Thomas Heberer

Auf dem Weg zu einer »harmonischen« Gesellschaft?

Dreißig Jahre Wirtschaftsreformen in China

 

 

Der mittlerweile drei Jahrzehnte währende Prozess der Wirtschaftsreformen hat die Volksrepublik grundlegend und nachhaltig verändert. China hat sich von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft gewandelt. Dieser Wandlungsprozess hat gleichzeitig eine Fülle von sozialen Problemen mit sich gebracht. Unser Autor beschreibt die verschiedenen Felder, zeigt, warum die zentrale Führung noch immer in der Bevölkerung Legitimität und Vertrauen besitzt, welche Diskussionsprozesse im chinesischen Diskurs über politische Reformen im Gang sind. Harmonische oder demokratische Gesellschaft?

 

Nach dem Tod Maos hat sich das politische System von einem totalitären Staatswesen, in dem ein einzelner, charismatischer Führer uneingeschränkte Macht ausübte, die Partei die totale Kontrolle über die Gesellschaft übernommen hatte und mittels Massenterror herrschte und in dem die Lebensbedürfnisse der Menschen keine Rolle spielten, sondern den utopischen Vorstellungen Maos geopfert wurden, zu einem autoritären System gewandelt. In Letzterem existiert eine kollektive politische Führung, das System zeichnet sich durch zunehmenden Pluralismus aus, in dem keine exklusive Ideologie (»Maoismus«) mehr existiert, die Bevölkerung nicht mehr permanent mobilisiert wird und ein Mindestmaß an Beteiligungsmöglichkeiten existiert. Mussten die Menschen in der Mao-Ära permanent an politischen Bewegungen partizipieren, so wird heute Nichtbeteiligung akzeptiert.

China hat sich in kurzer Zeit erfolgreich von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft gewandelt. Das Leben der großen Mehrheit der Bevölkerung hat sich signifikant verbessert, die Menschen besitzen heute größere Rechte als jemals zuvor. Seit Ende der 1970er-Jahre können sich die Menschen wirtschaftlich selbstständig machen und seit 1987 offiziell auch große private Unternehmen gründen. Zudem haben mehr als 200 Millionen Menschen seit Ende der 1970er-Jahre die Armut abgelegt – zweifellos ein gewaltiger Beitrag zur Verbesserung der Menschenrechte. Die Landbevölkerung kann mittlerweile in den Städten Arbeit suchen, und freie Arbeitsplatzwahl ist möglich geworden. Durch eine Vielzahl von Gesetzen, den Ausbau des Gerichtswesens und die Zulassung von Rechtsanwälten gibt es größere Rechtssicherheit, wenn auch vor allem in den Städten und im nicht-politischen Raum. Auch politisch andere Meinungen können geäußert werden, solange man nicht gegen die Parteiherrschaft aktiv wird. Das Internet hat sich zu einer großen Plattform der öffentlichen Meinung und Diskussion entwickelt. Auch da, wo es politisch zensiert wird, finden die Internetnutzer Mittel und Wege, sich über politisch ungeliebte Seiten zu informieren oder auszutauschen. Die Medien wurden ermuntert, soziale Probleme aufzugreifen und entsprechend zu recherchieren und zu berichten, auch wenn es hier immer wieder Eingriffe vor allem lokaler Zensurbehörden gibt. Die Gründung von Vereinen und Vereinigungen wurde zugelassen und gesetzlich abgesichert. Auch wenn der Staat versucht, die Vereinigungen strikt zu kontrollieren, so gibt es mittlerweile Hunderttausende von Organisationen, die sich für berufliche, fachliche, wissenschaftliche, hobbymäßige, aber auch soziale und Umweltaufgaben engagieren.

Gleichzeitig hat der geschilderte Wandlungsprozess eine Fülle von sozialen Problemen mit sich gebracht, die für die politische Führung eine gewaltige Herausforderung bedeuten, wie wachsende Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land, innerhalb städtischer und ländlicher Schichten sowie zwischen Regionen. Korruption ist ein gravierendes und weit verbreitetes Phänomen ebenso wie Kaderwillkür, vor allem im ländlichen Raum. Doch bei allen Problemen dürfen wir zwei Dinge nicht vergessen: Einmal resultieren viele dieser Probleme aus der Tatsache, dass China noch immer ein Entwicklungsland ist, in dem Strukturen eines modernen Staates und Rechtssystems noch im Aufbau begriffen sind; zweitens resultieren viele Probleme aus dem Umbau von einer Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft. Im Hinblick auf alle sozialen Probleme sucht der Staat neue Lösungen, was Zeit braucht.

Gleichwohl gibt es institutionelle und strukturelle Probleme, die zu wachsender Unzufriedenheit vor allem unter Intellektuellen führen, die rasche politische Reformen anmahnen. Dazu zählen die Diskrepanz zwischen Institutionalisierung und Implementierung von Recht, fehlende checks and balances, die Verfolgung von Bürgerrechtlern und Rechtsanwälten oder die Einschränkung der Berichterstattung in den Medien. Auch ist die Grundidee der Menschenrechte, der Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür, in China noch nicht so recht angekommen. Trotz aller Verbesserungen im Alltagsleben, vor allem im urbanen Raum, wo eine zunehmend selbstbewusste Mittelklasse ihre Rechte immer mehr wahrnimmt, werden auf dem Land Personen, die sich für Rand- und Minderheitengruppen oder Entrechtete einsetzen oder soziale Missstände anprangern, häufig verfolgt, bedroht oder weggesperrt. Dazu gehören Personen wie Hu Jia, der sich für Aids-Opfer eingesetzt und im Oktober 2008 den europäischen Sacharow-Preis erhalten hat, aber auch Bürgerrechtler und Anwälte, die sich gegen die Veruntreuung von Entschädigungen im Rahmen des Baus des Drei-Schluchtendammes gewandt haben, oder das Vorgehen gegen Bauernanwälte, kritische Journalisten oder Angehörige der christlichen Untergrundkirche. Durch die Tolerierung von Schikanen, Verfolgungen oder Folter von Personen, die sich gegen soziale Missstände, nicht aber gegen das politische System an sich richten, schafft sich der Parteistaat seine Gegner selbst. Von daher weist die Entwicklung Chinas einen ambivalenten Charakter auf.

 

Autorität und doch stabil – und legitim?

In der politikwissenschaftlichen Literatur ist immer wieder die These aufgestellt worden, autoritäre Staaten seien aufgrund schwacher Legitimitätsbasis, übermäßigen Zwanges, Überzentralisierung von Entscheidungsfindung und der Dominanz persönlicher Macht über institutionelle Normen fragile Gebilde. Der ökonomische Erfolg und die relative Stabilität Chinas in den letzten Jahrzehnten haben die Frage nach den Gründen für diese Stabilität aufkommen lassen. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Andrew Nathan spricht von einem resilient authoritarianism und argumentiert, China stelle ein autokratisches System dar, das auf gesellschaftliche Bedürfnisse positiv reagiere und sich daher über lange Zeit an der Macht zu halten vermöge.(1)

Legitimität bezieht sich zunächst auf den Glauben der Beherrschten an die Rechtmäßigkeit einer Herrschaft. Max Weber unterschied zwischen drei Grundtypen legitimer Herrschaft: charismatische, traditionale und rationale. Die Erstere finden wir in der Mao-Ära, mittlerweile befindet sich China in einem Übergang von traditionaler zu rationaler Herrschaft. Das traditionale Moment besteht in der Argumentation, dass die Kommunistische Partei China befreit habe und nunmehr die Modernisierung anstrebe. Zugleich spielen traditionale lokale Institutionen wie Clans, Tempelvereinigungen oder Dorfgemeinschaften im ländlichen Raum wieder eine wichtige Rolle als politische Ordnungsstrukturen. Zudem bemüht sich die KP durch Verrechtlichung, Rationalisierung der Verwaltung und Vorschriften Regierungshandeln zu verbessern.

Neuere Untersuchungen zeigen, dass die zentrale Führung und somit das politische System unter der Bevölkerung Legitimität und Vertrauen besitzt und die große Mehrheit der Bevölkerung das gegenwärtige politische System unterstützt.(2) Dabei unterscheiden die Menschen zwischen der Legitimität der Zentralbehörden und der der lokalen Behörden. In die Ersteren setzen sie Vertrauen, in die Letzteren nicht oder eher nicht. Diese Unterstützung gründet sich auf eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung, die staatliche Kapazität zur Erreichung nationaler Ziele (wie die Wiedereingliederung Hongkongs und Macaos oder ein erfolgreiches Raumfahrtprogramm) sowie auf die Bewahrung politischer Stabilität, das heißt auf eine stabile Ordnung sowie auf die Überzeugung, dass der zentrale Parteistaat China vor einem Schicksal ähnlich dem der Sowjetunion bewahrt hat. Von daher ist das politische System Chinas keineswegs in Verfall begriffen, sondern erweist sich als ein »elastisches« autoritäres System.

Die Gründe für diese Legitimität sind mannigfaltig. Zum einen wirkt der Parteistaat als Modernisierungs- und Sozialgarant und ist Hoffnungsträger nationaler Interessen (Modernisierung, Wiedervereinigung mit Taiwan). Die Menschen erwarten von ihm zugleich, dass er als Regelsetzer fungiert und ein funktionierendes Rechtssystem schafft. Ein zentrales Moment für seine Legitimierung ist die spezifische Furcht der Menschen vor sozialer oder politischer Instabilität, ein Grund dafür, weshalb die Bewahrung von Stabilität oberste Priorität in der Politikgestaltung besitzt. Weitere Faktoren sind die Output-Legitimität, das heißt dass die Beschlüsse und Richtlinien der zentralen Führung weitgehend den Bedürfnissen der Bevölkerung entgegenkommen, sodann die erfolgreiche Gleichsetzung von Nation und Parteistaat, wobei Kritik am System als Kritik an der Nation bewertet wird.

Gleichwohl sieht sich die Legitimität des Parteistaates zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Dazu zählen der Verlust der Führungsideologie sowie des utopisch-kommunistischen Projekts, die bereits oben erwähnten sozialen Spannungen, die Herausforderungen durch den wachsenden öffentlichen Raum und die Informationsvielfalt sowie durch die gegenwärtige globale Finanz- und zukünftige Wirtschaftskrisen. Politische Reformen werden daher, vor allem unter Intellektuellen und der Mittelschicht, aber auch unter Funktionären, zunehmend als dringlichste Aufgabe angesehen.

Zahl und Umfang der Proteste der Bevölkerung haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Vor allem auf lokaler Ebene haben sich die Proteste in den letzten Jahren radikalisiert. Vielfach lösten kleinere Zwischenfälle große und gewaltsame Proteste aus. Yu Jianrong, ein Protestforscher der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, hat jüngst dargelegt, dass solche Proteste sich meist spontan ereignen und nicht organisiert sind, die Beteiligten mit den Ursachen in der Regel nichts zu tun haben und die Proteste sich häufig gewaltsam entladen. Die Gründe dafür seien darin zu suchen, dass benachteiligte Schichten wie Wanderarbeiter und Arbeitslose sich daran beteiligten, der lokale Staat bei den Menschen Vertrauen eingebüßt habe und die traditionellen Instrumente staatlicher Kontrolle nicht mehr wirkten. Das Petitionswesen des Staates, mit Beschwerdeämtern auf allen Verwaltungsebenen, werde nichts bewirken, weil Probleme auf der lokalen Ebene nicht gelöst werden könnten, unterstünden diese Ämter doch den jeweiligen Lokalbehörden. Die zentrale Ebene sei mit der Flut an Petitionen überfordert, und die Nichtlösung von Problemen führe zu erheblichem Vertrauensverlust in diese Ebene. Zugleich werde dadurch das Rechtssystem geschwächt, weil die Hoffnung genährt würde, Petitionsämter könnten Gerichte ersetzen. Die Folge sei eine Radikalisierung der Petenten. Yu rät daher dringend zu politischen Reformen, einer Verminderung der KP-Kontrolle über das politische und rechtliche System sowie zur Schaffung unabhängiger Kanäle politischer Partizipation und zur Lösung der Beschwerden der Bürger.(3) Zwar hat die Parteiführung in den letzten Jahren das Maß an behördlicher Transparenz, Presseberichterstattung und Kontrolle ausgeweitet, aber ihren »Führungs-« und Kontrollanspruch dabei nicht aufgegeben.

 

Der chinesische Diskurs über politische Reformen

Innerhalb Chinas existiert keine einheitliche Meinung über die Frage und den Umfang politischer Reformen. Eine dominante Position vor allem unter Intellektuellen argumentiert, dass es gegenwärtig in China keine grundlegenden Widersprüche zwischen politischer, ökonomischer und intellektueller Elite mehr gebe. Die ökonomische Elite (primär Unternehmer und Manager) sei an ruhiger Unternehmenstätigkeit und an Gewinnen interessiert, nicht aber an Demokratie. Ökonomische Entwicklung und die damit verbundene Entwicklungslegitimität, die negativen Erfahrungen des Zusammenbruchs der Sowjetunion mit seinen Folgen für die innere Entwicklung der Nachfolgestaaten, die »Anti-China-Politik« der USA und die Inklusion von Intellektuellen in politische Entscheidungen und Diskurse habe auch die Haltung der Intellektuellen gegenüber der Partei verändert. Die Bevölkerung sei vornehmlich unzufrieden mit Korruption, Arbeitslosigkeit und wachsender sozialer Ungleichheit, ohne dass sich jedoch politisches Veränderungspotenzial formiere. Eine Demokratiebewegung sei kaum zu erwarten, da die Intellektuellen eher konservativ seien und parteiorientiert argumentierten. Eine lang anhaltende Wirtschaftsrezession, verbunden mit einer Finanzkrise und Inflation könnten allerdings die politische Stabilität nachhaltig beeinträchtigen. Korruption sei zwar ein Destabilisierungsfaktor, ein allzu entschiedenes Vorgehen gegen Korruption könne allerdings das Elitenbündnis beeinträchtigen, weil viele mittlere und untere Kader dann einkommensmäßig Nachteile zu erwarten hätten. Das gegenwärtige autoritäre System sei weithin akzeptiert, die Bevölkerung interessiere sich in erster Linie für die Lösung der unmittelbaren Tagesprobleme. Demokratie stünde zwar auf der Tagesordnung, sei aber erst in der Zukunft zu realisieren.(4)

Derzeit gibt es hinsichtlich der Ziele einer politischen Reform im Wesentlichen fünf Auffassungen: a) politische Stabilität durch Demokratisierung, demokratische Rechte und die Einschränkung staatlicher Macht; b) Förderung wirtschaftlicher Entwicklung durch politische Reformen (inklusive Verwissenschaftlichung, Demokratisierung, Transparenz und Professionalisierung); c) Schaffung eines unabhängigen Rechts als Voraussetzung für Demokratisierung; d) Effektivierung des politischen Systems; e) politische Demokratisierung als bewusst anzugehendes längerfristiges Ziel. Dabei findet eine Unterteilung in Kurz- und Langzeitziele politischer Reformen statt. Die Ersteren müssten die Effektivierung staatlichen Handelns und Begrenzung staatlicher Macht zum Ziel haben, wobei grundsätzliches Ziel die politische Demokratisierung sei. Andere wiederum sehen in der Marktwirtschaft eine zentrale Voraussetzung für moderne Demokratie. Eine starke Strömung argumentiert, zunächst müsse die Demokratie innerhalb der Partei gefördert werden, erst dann könne man ein demokratisches System außerhalb der KP aufbauen. Weitere, graduelle politische Reformen sollten die Autorität des Nationalen Volkskongresses stärken, die Unabhängigkeit des Rechts, Pressefreiheit und die Kontrolle durch die Öffentlichkeit.(5)

In diesem Zusammenhang ist ein im Jahre 2006 erschienenes Buch mit dem Titel Demokratie ist eine gute Sache ein interessantes Beispiel für den Diskurs um Demokratisierung. Der Autor, Yu Keping, einer der einflussreichsten Intellektuellen im gegenwärtigen China und Berater der zentralen Führung, argumentiert, dass Demokratie grundsätzlich etwas Positives sei – für das gesamte Land und Volk. Nur für eigensüchtige und korrupte Funktionäre sei Demokratie an sich etwas Negatives. Unter demokratischen Bedingungen nämlich müssten Funktionäre von den Bürgern gewählt werden und seien auf die Unterstützung der Wählerschaft angewiesen. Ihre Macht würde durch die Bürger begrenzt, sie könnten nicht beliebig schalten und walten, sondern müssten mit den Bürgern verhandeln. Demokratie verlange von daher den aktiven Bürger und Beamte, die deren Interessen vertreten würden. Andererseits sei aber nicht alles an Demokratie gut. Demokratie könne dazu führen, dass Bürger auf die Straße gehen und protestieren, Versammlungen abhalten und politische Instabilität verursachen. Durch sie könnten Probleme verkompliziert werden, wodurch die politischen und administrativen Kosten erhöht würden. Häufig führten demokratische Verhältnisse zu langatmigen Verhandlungen und Debatten und somit zur Verzögerung von Entscheidungen und zu Ineffizienz. Jedoch sei unter allen bisherigen politischen Systemen die Demokratie dasjenige mit den geringsten Mängeln und das beste bisher von der Menschheit hervorgebrachte politische System. Demokratie sei nicht nur ein Mittel, Fragen des Lebens der Menschen zu lösen, sondern sei auch ein Ziel menschlicher Entwicklung. Ohne demokratische Rechte sei das menschliche Wesen unvollkommen. Zwar weise die Demokratie auch Unzulänglichkeiten und Defizite auf, dafür aber seien Politiker verantwortlich. Demokratie erfordere zwar spezielle ökonomische, kulturelle und politische Voraussetzungen, doch letztlich würden sich alle Nationen zur Demokratie hin entwickeln. Dabei beruft sich Yu pflichtgemäß auf die marxistischen Klassiker – ohne Sozialismus keine Demokratie – und auf Parteichef Hu Jintao, der erklärt habe, dass es ohne Demokratie keine Modernisierung geben könne. Allerdings müsse sich eine solche Demokratie an den Spezifika Chinas orientieren.

Neu und außergewöhnlich an Yu Kepings Buch ist die Neubewertung der Rolle von Demokratie, die durch einen einflussreichen politischen Berater Chinas als bislang bestes politisches System charakterisiert wird. Als dieser Beitrag Ende 2006 in der Zeitschrift der Zentralen Parteihochschule nachgedruckt wurde, kam es im Anschluss zu einer ausgesprochen kontroversen, breit geführten Diskussion in China. In einem Beitrag in der Parteizeitung Renmin Ribao vom Februar 2007 unterstützte die Parteiführung jedoch Yus Position. Auch dies verdeutlicht, dass Zukunftsentwürfe nicht tabu sind, solange die Parteiherrschaft nicht direkt aktiv angegriffen, das heißt political correctness im Sinne der KP-Führung eingehalten wird.(6)

 

Demokratie »einführen«?

In einem Anfang 2008 veröffentlichten Bericht riefen Wissenschaftler der Zentralen Parteihochschule zu politischen Reformen auf. Demokratische Änderungen und eine Beschränkung der Macht der KP seien notwendig, um politische Instabilität zu verhindern. Es wurden größere Pressefreiheit und ein Pressegesetz gefordert, eine Einschränkung der Zensur, größere Religionsfreiheit, eine Demokratisierung des Parlaments (Nationaler Volkskongress) unter anderem durch Einführung echter Wahlen. Bis 2020 könne dann eine moderne »Zivilgesellschaft« geschaffen werden, danach eine reife Demokratie. Im Sinne politischer Korrektheit wurde zugleich erklärt, all dies könne nur unter Führung der KP stattfinden.(7) Ende Dezember 2008 schlugen Professoren der Parteischule vor, zuerst in einigen Provinzen und auf experimenteller Basis solche politischen Reformen durchzuführen.(8)

Auf einer Tagung hochrangiger parteinaher Intellektueller im Dezember 2008 wurde ebenfalls über Fragen der Gewaltenteilung (u. a. die Einrichtung eines Verfassungskontrollorgans) und eine eigenständigere Rolle der Parlamente diskutiert.(9)

Die »Charta 08«, Ende des Jahres 2008 von über 300 oppositionellen chinesischen Intellektuellen unter Federführung des ehemaligen Philosophieprofessors, Schriftstellers und Bürgerrechtlers Liu Xiaobo verfasst (in Anlehnung an die tschechoslowakische »Charta 77«) und von über 6000 Chinesen unterschrieben, geht in eine andere Richtung. Sie setzt sich über die von der KP-Führung gesetzte »politische Korrektheit« (Akzeptanz der Parteiherrschaft hinweg) und fordert quasi ein demokratisches Mehrparteiensystem mit Gewaltenteilung, Föderalismus, unabhängigem Recht, bürgerlichen Freiheitsrechten (Organisations-, Rede- und Versammlungsfreiheit).(10) Viele der angesprochenen Punkte der Charta werden auch schon seit langer Zeit von parteinahen Intellektuellen diskutiert. Das Neue daran ist aber, dass es sich um ein umfassendes Programm handelt. Insgesamt liest sich die Charta wie ein Zukunftsprogramm und womöglich ist sie auch als solches gedacht, will möglicherweise nur die Diskussion beflügeln und ist Ausdruck der Ungeduld, mit der viele Intellektuelle auf politische Reformen warten. Denn konkrete Hinweise auf die Umsetzung des Programms werden nicht gegeben. Genau das aber ist, was Yu Keping in seinem oben erwähnten Buch eingefordert hat: Demokratie sei zwar das beste aller politischen Systeme, es komme aber darauf an, wie man denn dorthin gelangen könne, was unter den derzeit komplexen und heterogenen Strukturen des Transformationsprozesses mehr als schwierig sei. Entsprechend hat der frühere tschechische Präsident, Mitinitiator der Charta 77 in der Tschechoslowakei und Schriftsteller Vaclav Havel im Wall Street Journal vom 19.12.08 geschrieben, China 2008 sei nicht die Tschechoslowakei 1977. In vieler Hinsicht sei China heute freier und offener als sein Land vor 30 Jahren. Aber die Reaktion der chinesischen Behörden gegenüber der »Charta 08« weise viele Parallelen zu der damaligen Regierung seines Landes auf.(11)

Stabile Demokratie lässt sich in der Tat nicht einfach »einführen«, wie Irak und Afghanistan verdeutlichen. Sie benötigt bestimmte Voraussetzungen, um existieren und sich stabil entwickeln zu können. So zum Beispiel:

– Grundstrukturen einer Zivilgesellschaft, das heißt größere Freiheiten für die Medien, für Nichtregierungsorganisationen und die Herausbildung bürgerlicher Werte und Einstellungen.

– Ein unabhängiges Rechtssystem, das den Einzelnen und Gruppen vor staatlicher Willkür schützt.

– Für ganz wichtig halte ich die Herausbildung von »zivilisatorischer Kompetenz«, das heißt das Entstehen von Bürgern, die Bürgersinn entwickeln und deren Denken und Handeln sich stärker auf die Gesellschaft richten. Bislang orientieren sich die Menschen noch immer stärker an Gruppen wie Familie, Clan, Dorf- und Arbeitsgemeinschaften. Ein Bericht des chinesischen Staatsrates hat im Vorjahr verdeutlicht, dass gegenwärtig nur rund 1,8 Prozent der Bevölkerung ehrenamtlich tätig sind (BRD: ca. 45 %). Teil der zivilisatorischen Kompetenz ist aber auch, dass Staat und Individuen lernen, andere Meinungen zu akzeptieren, mit Andersdenkenden zivil umzugehen und Konflikte friedlich zu lösen.

 

Harmonische Gesellschaft?

Neue Grundlage für soziale Stabilität soll das Konzept der »harmonischen Gesellschaft« bilden, das erstmals auf der 4. Plenartagung des XVI. ZK im September 2004 vorgetragen und von Ministerpräsident Wen Jiabao in seinem Rechenschaftsbericht an den Nationalen Volkskongress im Februar 2005 erläutert wurde. Demokratie, Herrschaft des Rechts, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit (im Gegensatz zu Korruption) und sozialer Ausgleich sollen diese Gesellschaft auszeichnen. Parteichef Hu Jintao hat das im Juni 2005 präzisiert: Aufbau einer »geistigen Moral«, korrekte Behandlung der Widersprüche im Volk, Verstärkung des ökologischen und Umweltaufbaus, good governance und soziale Stabilität nannte er als weitere Faktoren. Auf den Punkt gebracht handelt es sich um die Forderung nach größerer Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit, wobei zugleich auch Zwangsmaßnahmen intendiert sind, falls Proteste sozialer Gruppen die Harmonie stören sollten. Mit dem Konzept erkennt die Parteiführung allerdings an, dass in der Gesellschaft große Ungleichheit herrscht, deren Verringerung künftig eine zentrale Aufgabe des Parteistaats sein soll.

Im Prinzip geht es also um die Frage, auf welche Weise gesellschaftliche Widersprüche gelöst sowie die Ursachen dieser Widersprüche aufgehoben und gesellschaftliche Stabilität erreicht werden können. Dies soll durch Schaffung einer soliden ökonomischen Grundlage, einer neuen Moral, die Herstellung ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit, ein funktionierendes Rechtssystem und die kontinuierliche Anhebung des Bildungsstandards erreicht werden. Im Rahmen dieses Konzeptes sollen – wie der Soziologe Hang Lin betont hat – die Mittelschicht verbreitert, die Zahl der Angehörigen unterer Einkommensgruppen verringert und Korruption bekämpft werden.(12) Dabei soll das Ideal dieser Gesellschaft offensichtlich an die Stelle des abstrakten Ziels des »Kommunismus« treten. Jedenfalls beschreibt das Parteiorgan Renmin Ribao die »harmonische Gesellschaft« als das – nicht mehr allzu ferne – »gesellschaftliche Ideal«, in dem es allen gut gehe und gesellschaftliche Widersprüche zwar weiter existierten, aber friedlich gelöst werden könnten. Diese Gesellschaft könne man (wohl im Gegensatz zum Idealbild des »Kommunismus«) »fühlen«.(13) Das Konzept der harmonischen Gesellschaft lässt das konfuzianische Ideal der »Großen Harmonie« (datong) anklingen, eine Gesellschaft ohne soziale Ungerechtigkeit und Unsicherheiten, geprägt durch soziale und politische Harmonie. Eine solche Gesellschaft soll sich auch von dem »westlichen« Modell einer neoliberalen Marktgesellschaft unterscheiden, die von Maximierung von Profit, Reichtum und Konsum geprägt sei.

 

Zwischenbilanz

Letztlich wird der künftige Lackmustext sein, wie es dem Parteistaat gelingen kann, größere Wirtschaftskrisen zu überstehen. Bei der derzeitigen Finanzkrise scheint dies durchaus noch zu gelingen. Die derzeitige Krise hat verdeutlicht, dass auch China stärker von globalen Entwicklungen betroffen ist als bisher angenommen. Infolge des Rückgangs der Exporte erwartet die Regierung für 2009 nur noch ein Wachstum von 8 bis 9 Prozent. Der Außenhandel, der besonders in Mitleidenschaft gezogen wurde und über 50 Prozent zu Chinas Wirtschaftsleistung beisteuert, ist von der Krise besonders betroffen. Gleichwohl sagen der Weltbankpräsident Robert B. Zoellick und Ökonomen voraus, dass China relativ von der Krise profitieren dürfte, trotz des Rückgangs des Wachstums der Binnen- und Außenwirtschaft und des Zusammenbruchs von Exportbetrieben.(14) Zwar wird es keinen Beitrag zur institutionellen Neuordnung des globalen Finanzsystems leisten können, aber Peking hat versprochen, sein eigenes Haus in Ordnung zu halten, die Kaufkraft seiner Bevölkerung zu stärken, unter anderem mit einer Finanzspritze von rund 500 Milliarden Euro, auch um die zurückgehenden Exporte auszugleichen. Zugleich wurden die Leitzinsen gesenkt und Kreditgarantien für Kleinbetriebe gegeben, werden verbilligte Kredite für den Wohnungsbau angeboten, wurde der Export durch Erhöhung der Umsatzsteuerrückerstattung angekurbelt und wurde ein großes Programm zum Ausbau der Infrastruktur beschlossen. Von daher scheint China die Krise für eine Neustrukturierung seiner Wirtschaft zu nutzen. Seine Devisenreserven in Höhe von fast zwei Billionen US-Dollar, ein Haushaltsüberschuss (2007) und eine öffentliche Verschuldung, die weniger als ein Fünftel des BIP beträgt, erlauben ein solches Programm. Die Finanzkrise könnte China ermöglichen, sein Wirtschaftssystem zu stärken und zugleich sich international zu profilieren, nicht nur als erfolgreicher Krisenmanager, sondern auch durch ein größeres Mitspracherecht bei der institutionellen Neugestaltung des internationalen Finanzwesens (bei Weltbank und Internationalem Währungsfonds). Wirtschaftsminister Glos hat China daher eindringlich zu Investitionen in Deutschland eingeladen, um Deutschland bei der Bewältigung der Finanzkrise behilflich zu sein.(15) Der autoritäre Staat war auf Grund einer auf Langfristigkeit angelegten klugen Wirtschaftspolitik nicht nur in der Lage, mit Milliardenbeträgen in dreistelliger Höhe sein Bankwesen und die Staatsbetriebe zu sanieren, sondern erweitert nun auch seine Infrastruktur und stützt die Unternehmen. Solche Schritte sind schon allein deswegen erforderlich, um ein Mindestwachstum von circa sechs Prozent aufrechtzuerhalten, das erforderliche Minimum, um einen signifikanten Anstieg der Arbeitslosigkeit und damit soziale und politische Destabilisierung zu verhindern.

Andererseits dürften die Wachstumsraten der chinesischen Wirtschaft in den nächsten Jahren ohnehin zurückgehen, weil im Interesse sozialen und regionalen Ausgleichs Umverteilungsmaßnahmen und längerfristige Infrastrukturvorhaben stärker in den Mittelpunkt rücken werden. Niedrigere Wachstumsraten werden die soziale und politische Stabilität letztlich nicht beeinträchtigen, weil China seine wirtschaftliche Binnenstruktur und den heimischen Markt stärken und konsolidieren wird. Davon werden auch der Weltmarkt und Europa profitieren.

Abschließend lässt sich festhalten, dass China keineswegs eine politisch wandlungsresistente Diktatur mit einem im Innern und Äußeren rücksichtslos agierenden Staat ist, wie im Westen häufig behauptet wird. Vielmehr beginnt sich vor allem die städtische Gesellschaft graduell in eine Richtung zu bewegen, in der der Grad an Mitgestaltung, rechtlicher Sicherheit und individueller Autonomie (jedenfalls solange ein Individuum oder eine Gruppe nicht gegen das herrschende System aktiv wird) zunimmt. Nicht zuletzt auf Grund der Problemfülle ist eine Prognose, wohin sich China in den kommenden Jahrzehnten entwickeln wird, schwierig. Dies hängt in erster Linie von der inneren Entwicklung ab. Solange sich die Wirtschaft weiter erfolgreich entwickelt, rechtliche Sicherheit und Regelwerke ausgebaut werden und der Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung wächst, der Grad an Partizipation zunimmt und gesellschaftliche und politische Stabilität gewährleistet werden können, wird sich China stabil entwickeln, kann es zu einem zuverlässigen und berechenbaren Partner auch in der internationalen Politik werden. Sollte dies scheitern, dann wären die Folgen für China, seine Bewohner und nicht zuletzt für die gesamte Welt dramatisch.

 

1

Andrew J. Nathan: »Authoritarian Resilience«, in: Journal of Democracy 1/03, S. 6–17.

2

Vgl. dazu u. a. Wenfang Tang: Public Opinion and Political Change in China, Stanford 2005; Thomas Heberer, Gunter Schubert: »Political Reform and Regime Legitimacy in Contemporary China«, in: ASIEN, 11/2006, S. 9–28; Thomas Heberer, Gunter Schubert: Politische Partizipation und Regimelegitimität in der Volksrepublik China, Bd. 1: Der urbane Raum, Wiesbaden 2008.

3

http://www.wyzxsx.com/Article/Class4/200711/26855.html (aufgerufen am 3.1.09) und http://www.chinaelections.org/NewsInfo.asp?NewsID=2206 (aufgerufen am 3.1.09).

4

Xiaoguang Kang: »Weilai 3-5 nian Zhongguo dalu zhengzhi wendingxing fenxi« (Analyse der politischen Stabilität auf dem chinesischen Festland), in: Zhanlüe Yu Guanli (Strategie und Management), 3/00, S. 1–15.

5

Weiping Huang: »Quanqiuhua yu Zhongguo zhengzhi tizhi gaige« (Globalisierung und Reform des politischen Systems Chinas), in: ders. (Hrsg.): Dangdai Zhongguo zhengzhi yanjiu baogao (Forschungsbericht über die gegenwärtige chinesische Politik), I, Peking 2002, S. 21–30.

6

Keping Yu, Minzhu shi ge hao dongxi (Demokratie ist eine gute Sache), hrsg. Jian Yan, Peking 2006.

7

Zhongguo zhengzhi gaige lantu (Plan für eine politische Reform Chinas), Peking 2008.

8

http://news.sina.com.cn/c/2008-12-18/143116874480.shtml

9

»Renmin daibiao dahui zhidu yu Zhongguo minzhu zhengzhi« xueshu yantaohui lunwenji (Gesammelte Beiträge der akademischen Tagung »System der Volkskongresse und demokratische Politik Chinas«), Peking 2008.

10

Eine Übersetzung findet sich in FAZ, 22.12.08.

11

http://online.wsj.com/article/SB122964944665820499.html?mod=googlenews_wsj (aufgerufen am 4.1.09).

12

Wang Weiping/Zhu Lin: »China aims at harmonious society«, in: http://news.xinhuanet.com/english/2004-12/17/content_2348778.htm (aufgerufen am 17.12.04).

13

Vgl. Chen Jiaxing: »Jixin gongcou hejie qu« (Mit ganzem Herzen und gemeinsam eine harmonische Musik spielen), in: Renmin Ribao, 8.3.05.

14

http://web.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/COUNTRIES/EASTASIAPACIFICEXT/0,,contentMDK:22011204~menuPK:208951~pagePK:2865106~piPK:2865128~theSitePK:226301,00.htmlMarkus (aufgerufen am 15.1.09); Markus Taube: »Retter der Welt und Krisengewinner? China und die globale Finanz- und Wirtschaftskrise«, in: ChinaContact 12/2008, http://www.china-contact.cc/index.php/chc/chc_akt/8537 (aufgerufen am 29.12.09).

15

http://exportersweekly.boerse-express.com/pages/718792/newsflow (aufgerufen am 3.1.09).

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 1/2009