einfache Parolen tritt er als Sprecher einer »schweigenden Mehrheit« der Deutschen auf. Die Neigung, darauf mit Problemzurückweisung, lautstarker Empörung und ebenso einfachen Parolen zu reagieren, ist leider verbreitet. Das lässt dann Platz für intellektuelle Paten des »Tabubrechers« Koch, die »Linken« als moralisch und ethisch Indifferente auszumachen.

Im Kampf gegen die »Verharmlosung der Täter« verwandelte Frank Schirrmacher in der FAZ (15.1.08) die brutalen Schläger von München kurzerhand in die Träger eines ideologischen Kampfes der ausländischen Minderheit gegen »die Deutschen«. Seine Einlassungen gipfelten in der Formulierung, »dass die Mischung aus Jugendkriminalität und muslimischem Fundamentalismus potentiell das ist, was heute den tödlichen Ideologien des zwanzigsten Jahrhundert am nächsten kommt«.

Die Unsäglichkeit dieses Vergleichs folgt dem enthemmten Prinzip einer medialen »Eskalationskultur«. In der suggestiven Atmosphäre des drohenden Ausnahmezustandes und eines »Krieges der Kulturen« geht somit die Verteidigung der Zivilität und des öffentlichen Raumes gegen jedwede Gewalt unter. Im Namen der Opfer und des »Schutzes der Öffentlichkeit« übertönen die Rufe nach Ausweitung der »Strafkultur« denn auch die Werte von Aufklärung und Sachverstand. In der Indienstnahme des Ressentiments werden selbst die Erkenntnisse der nationalen und internationalen Straf- und Gefängnisforschung ignoriert, die zeigen, dass die »harten Methoden«, etwa in der Jugendstrafe, nur brutalitäts- und rückfallsfördernd wirken.

Im besagten Band Die Zukunft der Werte gibt es einige Hinweise auf die fatalen Folgen der Verknüpfung einer kulturalistischen Argumentation mit der »Logik der Echtzeit«, die jedes Ereignis in den Horizont aufgeregter Kurzfristigkeit stellt. Diese fördert die Hemmungslosigkeit einer parolenhaften Politik, die der »Tyrannei der Dringlichkeit« folgt. Jérôme Bindé führt diese Tendenzen auf die Geschwindigkeit des Wandels zurück. Dieser stimuliert offensichtlich die größtmögliche Schärfe im Wort und die geringstnötige Komplexität in der Sache. Auch im 26. Jahr der Existenz dieser Zeitschrift gilt es diesem Sog zu begegnen.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 1/2008