Von Nahost-Debatte kann kaum noch die Rede sein. Da kann man Joseph Hanimann
zustimmen. Er hat im Feuilleton der FAZ (16.1.) unter dem zweideutigen
Titel »Ins Lazarett mit ihnen« das »Ende der Debatten-Intellektuellen«
konstatiert. Er zielt auf das streitlustige Frankreich, wo vereinzelte
Stellungnahmen »kein strukturiertes Denk- und Kampffeld mehr« haben entstehen
lassen. Mit André Glucksmann rechnet er harsch ab. Dieser hatte Israels
Eingreifen verteidigt und Vorwürfen, es sei unangemessen und
»disproportioniert«, entgegengehalten, das Unangemessene liege in der Natur
aller Konflikte. Hanimann wirft ihm vor, er vertrete »einen Standpunkt, den
vorher nur eiskalte Pragmatiker vertraten«. Glucksmanns Prinzip sei doch gerade
»das Maß des Menschlichen als die über allen Frontverläufen stehende Größe«
gewesen. »Von einer Grenze des Unzumutbaren will er nichts mehr wissen. Wo
gehobelt wird, fallen Späne, heißt der deutsche Ausdruck dafür«, schließt
Hanimann seine Glucksmann-Schelte und wechselt zu Abdelwahab
Meddebs Klage über »Die Toten von Gaza« (FR,
9.1.). Er bezeichnet sie als eine »Entsetzenslitanei«, als »Nullpunkt der
Empörung, des Einspruchs, der öffentlichen Aufrufe«, sozusagen als Negativpause
zu Zolas »J’accuse«. Damit findet er den affirmativen
Bogen zur Aussage Régis Debrays,
Protestieren sei zu einem Beruf und Einspruch zu einem Markenzeichen geworden,
»vielleicht sei die Erfindung des Intellektuellen gar keine gute Idee gewesen,
… sein Verschwinden sei also kein Grund zur Klage«…
Einige Restexemplare gibt es
noch, die das tun, was seit Jahrzehnten getan wird: Ihre Pro- oder ihre Kontra-Meinung in die mediale Auslage stellen. Die Welt
(8.1.) präsentiert eine »Kontroverse« zwischen Mariam Lau und Clemens Wergin, ob Israel einen »gerechten Krieg« führt. Schon mit
der Überschrift ist klammheimlich die Falle gestellt, in die beide tappen; der
Krieg, der gerechte, ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Der
Krieg ist ja da, der wird geführt, da gibt es nichts mehr zu rütteln, schon gar
nichts mehr zu hinterfragen, nur noch zu bewerten, ob er ein »gerechtes Mittel«
ist. So klar ist das mit den Kriegen? Und wenn, ist es nicht eines der ganz
großen Probleme, ihn zu beenden, über den Status quo eines Waffenstillstands
hinaus? Mariam Lau exekutiert eine »Theorie vom gerechten Krieg«, die vier
Dinge verlangt, darunter auch »gute Aussichten auf Erfolg« – das ist eigentlich
der springende Punkt, von dem sie überhaupt nicht spricht: nämlich der Frieden.
Clemens Wergin behauptet, Israel führe einen »gerechten
Krieg«, der »auf eine paradoxe Weise« sogar »die Friedensformel ›Land gegen
Frieden‹ stärkt«. Das Paradoxe erklärt er überhaupt nicht, auch nicht, ob nun
irgendwelche Zeichen darauf hinweisen, dass der Friedensprozess wiederbelebt
werde. Oder sollen weitere sechzig Jahre Krieg und Status quo andauern? So
bleibt das eine gymnasiale Schreibübung, in der das Gerechte einfach per
Behauptung in der Welt ist.
Dagegen ist Meddebs »Entsetzenslitanei«
substanzieller. Er weiß zwar auch
nicht, wie weiter. Aber er macht eben keine intellektuelle Geistesblitzübung.
Er sagt: Mich graut. Vor Hamas, vor Israel, vor Nasrallah, vor Ägypten, vor den
arabischen Staaten, vor dem Märtyrertum, vor Al Jazeera,
vor dem Islamismus, vor Zipi Livni,
vor dem Jihad, vor der israelischen Presse, Horror.
Er bietet keinen hunderttausendsten ungehörten Lösungsvorschlag, nur dieses
existenzielle Grauen, das auch aus den Blogs spricht,
die während der israelischen Angriffe in Gaza geschrieben wurden. Denn es gibt
Berichte aus Gaza, längst funktionieren »Informationssperren«, wie das die USA
in Afghanistan und Irak oder die Chinesen während der Tibet-Krise versucht
hatten, nicht mehr. Hier wie dort gibt es eine Menge Portale bei Servern wie
blogspot.com oder wordpress.com, oder NGOs bieten mit
Internetplattformen (gisha.org, globalvoiceonline.org) Möglichkeiten der
Meinungsäußerung. Vorgänge wie die Bombardierung der UN-Schule in Gaza wären
sonst für die internationalen Medien gar nicht in dieser Konkretheit
nachvollziehbar gewesen. Nur allzu verständlich, dass Meddeb
das Grauen ins Gemüt fährt, etwa beim instrumentalisierten Umgang mit den
Bildern der Toten, »das Grauen vor der rückwärtsgewandten Debatte über den
Begriff des shahid, des Märtyrers«. Das mag
schon alles festgestellt worden sein, die Intellektuellen haben sich in den
letzten Jahren im Aufgreifen aller möglichen Themen überboten, der (mediale)
Jahrmarkt der Meinungen ist bekanntlich immer schnelllebiger geworden.
»Beschaulichkeit«, also länger über ein Thema nachzudenken, es gar beharrlich
zu verfolgen, ist nicht gerade en vogue. Das »Nahost-Thema« ist zwar ein
Dauerbrenner, ein 60-jähriger, viele begleitet es schon durch das ganze Leben,
zwei Flüchtlingsgenerationen sind schon in den Lagern gestorben. Und westliche
Laptop-Intellektuelle philosophieren im immer noch recht satten Europa über den
»gerechten Krieg«.
Clemens Wergins
Behauptung vom »gerechten Krieg« basiert darauf: »Israels Ziel ist es nur,
einen länger anhaltenden echten Waffenstillstand zu erreichen – und zu verhindern,
dass der Iran weiter eine Terrorarmee direkt vor seiner Tür aufbaut.« Unbestritten, dass es große Probleme gibt, auch mit der
zwielichtigen Rolle ägyptischer Militärs in der Belieferung von Rafah (siehe dazu Jerusalem Post, 15.1., über die
Tunnel von Rafah und die Doppelrolle ägyptischer
Behörden). Das ist im Grunde auch die Argumentationsfigur, die der Zentralrat
der Juden in Deutschland in seiner Erklärung »Unsere Solidarität mit Israel«
vom 9. Januar entwickelt. Mit einem Unterschied: der Zentralrat erklärt
dezidiert in Bezug auf die massenhaften Opfer unter der Zivilbevölkerung: »Es
gibt keinen sauberen und ehrenhaften Krieg.« Wergin findet auf der anderen Seite seine Entsprechung in
Helga Baumgarten, die sich in einem einseitigen Artikel in der taz (6.1.) um die strategischen Ziele der Hamas
herumschifft, indem sie das Wahlprogramm der Islamisten
von 2005 als Maßstab ihres politischen Handelns ausführt. Ein redaktioneller
Kasten (»Hamas-Charta«) über die grundsätzlichen Ziele der Hamas relativiert
diese Blauäugigkeit.
Da ist, ebenfalls in der taz (9.1.), der Kommentar von Micha Brumlik weiter.
Brumlik versucht ein »Gedankenexperiment«: Was passiert, wenn Israel und »Hamastan« sich gegenseitig »dulden« und Handel treiben,
»ihre politischen Identitäten allmählich aufgeben und sich in einer EU-nahen, von den UN garantierten Konföderation näher
kommen«? Sympathisch ist die Richtung dieses Gedankens jenseits aller
(Un-)Möglichkeiten. Brumlik kennt natürlich die reale Geschichte zu gut, um in
Optimismus zu verfallen. Er verplappert sich ohnehin ein wenig, denn an die
Aufgabe politischer Identität der Hamas glaubt er nicht im Mindesten. Damit experimentiert
er nicht wirklich. Deswegen wird der Nahe Osten dann auch unvergleichbar;
BRD/DDR oder China/Taiwan bieten keine Muster, wie sich auch ideologisch
Verfeindete näher kommen können. Hamas ist einfach jenseits von allem, was man
kennt, dazu kommt, dass Israel auch so seine Unfähigkeiten hat (etwa sich aus
Westjordanland zurückzuziehen). Bleibt ihm nur die vage Hoffnung, dass die
Ideenträger sich wandeln, und somit »die tödliche Feindschaft der Ideen
stirbt«; und das historische Faktum (»die Zeit ist abgelaufen«), dass das
Hamas’sche Prinzip von »Gottesstaat und Terrorzelle« von gestern ist. Zumindest
angedacht ist hier einmal etwas, das in diesem Jahrhundertkonflikt wohl
grundsätzlich notwendig ist: Eine etwas andere Friedensmöglichkeit zu denken.
So aber bleibt Brumlik in der Überschrift gefangen: »Zur Gewalt keine
Alternative«.
Was sonst? Man kann seinen Pessimismus noch
vertiefen, vertieft man sich in Medien
und Foren der muslimischen Welt. Bei aller Zerrissenheit, die sich zwischen
muslimischen Staaten, Staatengruppen und religiösen Orientierungen äußert, findet
sich eine »Entsprechung« zu westlichen Medien. »Krieg als Fortsetzung der
Politik mit anderen Mitteln« ist auch im Orient die geläufige Auffassung. Wenig
Gedanken werden daran verschwendet, wie man zu einem Frieden kommen könnte. Ein
bequemes Polster liefert immer noch die Vorlage aus dem Weißen Haus und dem
Pentagon. Das »aggressive und einseitige Auftreten der USA in der Region« kam
auf dem einen »Gipfel« in Doha/Qatar
ausgiebig zur Sprache. Der andere, rivalisierende »Notgipfel« in Riyadh mit Ägypten, Kuwait, Saudi-Arabien und der Fatah
hielt sich zurück. Die Spaltung in Falken und Tauben ist offensichtlich, so
widersprüchlich die Lager auch sind. Am duellierenden Gipfel in Qatar nahmen Syrien, Algerien, Komoren,
Libanon, Mauretanien, Sudan, Djibouti, Libyen,
Türkei, Irak, Senegal und der Iran, also neun Mitglieder der Arabischen Liga,
und die Hamas teil; somit nicht nur Irans Ahmadinejad
und Hamas-Exilchef Khalid Meshaal,
sondern auch Tayyip Recep Erdogan, der die starken Demonstrationen in der Türkei
gegen Israel rechtfertigte, und der sunnitische Vizepräsident des Irak, Tareq Al-Hashemi. Von den
religiösen Strömungen her trafen sich Hinz und Kunz in ihrer Feindschaft gegen
Israel vereint – wie umgekehrt das Bonmot kursiert, »Israels schlechtester
Albtraum wäre die Demokratisierung der arabischen Länder« (M. J. Rosenberg vom
Israel Policy Forum).
Während die Öffnung Gazas
verlangt wird, werden die wenigen Möglichkeiten der Verständigung aufgekündigt.
In Doha verkündete Meshaal
martialisch, Gaza sei der »Tod des saudischen Verständigungsplans« (Al Jazeera, 17.1.) Die Türkei, zuvor noch aktiv in der
Einleitung israelisch-syrischer Geheimdiplomatie, geht deutlich auf Distanz zu
Israel, ebenso andere Staaten mit guten Beziehungen zu Israel. In Israel-nahen US-amerikanischen Journalen mehren sich
kritische Kommentare: Fawaz A. Gergez
(The Nation, 16.1.) äußert »Zweifel
über die zukünftige Integration Israels in die Region«. John J. Mearsheimer behauptet in The
Conservative American (26.1.), überhaupt ganz
andere Ziele Israels erkennen zu können, denen der Gaza-Krieg dienen soll,
nämlich »die Schaffung eines ›größeren Israels‹«. Er beruft sich dazu auf Dov Weisglass, Sharons Berater,
der den Abzug Israels aus Gaza ausdrücklich als Einstellung des Friedensprozesses
mit den Palästinensern bezeichnet hatte. Aber was wollte man? Aus einer
neokonservativen Sicht ein neues Nah- und Mittelost erzwingen? Mit welchen Mitteln?
Bleiben muss: Land gegen Frieden. Das meint auch der Republikaner John Hulsman (Internationale Politik, 1/09), der Obama und der EU empfiehlt, »sich von Oslo und der Roadmap (zu) verabschieden«. Sich auf wenige Ziele
konzentrieren, diese konkret formulieren und anpacken. Die USA und Europa
könnten arbeitsteilig vorgehen, jeder seine jeweiligen Stärken und
Verhandlungspositionen nutzen. »Alle wichtigen Themen müssen zusammen behandelt
werden, wobei sowohl Israelis als auch Palästinenser gleichzeitig
Zugeständnisse machen müssen, die sofort vergütet werden müssen.« Das sollte sich in einem engen Rahmen abspielen, auf
höchsten Ebenen, mit großen Vollmachten – Geheimdiplomatie sozusagen. »Die
regionalen Akteure, nicht die internationale Gemeinschaft, müssen im
Friedensprozess die Führung übernehmen.« USA und EU
haben dabei viel zu managen, auf die Akteure einzuwirken, auch materielle
Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen.
Geschrieben vor dem Krieg,
könnte man resignierend einwerfen. Ein paar schwache, immerhin neue Zeichen am
Horizont gibt es, sie kommen aus den USA. Sie kommen aus dem Umfeld der neuen
Regierung Barack Obama. Als
Nahost-Berater wird Richard N. Haass genannt,
Präsident des Rats für Auswärtige Beziehungen. Über eine neue US-Außenpolitik
hat Haass weit reichende Vorstellungen, wie sein
Aufsatz in Foreign Affairs
(»The Age of Nonpolarity«,
Mai/Juni 2008) bereits angedeutet hat. In Newsweek (19.1.) schreibt er
nun zu Nahost, dass es keine unlösbaren Krisen gäbe: »Jede Krise trägt in sich
den Keim zu ihrer Lösung.« Er zieht Parallelen zu
Nordirland: Auch dort erhielt die Minderheit nicht alles, was sie forderte,
aber viel mehr, als sie hatte. Eher rascher werde man auf eine gerechte
Regelung des Nahostkonflikts eingehen, ausgehend von den Grenzen von 1967,
entsprechenden Regelungen für gegenseitige Sicherheit, finanziellen Ausgleich
für Flüchtlinge, Sonderstellung für Jerusalem und Gaza und besonderer Schutz
für heilige muslimische Stätten. Gespräche auf unterer Ebene mit Hamas. Obamas Team werde, schreibt er am 14.1. im Sydney Morning Herald, eine Reihe von Maßnahmen setzen, Verhandlungen
auf verschiedenen Ebenen führen. Von Kontakten zu Hamas berichtet der Guardian
am 9.1., auch hier im Zusammenhang mit Haass, der
auch mit den Syrern und mit der iranischen Regierung sprechen möchte. Von
Kriegführen hält er wenig, hat aber einiges an konkreten Angeboten im Köcher.
Nach Meddebs Grauen vielleicht eine neue Runde?