Gewiss hatte die Antrittsrede die Form einer Predigt. Neben
den intellektuellen und sprachlichen Eigenheiten dieses Präsidenten speist sich
diese Form auch aus der institutionellen Stellung und Machtfülle des Amtes.
Dass dem 44. Präsidenten gelegentlich die Heilserwartungen einer »Lichtgestalt«
entgegengebracht werden, hat etwas mit der Lage des Landes zu tun – zugleich
sind solche Überhöhungen so bezeichnend wie gefährlich. Bezeichnend, weil sie
die Hoffnungen auf die Kraft der Veränderung auf ein Individuum richten.
Gefährlich, weil in einem solchen Verständnis von »Bürgerkönigtum« tendenziell
die Bedeutung von Strukturen und Institutionen unterschätzt wird. Beiden
Haltungen hat Obama allerdings entgegengewirkt.
Anders als deutsche Bundespräsidenten, die wohlfeile »Ruckreden« nicht
verantworten müssen, weiß der amerikanische Präsident, dass er an Ergebnissen
gemessen wird, die nicht von ihm alleine abhängen und nicht durch Beschwörungen
erreicht werden.
Größer als die Gefahren einer Überschätzung der
Möglichkeiten dieser Präsidentschaft sind die realen Herausforderungen. Die
Absage an eine dichotomische Weltsicht stellt einen
großen Fortschritt dar, löst allerdings die dramatischen Konflikte noch nicht
(zu Afghanistan siehe S. 76). Werden die USA bereit sein, das Bewusstsein ihrer
Außerordentlichkeit, die Obama durchaus betonte, in
Grenzen zu halten? Wird sich der Wille zu einer veränderten »leadership« mit der Einsicht in die Realitäten einer nonpolaren Entwicklung der Welt verbinden, wie sie Joscha
Schmierer (S. 6) konstatiert? Werden die USA in einer der tiefsten
Wirtschaftskrisen von ihrem traditionellen Protektionismus lassen? Und werden
die Gebote ökonomischer und politischer Fairness, die ja immer ein Element der
Gefährdung eigener Stärke enthalten, auch die Beziehungen zu den Schwellen- und
Entwicklungsländern und das Verhältnis zu Europa leiten? Wenn in der Krise die
Notwendigkeit für eine Europäische Wirtschaftsunion wächst, so Werner Polster
(S. 10), ergibt sich daraus die Chance für eine verstärkte ökonomische
Kooperation oder nur verschärfte Konkurrenz?
Skepsis gegenüber der Situation bleibt. Der US-Republikaner
Andrew Bacevich sagte in einem Interview: »Unsere
Freiheit ist nur noch eine Konsumfreiheit und ihr fehlt jedes Maß. … Wir
glauben, wir wären anders als alle anderen, ausgestattet mit besseren, edleren
Motiven. … Doch unsere Zwangslage ist ein Auswuchs unserer Lebenskultur, des
American Way of Life. Daran ändert sich nichts durch einen Wechsel im Weißen
Haus. Dazu müssen wir Bürger beschließen, anders leben zu wollen.« (SZ, 16.1.09) Doch was heißt »anders leben«, und lassen
sich die Bürger der USA auf die Herausforderungen der Krise und eine
ökologische Erneuerung ein? Wie weit werden die gewohnten zivilisatorischen
Standards der westlichen kapitalistischen Gesellschaften in der Krise erodieren
(siehe Herbert Hönigsberger, S. 20), und
welche Dimensionen müsste ein Umbruch haben? Läuft nicht
doch wieder alles in Richtung »weiter so«, auch weil das Bedürfnis nach
Sicherheit und Erhaltung des Status quo größer ist als der Wille zu
Veränderungen, etwa zu einem »New Deal«? Woraus sollte dieser bestehen und könnte
er Kontinente übergreifend angelegt und damit Erfolg versprechend sein?
Immerhin hat sich mit
Obama ein neuer »Sound« eingestellt. Er wirkt dialogisch, bürgerrechtsbetont und
unborniert. Diesen »Sound« mag man idealistisch nennen, aber ausgrenzend wirkt
er nicht. Obama setzt erkennbar auf die Notwendigkeit
einer umfassenden Erneuerung des Gemeinwesens und dabei auf die Kräfte der
Vielfalt. Aus jenen Kräften bezog und bezieht die US-amerikanische Gesellschaft
ihre Energie. »Obama widerlegt jene Theorien, die
weltweit den Zusammenstoß der Kulturen und in Amerika selbst den Konflikt der
Volksgruppen befürchten oder herbeireden wollen«, meint Kurt Kister (SZ, 20.1.09). Könnte ein Geist des Gemeinsinns auch
auf die Bundesrepublik überspringen? Jedenfalls sind hier die Potenziale der
Verschiedenheit verbreiteter, als so mancher vermutet, macht selbstständige und
selbstbewusste Kooperativkraft von Verschiedenen ein Kernelement von Freiheit
aus. Wenn bei der jüngsten Wahl in Hessen ein Grüner mit arabischem Namen zum
beliebtesten Politiker aufsteigt, ist das ein Zeichen für einen
fortschreitenden Abschied von altem Deutschtum. Trotz und gegen Koch. Auch dank
Obama?