Der mittlerweile drei Jahrzehnte währende Prozess der
Wirtschaftsreformen hat die Volksrepublik grundlegend und nachhaltig verändert.
China hat sich von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft gewandelt. Dieser
Wandlungsprozess hat gleichzeitig eine Fülle von sozialen Problemen mit sich
gebracht. Unser Autor beschreibt die verschiedenen Felder, zeigt, warum die
zentrale Führung noch immer in der Bevölkerung Legitimität und Vertrauen
besitzt, welche Diskussionsprozesse im chinesischen Diskurs über politische
Reformen im Gang sind. Harmonische oder demokratische Gesellschaft?
Nach dem Tod Maos hat sich
das politische System von einem totalitären Staatswesen, in dem ein einzelner,
charismatischer Führer uneingeschränkte Macht ausübte, die Partei die totale
Kontrolle über die Gesellschaft übernommen hatte und mittels Massenterror
herrschte und in dem die Lebensbedürfnisse der Menschen keine Rolle spielten, sondern
den utopischen Vorstellungen Maos geopfert wurden, zu einem autoritären System
gewandelt. In Letzterem existiert eine kollektive politische Führung, das
System zeichnet sich durch zunehmenden Pluralismus aus, in dem keine exklusive
Ideologie (»Maoismus«) mehr existiert, die Bevölkerung nicht mehr permanent
mobilisiert wird und ein Mindestmaß an Beteiligungsmöglichkeiten existiert.
Mussten die Menschen in der Mao-Ära permanent an politischen Bewegungen
partizipieren, so wird heute Nichtbeteiligung akzeptiert.
China hat sich in kurzer
Zeit erfolgreich von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft gewandelt. Das Leben
der großen Mehrheit der Bevölkerung hat sich signifikant verbessert, die
Menschen besitzen heute größere Rechte als jemals zuvor. Seit Ende der
1970er-Jahre können sich die Menschen wirtschaftlich selbstständig machen und
seit 1987 offiziell auch große private Unternehmen gründen. Zudem haben mehr
als 200 Millionen Menschen seit Ende der 1970er-Jahre die Armut abgelegt –
zweifellos ein gewaltiger Beitrag zur Verbesserung der Menschenrechte. Die
Landbevölkerung kann mittlerweile in den Städten Arbeit suchen, und freie
Arbeitsplatzwahl ist möglich geworden. Durch eine Vielzahl von Gesetzen, den
Ausbau des Gerichtswesens und die Zulassung von Rechtsanwälten gibt es größere
Rechtssicherheit, wenn auch vor allem in den Städten und im nicht-politischen
Raum. Auch politisch andere Meinungen können geäußert werden, solange man nicht
gegen die Parteiherrschaft aktiv wird. Das Internet hat sich zu einer großen
Plattform der öffentlichen Meinung und Diskussion entwickelt. Auch da, wo es
politisch zensiert wird, finden die Internetnutzer Mittel und Wege, sich über
politisch ungeliebte Seiten zu informieren oder auszutauschen. Die Medien
wurden ermuntert, soziale Probleme aufzugreifen und entsprechend zu
recherchieren und zu berichten, auch wenn es hier immer wieder Eingriffe vor
allem lokaler Zensurbehörden gibt. Die Gründung von Vereinen und Vereinigungen
wurde zugelassen und gesetzlich abgesichert. Auch wenn der Staat versucht, die
Vereinigungen strikt zu kontrollieren, so gibt es mittlerweile Hunderttausende
von Organisationen, die sich für berufliche, fachliche, wissenschaftliche,
hobbymäßige, aber auch soziale und Umweltaufgaben engagieren.
Gleichzeitig hat der
geschilderte Wandlungsprozess eine Fülle von sozialen Problemen mit sich
gebracht, die für die politische Führung eine gewaltige Herausforderung bedeuten,
wie wachsende Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land, innerhalb städtischer
und ländlicher Schichten sowie zwischen Regionen. Korruption ist ein gravierendes
und weit verbreitetes Phänomen ebenso wie Kaderwillkür, vor allem im ländlichen
Raum. Doch bei allen Problemen dürfen wir zwei Dinge nicht vergessen: Einmal
resultieren viele dieser Probleme aus der Tatsache, dass China noch immer ein
Entwicklungsland ist, in dem Strukturen eines modernen Staates und Rechtssystems
noch im Aufbau begriffen sind; zweitens resultieren viele Probleme aus dem
Umbau von einer Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft. Im Hinblick auf alle
sozialen Probleme sucht der Staat neue Lösungen, was Zeit braucht.
Gleichwohl gibt es
institutionelle und strukturelle Probleme, die zu wachsender Unzufriedenheit
vor allem unter Intellektuellen führen, die rasche politische
Reformen anmahnen. Dazu zählen die Diskrepanz zwischen Institutionalisierung
und Implementierung von Recht, fehlende checks
and balances, die Verfolgung von Bürgerrechtlern
und Rechtsanwälten oder die Einschränkung der Berichterstattung in den Medien.
Auch ist die Grundidee der Menschenrechte, der Schutz des Individuums vor
staatlicher Willkür, in China noch nicht so recht angekommen. Trotz aller
Verbesserungen im Alltagsleben, vor allem im urbanen Raum, wo eine zunehmend
selbstbewusste Mittelklasse ihre Rechte immer mehr wahrnimmt, werden auf dem
Land Personen, die sich für Rand- und Minderheitengruppen oder Entrechtete
einsetzen oder soziale Missstände anprangern, häufig verfolgt, bedroht oder
weggesperrt. Dazu gehören Personen wie Hu Jia, der
sich für Aids-Opfer eingesetzt und im Oktober 2008 den europäischen
Sacharow-Preis erhalten hat, aber auch Bürgerrechtler und Anwälte, die sich
gegen die Veruntreuung von Entschädigungen im Rahmen des Baus des
Drei-Schluchtendammes gewandt haben, oder das Vorgehen gegen Bauernanwälte,
kritische Journalisten oder Angehörige der christlichen Untergrundkirche. Durch
die Tolerierung von Schikanen, Verfolgungen oder Folter von Personen, die sich
gegen soziale Missstände, nicht aber gegen das politische System an sich
richten, schafft sich der Parteistaat seine Gegner selbst. Von daher weist die
Entwicklung Chinas einen ambivalenten Charakter auf.
Autorität und doch stabil – und legitim?
In der
politikwissenschaftlichen Literatur ist immer wieder die These aufgestellt
worden, autoritäre Staaten seien aufgrund schwacher Legitimitätsbasis, übermäßigen
Zwanges, Überzentralisierung von Entscheidungsfindung und der Dominanz
persönlicher Macht über institutionelle Normen fragile Gebilde. Der ökonomische
Erfolg und die relative Stabilität Chinas in den letzten Jahrzehnten haben die
Frage nach den Gründen für diese Stabilität aufkommen lassen. Der
US-amerikanische Politikwissenschaftler Andrew Nathan spricht von einem resilient authoritarianism
und argumentiert, China stelle ein autokratisches System dar, das auf
gesellschaftliche Bedürfnisse positiv reagiere und sich daher über lange Zeit
an der Macht zu halten vermöge.(1)
Legitimität bezieht sich
zunächst auf den Glauben der Beherrschten an die Rechtmäßigkeit einer
Herrschaft. Max Weber unterschied zwischen drei Grundtypen legitimer Herrschaft:
charismatische, traditionale und rationale. Die Erstere finden wir in der
Mao-Ära, mittlerweile befindet sich China in einem Übergang von traditionaler
zu rationaler Herrschaft. Das traditionale Moment besteht in der Argumentation,
dass die Kommunistische Partei China befreit habe und nunmehr die
Modernisierung anstrebe. Zugleich spielen traditionale lokale Institutionen wie
Clans, Tempelvereinigungen oder Dorfgemeinschaften im ländlichen Raum wieder
eine wichtige Rolle als politische Ordnungsstrukturen. Zudem bemüht sich die KP
durch Verrechtlichung, Rationalisierung der
Verwaltung und Vorschriften Regierungshandeln zu verbessern.
Neuere Untersuchungen
zeigen, dass die zentrale Führung und somit das politische System unter der
Bevölkerung Legitimität und Vertrauen besitzt und die große
Mehrheit der Bevölkerung das gegenwärtige politische System unterstützt.(2) Dabei unterscheiden die Menschen zwischen der
Legitimität der Zentralbehörden und der der lokalen Behörden. In die Ersteren
setzen sie Vertrauen, in die Letzteren nicht oder eher nicht. Diese
Unterstützung gründet sich auf eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung,
die staatliche Kapazität zur Erreichung nationaler Ziele (wie die Wiedereingliederung
Hongkongs und Macaos oder ein erfolgreiches Raumfahrtprogramm) sowie auf die
Bewahrung politischer Stabilität, das heißt auf eine stabile Ordnung sowie auf
die Überzeugung, dass der zentrale Parteistaat China vor einem Schicksal
ähnlich dem der Sowjetunion bewahrt hat. Von daher ist das politische System
Chinas keineswegs in Verfall begriffen, sondern erweist sich als ein
»elastisches« autoritäres System.
Die Gründe für diese
Legitimität sind mannigfaltig. Zum einen wirkt der Parteistaat als Modernisierungs-
und Sozialgarant und ist Hoffnungsträger nationaler Interessen (Modernisierung,
Wiedervereinigung mit Taiwan). Die Menschen erwarten von ihm zugleich, dass er
als Regelsetzer fungiert und ein funktionierendes Rechtssystem schafft. Ein
zentrales Moment für seine Legitimierung ist die spezifische Furcht der
Menschen vor sozialer oder politischer Instabilität, ein Grund dafür, weshalb
die Bewahrung von Stabilität oberste Priorität in der Politikgestaltung
besitzt. Weitere Faktoren sind die Output-Legitimität, das heißt dass die
Beschlüsse und Richtlinien der zentralen Führung weitgehend den Bedürfnissen
der Bevölkerung entgegenkommen, sodann die erfolgreiche Gleichsetzung von
Nation und Parteistaat, wobei Kritik am System als Kritik an der Nation bewertet
wird.
Gleichwohl sieht sich die
Legitimität des Parteistaates zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Dazu
zählen der Verlust der Führungsideologie sowie des utopisch-kommunistischen
Projekts, die bereits oben erwähnten sozialen Spannungen, die Herausforderungen
durch den wachsenden öffentlichen Raum und die Informationsvielfalt sowie durch
die gegenwärtige globale Finanz- und zukünftige Wirtschaftskrisen. Politische
Reformen werden daher, vor allem unter Intellektuellen und der Mittelschicht,
aber auch unter Funktionären, zunehmend als dringlichste Aufgabe angesehen.
Zahl und Umfang der Proteste
der Bevölkerung haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Vor allem auf
lokaler Ebene haben sich die Proteste in den letzten Jahren radikalisiert. Vielfach
lösten kleinere Zwischenfälle große und gewaltsame Proteste aus. Yu Jianrong, ein Protestforscher
der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, hat jüngst dargelegt, dass
solche Proteste sich meist spontan ereignen und nicht organisiert sind, die
Beteiligten mit den Ursachen in der Regel nichts zu tun haben und die Proteste
sich häufig gewaltsam entladen. Die Gründe dafür seien darin zu suchen, dass
benachteiligte Schichten wie Wanderarbeiter und Arbeitslose sich daran
beteiligten, der lokale Staat bei den Menschen Vertrauen eingebüßt habe und die
traditionellen Instrumente staatlicher Kontrolle nicht mehr wirkten. Das
Petitionswesen des Staates, mit Beschwerdeämtern auf
allen Verwaltungsebenen, werde nichts bewirken, weil Probleme auf der lokalen
Ebene nicht gelöst werden könnten, unterstünden diese Ämter doch den jeweiligen
Lokalbehörden. Die zentrale Ebene sei mit der Flut an Petitionen überfordert,
und die Nichtlösung von Problemen führe zu erheblichem Vertrauensverlust in
diese Ebene. Zugleich werde dadurch das Rechtssystem geschwächt, weil die
Hoffnung genährt würde, Petitionsämter könnten
Gerichte ersetzen. Die Folge sei eine Radikalisierung der Petenten.
Yu rät daher dringend zu politischen Reformen, einer
Verminderung der KP-Kontrolle über das politische und rechtliche System sowie
zur Schaffung unabhängiger Kanäle politischer Partizipation und zur Lösung der
Beschwerden der Bürger.(3) Zwar hat die Parteiführung in den letzten Jahren das
Maß an behördlicher Transparenz, Presseberichterstattung und Kontrolle
ausgeweitet, aber ihren »Führungs-« und Kontrollanspruch dabei nicht
aufgegeben.
Der chinesische Diskurs über politische Reformen
Innerhalb Chinas existiert
keine einheitliche Meinung über die Frage und den Umfang politischer Reformen.
Eine dominante Position vor allem unter Intellektuellen argumentiert, dass es
gegenwärtig in China keine grundlegenden Widersprüche zwischen politischer,
ökonomischer und intellektueller Elite mehr gebe. Die ökonomische Elite (primär
Unternehmer und Manager) sei an ruhiger Unternehmenstätigkeit und an Gewinnen interessiert,
nicht aber an Demokratie. Ökonomische Entwicklung und die damit verbundene
Entwicklungslegitimität, die negativen Erfahrungen des Zusammenbruchs der
Sowjetunion mit seinen Folgen für die innere Entwicklung der Nachfolgestaaten,
die »Anti-China-Politik« der USA und die Inklusion
von Intellektuellen in politische Entscheidungen und Diskurse habe auch die
Haltung der Intellektuellen gegenüber der Partei verändert. Die Bevölkerung sei
vornehmlich unzufrieden mit Korruption, Arbeitslosigkeit und wachsender
sozialer Ungleichheit, ohne dass sich jedoch politisches Veränderungspotenzial
formiere. Eine Demokratiebewegung sei kaum zu erwarten, da die Intellektuellen
eher konservativ seien und parteiorientiert argumentierten. Eine lang anhaltende
Wirtschaftsrezession, verbunden mit einer Finanzkrise und Inflation könnten
allerdings die politische Stabilität nachhaltig beeinträchtigen. Korruption sei
zwar ein Destabilisierungsfaktor, ein allzu entschiedenes Vorgehen gegen
Korruption könne allerdings das Elitenbündnis beeinträchtigen, weil viele
mittlere und untere Kader dann einkommensmäßig
Nachteile zu erwarten hätten. Das gegenwärtige autoritäre System sei weithin
akzeptiert, die Bevölkerung interessiere sich in erster Linie für die Lösung
der unmittelbaren Tagesprobleme. Demokratie stünde zwar auf der Tagesordnung,
sei aber erst in der Zukunft zu realisieren.(4)
Derzeit gibt es hinsichtlich
der Ziele einer politischen Reform im Wesentlichen fünf Auffassungen: a)
politische Stabilität durch Demokratisierung, demokratische Rechte und die
Einschränkung staatlicher Macht; b) Förderung wirtschaftlicher Entwicklung
durch politische Reformen (inklusive Verwissenschaftlichung, Demokratisierung,
Transparenz und Professionalisierung); c) Schaffung eines unabhängigen Rechts
als Voraussetzung für Demokratisierung; d) Effektivierung
des politischen Systems; e) politische Demokratisierung als bewusst
anzugehendes längerfristiges Ziel. Dabei findet eine Unterteilung in Kurz- und
Langzeitziele politischer Reformen statt. Die Ersteren müssten die Effektivierung staatlichen Handelns und Begrenzung staatlicher
Macht zum Ziel haben, wobei grundsätzliches Ziel die politische
Demokratisierung sei. Andere wiederum sehen in der Marktwirtschaft eine
zentrale Voraussetzung für moderne Demokratie. Eine starke Strömung
argumentiert, zunächst müsse die Demokratie innerhalb der Partei gefördert
werden, erst dann könne man ein demokratisches System außerhalb der KP
aufbauen. Weitere, graduelle politische Reformen sollten die Autorität des
Nationalen Volkskongresses stärken, die Unabhängigkeit des Rechts,
Pressefreiheit und die Kontrolle durch die Öffentlichkeit.(5)
In diesem Zusammenhang ist
ein im Jahre 2006 erschienenes Buch mit dem Titel Demokratie ist eine gute
Sache ein interessantes Beispiel für den Diskurs um Demokratisierung. Der
Autor, Yu Keping, einer der
einflussreichsten Intellektuellen im gegenwärtigen China und Berater der
zentralen Führung, argumentiert, dass Demokratie grundsätzlich etwas Positives
sei – für das gesamte Land und Volk. Nur für eigensüchtige und korrupte
Funktionäre sei Demokratie an sich etwas Negatives. Unter demokratischen
Bedingungen nämlich müssten Funktionäre von den Bürgern gewählt werden und
seien auf die Unterstützung der Wählerschaft angewiesen. Ihre Macht würde durch
die Bürger begrenzt, sie könnten nicht beliebig schalten und walten, sondern
müssten mit den Bürgern verhandeln. Demokratie verlange von daher den aktiven
Bürger und Beamte, die deren Interessen vertreten würden. Andererseits sei aber
nicht alles an Demokratie gut. Demokratie könne dazu führen, dass Bürger auf
die Straße gehen und protestieren, Versammlungen abhalten und politische
Instabilität verursachen. Durch sie könnten Probleme verkompliziert werden,
wodurch die politischen und administrativen Kosten erhöht würden. Häufig
führten demokratische Verhältnisse zu langatmigen Verhandlungen und Debatten
und somit zur Verzögerung von Entscheidungen und zu Ineffizienz. Jedoch sei
unter allen bisherigen politischen Systemen die Demokratie dasjenige mit den
geringsten Mängeln und das beste bisher von der Menschheit hervorgebrachte
politische System. Demokratie sei nicht nur ein Mittel, Fragen des Lebens der
Menschen zu lösen, sondern sei auch ein Ziel menschlicher Entwicklung. Ohne
demokratische Rechte sei das menschliche Wesen unvollkommen. Zwar weise die
Demokratie auch Unzulänglichkeiten und Defizite auf, dafür aber seien Politiker
verantwortlich. Demokratie erfordere zwar spezielle ökonomische, kulturelle und
politische Voraussetzungen, doch letztlich würden sich alle Nationen zur
Demokratie hin entwickeln. Dabei beruft sich Yu
pflichtgemäß auf die marxistischen Klassiker – ohne Sozialismus keine
Demokratie – und auf Parteichef Hu Jintao, der
erklärt habe, dass es ohne Demokratie keine Modernisierung geben könne.
Allerdings müsse sich eine solche Demokratie an den Spezifika
Chinas orientieren.
Neu und außergewöhnlich an Yu Kepings Buch ist die
Neubewertung der Rolle von Demokratie, die durch einen einflussreichen
politischen Berater Chinas als bislang bestes politisches System
charakterisiert wird. Als dieser Beitrag Ende 2006 in der Zeitschrift der
Zentralen Parteihochschule nachgedruckt wurde, kam es im Anschluss zu einer
ausgesprochen kontroversen, breit geführten Diskussion in China. In einem
Beitrag in der Parteizeitung Renmin Ribao vom Februar 2007 unterstützte die Parteiführung jedoch
Yus Position. Auch dies verdeutlicht, dass
Zukunftsentwürfe nicht tabu sind, solange die Parteiherrschaft nicht direkt
aktiv angegriffen, das heißt political correctness im Sinne der KP-Führung eingehalten wird.(6)
Demokratie »einführen«?
In einem Anfang 2008
veröffentlichten Bericht riefen Wissenschaftler der Zentralen Parteihochschule
zu politischen Reformen auf. Demokratische Änderungen und eine Beschränkung der
Macht der KP seien notwendig, um politische Instabilität zu verhindern. Es
wurden größere Pressefreiheit und ein Pressegesetz gefordert, eine Einschränkung
der Zensur, größere Religionsfreiheit, eine Demokratisierung des Parlaments
(Nationaler Volkskongress) unter anderem durch Einführung echter Wahlen. Bis
2020 könne dann eine moderne »Zivilgesellschaft« geschaffen werden, danach eine
reife Demokratie. Im Sinne politischer Korrektheit wurde zugleich erklärt, all
dies könne nur unter Führung der KP stattfinden.(7) Ende Dezember 2008 schlugen
Professoren der Parteischule vor, zuerst in einigen Provinzen und auf
experimenteller Basis solche politischen Reformen durchzuführen.(8)
Auf einer Tagung hochrangiger
parteinaher Intellektueller im Dezember 2008 wurde ebenfalls über Fragen der
Gewaltenteilung (u. a. die Einrichtung eines Verfassungskontrollorgans) und
eine eigenständigere Rolle der Parlamente diskutiert.(9)
Die »Charta 08«, Ende des
Jahres 2008 von über 300 oppositionellen chinesischen Intellektuellen unter
Federführung des ehemaligen Philosophieprofessors, Schriftstellers und
Bürgerrechtlers Liu Xiaobo verfasst (in Anlehnung an
die tschechoslowakische »Charta 77«) und von über 6000 Chinesen unterschrieben,
geht in eine andere Richtung. Sie setzt sich über die von der KP-Führung
gesetzte »politische Korrektheit« (Akzeptanz der Parteiherrschaft hinweg) und
fordert quasi ein demokratisches Mehrparteiensystem mit Gewaltenteilung,
Föderalismus, unabhängigem Recht, bürgerlichen Freiheitsrechten
(Organisations-, Rede- und Versammlungsfreiheit).(10) Viele der angesprochenen
Punkte der Charta werden auch schon seit langer Zeit von parteinahen Intellektuellen
diskutiert. Das Neue daran ist aber, dass es sich um ein umfassendes Programm
handelt. Insgesamt liest sich die Charta wie ein Zukunftsprogramm und womöglich
ist sie auch als solches gedacht, will möglicherweise nur die Diskussion beflügeln
und ist Ausdruck der Ungeduld, mit der viele Intellektuelle auf politische
Reformen warten. Denn konkrete Hinweise auf die Umsetzung des Programms werden
nicht gegeben. Genau das aber ist, was Yu Keping in seinem oben erwähnten Buch eingefordert hat:
Demokratie sei zwar das beste aller politischen Systeme, es komme aber darauf
an, wie man denn dorthin gelangen könne, was unter den derzeit komplexen und
heterogenen Strukturen des Transformationsprozesses mehr als schwierig sei.
Entsprechend hat der frühere tschechische Präsident, Mitinitiator der Charta 77
in der Tschechoslowakei und Schriftsteller Vaclav Havel im Wall Street
Journal vom 19.12.08 geschrieben, China 2008 sei nicht die Tschechoslowakei
1977. In vieler Hinsicht sei China heute freier und offener als sein Land vor
30 Jahren. Aber die Reaktion der chinesischen Behörden gegenüber der »Charta
08« weise viele Parallelen zu der damaligen Regierung seines Landes auf.(11)
Stabile Demokratie lässt
sich in der Tat nicht einfach »einführen«, wie Irak und Afghanistan
verdeutlichen. Sie benötigt bestimmte Voraussetzungen, um existieren und sich
stabil entwickeln zu können. So zum Beispiel:
– Grundstrukturen einer
Zivilgesellschaft, das heißt größere Freiheiten für die Medien, für
Nichtregierungsorganisationen und die Herausbildung bürgerlicher Werte und Einstellungen.
– Ein unabhängiges
Rechtssystem, das den Einzelnen und Gruppen vor staatlicher Willkür schützt.
– Für ganz wichtig halte ich
die Herausbildung von »zivilisatorischer Kompetenz«, das heißt das Entstehen
von Bürgern, die Bürgersinn entwickeln und deren Denken und Handeln sich
stärker auf die Gesellschaft richten. Bislang orientieren sich die Menschen
noch immer stärker an Gruppen wie Familie, Clan, Dorf- und Arbeitsgemeinschaften.
Ein Bericht des chinesischen Staatsrates hat im Vorjahr verdeutlicht, dass
gegenwärtig nur rund 1,8 Prozent der Bevölkerung ehrenamtlich tätig sind (BRD:
ca. 45 %). Teil der zivilisatorischen Kompetenz ist aber auch, dass Staat und
Individuen lernen, andere Meinungen zu akzeptieren, mit Andersdenkenden zivil
umzugehen und Konflikte friedlich zu lösen.
Harmonische Gesellschaft?
Neue Grundlage für soziale
Stabilität soll das Konzept der »harmonischen Gesellschaft« bilden, das
erstmals auf der 4. Plenartagung des XVI. ZK im September 2004 vorgetragen und
von Ministerpräsident Wen Jiabao in seinem
Rechenschaftsbericht an den Nationalen Volkskongress im Februar 2005 erläutert
wurde. Demokratie, Herrschaft des Rechts, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit (im
Gegensatz zu Korruption) und sozialer Ausgleich sollen diese Gesellschaft
auszeichnen. Parteichef Hu Jintao hat das im Juni
2005 präzisiert: Aufbau einer »geistigen Moral«, korrekte Behandlung der
Widersprüche im Volk, Verstärkung des ökologischen und Umweltaufbaus, good governance und soziale Stabilität nannte er als weitere
Faktoren. Auf den Punkt gebracht handelt es sich um die Forderung nach größerer
Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit, wobei zugleich auch Zwangsmaßnahmen
intendiert sind, falls Proteste sozialer Gruppen die Harmonie stören sollten.
Mit dem Konzept erkennt die Parteiführung allerdings an, dass in der Gesellschaft
große Ungleichheit herrscht, deren Verringerung künftig eine zentrale Aufgabe
des Parteistaats sein soll.
Im Prinzip geht es also um
die Frage, auf welche Weise gesellschaftliche Widersprüche gelöst sowie die
Ursachen dieser Widersprüche aufgehoben und gesellschaftliche Stabilität
erreicht werden können. Dies soll durch Schaffung einer soliden ökonomischen
Grundlage, einer neuen Moral, die Herstellung ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit,
ein funktionierendes Rechtssystem und die kontinuierliche Anhebung des
Bildungsstandards erreicht werden. Im Rahmen dieses Konzeptes sollen – wie der
Soziologe Hang Lin betont hat – die Mittelschicht
verbreitert, die Zahl der Angehörigen unterer Einkommensgruppen verringert und
Korruption bekämpft werden.(12) Dabei soll das Ideal dieser Gesellschaft
offensichtlich an die Stelle des abstrakten Ziels des »Kommunismus« treten.
Jedenfalls beschreibt das Parteiorgan Renmin
Ribao die »harmonische Gesellschaft« als das –
nicht mehr allzu ferne – »gesellschaftliche Ideal«, in dem es allen gut gehe
und gesellschaftliche Widersprüche zwar weiter existierten, aber friedlich
gelöst werden könnten. Diese Gesellschaft könne man (wohl im Gegensatz zum Idealbild
des »Kommunismus«) »fühlen«.(13) Das Konzept der
harmonischen Gesellschaft lässt das konfuzianische Ideal der »Großen Harmonie«
(datong) anklingen, eine Gesellschaft ohne
soziale Ungerechtigkeit und Unsicherheiten, geprägt durch soziale und
politische Harmonie. Eine solche Gesellschaft soll sich auch von dem
»westlichen« Modell einer neoliberalen Marktgesellschaft unterscheiden, die von
Maximierung von Profit, Reichtum und Konsum geprägt sei.
Zwischenbilanz
Letztlich wird der künftige
Lackmustext sein, wie es dem Parteistaat gelingen kann, größere
Wirtschaftskrisen zu überstehen. Bei der derzeitigen Finanzkrise scheint dies
durchaus noch zu gelingen. Die derzeitige Krise hat verdeutlicht, dass auch
China stärker von globalen Entwicklungen betroffen ist als bisher angenommen.
Infolge des Rückgangs der Exporte erwartet die Regierung für 2009 nur noch ein
Wachstum von 8 bis 9 Prozent. Der Außenhandel, der besonders in Mitleidenschaft
gezogen wurde und über 50 Prozent zu Chinas Wirtschaftsleistung beisteuert, ist
von der Krise besonders betroffen. Gleichwohl sagen der Weltbankpräsident
Robert B. Zoellick und Ökonomen voraus, dass China
relativ von der Krise profitieren dürfte, trotz des Rückgangs des Wachstums der
Binnen- und Außenwirtschaft und des Zusammenbruchs von Exportbetrieben.(14)
Zwar wird es keinen Beitrag zur institutionellen Neuordnung des globalen
Finanzsystems leisten können, aber Peking hat versprochen, sein eigenes Haus in
Ordnung zu halten, die Kaufkraft seiner Bevölkerung zu stärken, unter anderem
mit einer Finanzspritze von rund 500 Milliarden Euro, auch um die
zurückgehenden Exporte auszugleichen. Zugleich wurden die Leitzinsen gesenkt
und Kreditgarantien für Kleinbetriebe gegeben, werden verbilligte Kredite für
den Wohnungsbau angeboten, wurde der Export durch Erhöhung der Umsatzsteuerrückerstattung
angekurbelt und wurde ein großes Programm zum Ausbau der Infrastruktur
beschlossen. Von daher scheint China die Krise für eine Neustrukturierung
seiner Wirtschaft zu nutzen. Seine Devisenreserven in
Höhe von fast zwei Billionen US-Dollar, ein Haushaltsüberschuss (2007) und eine
öffentliche Verschuldung, die weniger als ein Fünftel des BIP beträgt, erlauben
ein solches Programm. Die Finanzkrise könnte China ermöglichen, sein
Wirtschaftssystem zu stärken und zugleich sich international zu profilieren,
nicht nur als erfolgreicher Krisenmanager, sondern auch durch ein größeres
Mitspracherecht bei der institutionellen Neugestaltung des internationalen
Finanzwesens (bei Weltbank und Internationalem Währungsfonds).
Wirtschaftsminister Glos hat China daher eindringlich
zu Investitionen in Deutschland eingeladen, um Deutschland bei der Bewältigung
der Finanzkrise behilflich zu sein.(15) Der autoritäre Staat war auf Grund
einer auf Langfristigkeit angelegten klugen Wirtschaftspolitik nicht nur in der
Lage, mit Milliardenbeträgen in dreistelliger Höhe sein Bankwesen und die
Staatsbetriebe zu sanieren, sondern erweitert nun auch seine Infrastruktur und
stützt die Unternehmen. Solche Schritte sind schon allein deswegen erforderlich,
um ein Mindestwachstum von circa sechs Prozent aufrechtzuerhalten, das erforderliche
Minimum, um einen signifikanten Anstieg der Arbeitslosigkeit und damit soziale
und politische Destabilisierung zu verhindern.
Andererseits
dürften die Wachstumsraten der chinesischen Wirtschaft in den nächsten Jahren
ohnehin zurückgehen, weil im Interesse sozialen und regionalen Ausgleichs Umverteilungsmaßnahmen
und längerfristige Infrastrukturvorhaben stärker in den Mittelpunkt rücken
werden. Niedrigere Wachstumsraten werden die soziale und politische Stabilität
letztlich nicht beeinträchtigen, weil China seine wirtschaftliche Binnenstruktur
und den heimischen Markt stärken und konsolidieren wird. Davon werden auch der
Weltmarkt und Europa profitieren.
Abschließend lässt sich
festhalten, dass China keineswegs eine politisch wandlungsresistente Diktatur
mit einem im Innern und Äußeren rücksichtslos agierenden Staat ist, wie im
Westen häufig behauptet wird. Vielmehr beginnt sich vor allem die städtische
Gesellschaft graduell in eine Richtung zu bewegen, in der der Grad an
Mitgestaltung, rechtlicher Sicherheit und individueller Autonomie (jedenfalls
solange ein Individuum oder eine Gruppe nicht gegen das herrschende System
aktiv wird) zunimmt. Nicht zuletzt auf Grund der Problemfülle ist eine Prognose,
wohin sich China in den kommenden Jahrzehnten entwickeln wird, schwierig. Dies
hängt in erster Linie von der inneren Entwicklung ab. Solange sich die
Wirtschaft weiter erfolgreich entwickelt, rechtliche Sicherheit und Regelwerke
ausgebaut werden und der Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung wächst,
der Grad an Partizipation zunimmt und gesellschaftliche und politische
Stabilität gewährleistet werden können, wird sich China stabil entwickeln, kann
es zu einem zuverlässigen und berechenbaren Partner auch in der internationalen
Politik werden. Sollte dies scheitern, dann wären die Folgen für China, seine
Bewohner und nicht zuletzt für die gesamte Welt dramatisch.
1
Andrew J. Nathan: »Authoritarian Resilience«, in: Journal
of Democracy 1/03, S. 6–17.
2
Vgl. dazu u. a. Wenfang Tang: Public
Opinion and Political Change in China, Stanford 2005; Thomas Heberer, Gunter Schubert: »Political Reform and Regime
Legitimacy in Contemporary China«, in: ASIEN, 11/2006, S. 9–28; Thomas Heberer, Gunter Schubert: Politische
Partizipation und Regimelegitimität
in der Volksrepublik China,
Bd. 1: Der urbane Raum,
Wiesbaden 2008.
3
http://www.wyzxsx.com/Article/Class4/200711/26855.html
(aufgerufen am 3.1.09) und
http://www.chinaelections.org/NewsInfo.asp?NewsID=2206 (aufgerufen am 3.1.09).
4
Xiaoguang
Kang: »Weilai 3-5 nian Zhongguo dalu
zhengzhi wendingxing fenxi« (Analyse der politischen Stabilität auf dem
chinesischen Festland), in: Zhanlüe Yu Guanli (Strategie und
Management), 3/00, S. 1–15.
5
Weiping Huang: »Quanqiuhua yu Zhongguo zhengzhi
tizhi gaige«
(Globalisierung und Reform des politischen Systems Chinas), in: ders. (Hrsg.): Dangdai Zhongguo zhengzhi yanjiu baogao
(Forschungsbericht über die gegenwärtige chinesische Politik), I, Peking 2002,
S. 21–30.
6
Keping Yu, Minzhu
shi ge hao
dongxi (Demokratie ist eine gute Sache), hrsg. Jian Yan, Peking 2006.
7
Zhongguo zhengzhi gaige
lantu (Plan für eine politische Reform Chinas), Peking 2008.
8
http://news.sina.com.cn/c/2008-12-18/143116874480.shtml
9
»Renmin daibiao dahui zhidu yu
Zhongguo minzhu zhengzhi« xueshu yantaohui lunwenji (Gesammelte Beiträge der
akademischen Tagung »System der Volkskongresse und demokratische Politik
Chinas«), Peking 2008.
10
Eine
Übersetzung findet sich in FAZ, 22.12.08.
11
http://online.wsj.com/article/SB122964944665820499.html?mod=googlenews_wsj
(aufgerufen am 4.1.09).
12
Wang Weiping/Zhu Lin:
»China aims at harmonious society«, in:
http://news.xinhuanet.com/english/2004-12/17/content_2348778.htm (aufgerufen am
17.12.04).
13
Vgl. Chen Jiaxing:
»Jixin gongcou hejie qu« (Mit ganzem Herzen und
gemeinsam eine harmonische Musik spielen), in: Renmin
Ribao, 8.3.05.
14
http://web.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/COUNTRIES/EASTASIAPACIFICEXT/0,,contentMDK:22011204~menuPK:208951~pagePK:2865106~piPK:2865128~theSitePK:226301,00.htmlMarkus
(aufgerufen am 15.1.09); Markus Taube: »Retter der Welt und
Krisengewinner?
China und die globale Finanz- und Wirtschaftskrise«, in: ChinaContact
12/2008, http://www.china-contact.cc/index.php/chc/chc_akt/8537 (aufgerufen am
29.12.09).
15
http://exportersweekly.boerse-express.com/pages/718792/newsflow
(aufgerufen am 3.1.09).