Joscha Schmierer

2009 dürfte ein Schlüsseljahr werden

Schwere Zeit nach verpassten Gelegenheiten

 

 

Eine Finanz- und Wirtschaftskrise so global wie nie zuvor, etliche Sprengsätze an der Staatenwelt, die dringlich entschärft werden müssen, und die Übernahme der US-Präsidentschaft durch jemand, der sich seiner weltbürgerlichen Verantwortung bewusst ist: Mit 2009 dürfte gerade ein Jahr begonnen haben, in dem sich zwanzig Jahre nach dem Ende der Blockordnung entscheiden könnte, ob nun endlich ernsthafte Schritte in eine neue Weltordnung unternommen werden. Die Krise der Weltwirtschaft und tödliche Konflikte wie in Afghanistan und Irak, wie zwischen Palästinensern und Israel, wie in Kaschmir und den Stammesgebieten von Pakistan, wie im Sudan und im Kongo verlangen solche Schritte, der Wechsel in der amerikanischen Präsidentschaft bietet den USA die Chance, Initiativen in diese Richtung zu ergreifen.

 

Von einem Kurswechsel in den USA hängt deshalb so viel ab, weil die Finanz- und Wirtschaftskrise in der durch Schulden finanzierten globalen Konsumentenrolle der USA eine Wurzel haben. Lokomotive der Weltkonjunktur waren die USA in den letzten Jahren durch einen Verbrauch an Reichtum, der weit über ihre Reichtumsproduktion hinausging. Hinter der internationalen Verschuldung steht die politische Macht der USA als Sicherheit. Zugleich hat die Aufrechterhaltung und Stärkung der militärischen Potenziale dieser Macht und ihr selbstherrlicher Einsatz die Stellung der USA in der Welt geschwächt. Die widersprüchliche Doppelrolle der USA als Konsument, der über die eigenen Verhältnisse lebt, und als egozentrische Militärmacht, die über eigenen Abenteuern ihre internationalen Verpflichtungen vernachlässigt, ist selbst zu einem Problem der internationalen Ordnung geworden.

Aus dieser verhängnisvollen Doppelrolle müssten sich die USA unter dem neuen Präsidenten lösen. Leicht wird das nicht, denn sie war für einige Zeit ziemlich bequem. »Was die Welt braucht, ist nicht, dass Amerika untergeht«, schrieb Emmanuel Todd 2002 in seinem Essay über die Brüchigkeit der amerikanischen Weltmacht, »sondern dass Amerika wieder es selbst wird, ein demokratisches, liberales, produktives Land – soweit das möglich ist, denn in der menschlichen Geschichte wie in der Entwicklung aller Tierarten gibt es keine vollkommene Rückkehr in statu quo ante. Die Dinosaurier sind nicht zurückgekommen. Die großzügige Weltmacht, die Amerika in den fünfziger Jahren war, wird es nie mehr sein(1) Die USA werden nicht untergehen, aber dass sie sich ändern müssen und ändern können, war im Wahlkampf die Botschaft Barack Obamas an das amerikanische Volk. Wie das Wahlergebnis zeigt, ist sie aufgegriffen worden. Jetzt treten die Schwierigkeiten beim Wenden in der Sackgasse in den Vordergrund.

 

Sich die letzten zwanzig Jahre noch einmal durch den Kopf gehen lassen

1989 revoltierten die Gesellschaften der Satellitenstaaten der Sowjetunion, befreiten sich die äußeren Provinzen des Imperiums aus der Sowjetherrschaft. Die Sowjetunion musste sich zurückziehen, zunächst aber nur auf sich selbst. Durch diesen Rückzug sollte die Sowjetunion als Staat gestärkt werden, so die Absicht Gorbatschows. Als Bush senior von der neuen Weltordnung zu sprechen begann, stand in deren Zentrum immer noch die Verständigung unter den beiden Supermächten, den Vormächten der bisherigen Blöcke. Die neue Weltordnung wurde zunächst einfach als Folge der Verständigung zwischen den Supermächten gedacht. Die Beendigung des Kalten Krieges erschien als gemeinsamer Erfolg von USA und Sowjetunion, als Sieg eines neuen Denkens, als dessen vorzüglicher Vertreter Gorbatschow im Westen galt. Die Blöcke lösen sich auf, die deutsche Vereinigung wird möglich, die ostmitteleuropäischen Staaten kehren nach Europa zurück. Nun kann man darangehen, das gemeinsame europäische Haus zu errichten und die OSZE zum Sicherheitsbündnis des Nordens umzubauen. In diesem Gefühl der Annäherung und Verständigung wurde Gorbatschow im Westen mit »Gorbi-Gorbi«-Rufen bedacht. Er wurde damit nicht als Verlierer verspottet, sondern als »Held des Rückzugs« und Friedenspolitiker gefeiert. Von einem Sieg im Kalten Krieg war damals auch in den USA kaum die Rede. Zu offensichtlich war der Beitrag, den die Sowjetunion unter Gorbatschow zu seinem weitgehend unblutigen Ende beigetragen hatte.

Indem der ältere Bush Anfang der 1990er-Jahre die neue Weltordnung als Ziel der internationalen Anstrengungen postulierte, machte er deutlich, dass es mit der Aufgabe des Sowjetimperiums durch Gorbatschow nicht sein Bewenden haben könne. Dass neue Verständigung über die ehemaligen Blockgrenzen hinweg möglich sei, war das vorherrschende Gefühl. Das Ende des Kalten Krieges sollte ermöglichen, dem Ordnungsrahmen, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit der UNO geschaffen worden war, neu und ernstlich Geltung zu verschaffen.

Mit dem Überfall Saddam Husseins auf Kuwait und seinem Versuch, den kleinen, aber ölreichen Staat als neue Provinz dem Irak einzuverleiben, wurde dann schnell sichtbar, dass eine solche neue Weltordnung ohne die Bildung globaler Ordnungsmacht im und über den Sicherheitsrat nicht zu haben war. Die gewaltsame Befreiung Kuwaits zog ihre Legitimation aus der Verteidigung der UN-Charta und aus der erklärten Absicht, nach den Jahrzehnten der teilweisen Lähmung durch den Blockgegensatz die UNO als »Parlament der Völker« (Vollversammlung) und als Organisator und Garant kollektiver Sicherheit (Sicherheitsrat) endlich praktisch ins Zentrum der internationalen Beziehungen zu rücken. Ohne die Initiative und Beharrlichkeit der USA hätte Saddam Hussein wahrscheinlich mit der Einverleibung Kuwaits zugleich den UN-Rahmen sprengen können.

Aus dem militärischen Erfolg und der politischen Selbstbeschränkung, die Befreiung Kuwaits nicht zum Sturz des irakischen Regimes zu nutzen, entwickelte sich in den USA ein grundsätzlicher Konflikt: Verzichteten die USA unter der Berufung auf die Beschlusslage der UN nicht darauf, die Gelegenheit zu nutzen, sich selbst als globale Ordnungsmacht zu etablieren? UN-Rahmen gut und schön, aber sind nicht die USA und nur sie allein Macht genug, um Weltordnung zu setzen und zu sichern? Indem die Regierung der USA sich an die Beschlüsse des Sicherheitsrates hielt und trotz des überwältigenden Erfolges das Kriegsziel der Befreiung Kuwaits nicht um die Eroberung des Irak und den Sturz des Regimes erweiterte, wurde sie zum Gegenbild des Neokonservatismus, der dann der Regierung des jüngeren Bush nach dem 11. September 2001 die Rhetorik bereitstellte.

 

1989 aus dem Blickwinkel von 1991

Gegenüber 1989 wird das Jahr 1991 oft in seiner Bedeutung unterschätzt. Vor 1991 hätte niemand von der einzig verbliebenen Supermacht gesprochen. Es gab ja noch die andere, zwar angeschlagene Supermacht, mit der man sich über die Geschicke der Welt, etwa über die deutsche Einheit, doch von gleich zu gleich verständigen musste. Mit dem Putsch in der Sowjetunion, den Gorbatschow politisch nicht überlebte, und der handstreichartigen Auflösung der Sowjetunion durch Jelzin und die Präsidenten von Belarus und Ukraine veränderte sich auch der Blick auf 1989. Nun konnte das Ende des Kalten Krieges als Sieg des Westens und vor allem der USA angesehen werden. Mit dem Verschwinden der anderen Supermacht konnten die USA als »einzig verbliebene Supermacht« und die Welt als unipolar durch die USA geprägt missverstanden werden.

Der militärische Erfolg über den Irak und die Selbstauflösung der Sowjetunion beherrschten nach 1991 zunehmend die Selbstwahrnehmung der USA und die Definition ihrer weltpolitischen Rolle. Unter Clinton blieb die Regierung noch weitgehend zurückhaltend. Deshalb konnte Condoleezza Rice später von verlorenen Jahren für die amerikanische Außenpolitik sprechen. Von heute aus gesehen muss man die letzten zwanzig Jahre und erst recht die acht Jahre der letzten Bush-Regierung als Zeit der versäumten Gelegenheiten, in der globalisierten Welt eine angemessene politische Ordnung zu errichten, verstehen. Das zeitliche Zusammentreffen der militärischen Machtdemonstration gegenüber dem Irak und der Auflösung der Sowjetunion zwei Jahre nach 1989 erleichterte strategische Fehlschlüsse aus der neuen internationalen Situation.

Eine feine Analyse der verpassten Gelegenheit hat Michael Lind bereits 2004 vorgelegt. Er meinte, das Scheitern der amerikanischen Außenpolitik in den damals erst anderthalb Jahrzehnten nach 1989 sei im Kern ein Scheitern von Ideen gewesen. Den Administrationen von George Herbert Walker Bush und Bill Clinton hätte die Vorstellungskraft gefehlt, eine neue internationale Ordnung sich anders zu denken denn als schrittweise Ausdehnung des Systems einer Pax Americana wie im Kalten Krieg und als Wiederkehr eines ökonomischen Laissez-faire. George W. Bush dagegen fehle es nicht an einer Vision, aber seine Vision einer auf brutale Gewalt und Verachtung internationalen Rechts und der Diplomatie gestützten einseitigen amerikanischen Weltherrschaft sei gründlich fehlkonzipiert. Der neue amerikanische Internationalismus hätte sich, so Michael Lind 2004, leichter unmittelbar in dem Jahrzehnt nach Ende des Kalten Krieges verwirklichen lassen als in einer Zeit, in der die amerikanische Regierung durch galoppierende Haushalts- und Handelsdefizite eingeschränkt werde. Um den Schaden zu beheben, den die Administration des zweiten Bushs mit ihrem kriegerischen Unilateralismus dem amerikanischen Ansehen in der Welt zugefügt habe, werde es Jahre brauchen.(2) Entgegen der Hoffnung Michael Linds gewann dann George W. Bush die zweite Wahl. Auch wenn er in seiner zweiten Präsidentschaft weniger Schaden anrichtete als in seiner ersten, war er doch der Letzte, von dem die erforderliche Korrektur hätte ausgehen können.

 

Die Fehldeutung von 1989

Es macht einen Unterschied, ob man die Auflösung der Blockordnung als Sieg des Westens und der USA oder als Durchbruch zu einer globalisierten Welt begreift. Im einen Fall kann es nur darum gehen, die Macht und den Einfluss zu konsolidieren, die dem Westen und den USA mit dem Ende des Kalten Krieges in den Schoß gefallen sind. Es bleibt nur ein Anpassungsproblem von zurückgebliebenen Teilen der Welt an den Westen. Im anderen Fall muss die Welt in ihrer neuen Beschaffenheit selbst erst noch verstanden werden.

Was ist überhaupt Globalisierung, von der seit Anfang der 1990er-Jahre überall die Rede war? Allermeist wurde die Globalisierung lediglich als ökonomische Durchdringung der Welt mit Kapitalismus und moderner Technologie verstanden. In diesem Sinn hatte der Zusammenbruch des Sowjetblocks lediglich die letzten Schranken beseitigt, die der Ausbreitung des Kapitalismus und der Moderne in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch lange im Wege gestanden hatten. Diese Reduzierung der Globalisierung auf ökonomische und technologische Entwicklungen verträgt sich natürlich gut mit der Version vom »Sieg des Westens« und einem Selbstverständnis der USA als einzig verbliebener Supermacht in einer unipolaren Welt. Das kann man dann als neokonservative oder als antikapitalistische Ideologe positiv oder negativ werten. Die zugrunde liegende Sichtweise bleibt gleich.

Schaut man aber genauer hin, welche Entwicklungstendenzen mit der Auflösung des Sowjetblockes eine neue Stufe erreicht haben, dann zeigt sich nicht nur eine Vermarktung, sondern auch eine »Verstaatlichung« der Welt. Die kapitalistische Produktionsweise stand immer in Wechselbeziehung zu bestimmten politischen Herrschaftsformen. Der reale Kapitalismus ist immer durch die politische Form geprägt, in der er sich entfaltet. Seine erste Ausbreitung in die Welt war mit der Expansion der europäischen Imperien verbunden. Seit deren Auflösung entwickelt sich die kapitalistische Weltwirtschaft in einer Welt von Staaten. Durch den Staat, beziehungsweise den Gesetzgeber, nimmt die Öffentlichkeit auf konkrete Ausformung des Kapitalverhältnisses Einfluss. Die inneren Bewegungsgesetze des Kapitals sind überall die gleichen. Die Schranken, die ihnen die politische Form der Gesellschaft zieht, unterscheiden die Kapitalismen. Auch an die Stelle des Sowjetimperiums sind schließlich eine Reihe von unabhängigen Staaten getreten. Für die USA, die sich lange in einer Welt europäischer Imperien bewegten und zuletzt als Blockvormacht des Westens gegen das Sowjetimperium agierten, bedeutete die neue Stufe der Globalisierung, dass sie sich entweder als stärkster Staat unter Staaten um eine weltweite Zusammenarbeit dieser Staaten bemühen oder sich selbst zur imperialen Macht aufwerfen mussten. Keins von beiden taten sie konsequent. Die eine Option schien unter der Würde der »einzig verbliebenen Supermacht« zu sein, die andere bürdete Lasten auf, die auch von den USA nicht zu tragen sind.

 

Zeitalter der Globalisierung – Age of Nonpolarity

Es scheint einen historischen und funktionellen Zusammenhang zwischen dem »Zeitalter der Globalisierung«, das 1989 eröffnet wurde, und einer neuen Nichtpolarität der Welt zu geben. Die grenzüberschreitenden transnationalen Netze der Weltwirtschaft sind rund um den Globus auf Rechtsräume angewiesen, in denen sie sich entfalten können. Wie die Dinge liegen, können diese Rechtsräume heute nur von Staaten garantiert werden. Daraus erwächst die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit unter ihnen. Zugleich erweist sich diese Zusammenarbeit auf Grund der proklamierten Gleichheit der Staaten als sperrig gegen jede feste Hierarchisierung nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam, der Unterordnung der schwächeren unter die stärkeren Staaten. Die Staatenwelt macht es neuen Imperien schwer.

Auch eine sehr enge Zusammenarbeit unter Staaten führt nicht zum Superstaat oder global gedacht zum Weltstaat, auch wenn neulich sogar in der Financial Times von einer Weltregierung als gar nicht so abwegiger Möglichkeit zu lesen war.(3) Die mehr oder weniger entwickelte politische Form der Kooperation unter Staaten ist die Integration, das heißt eine Form des Zusammenwirkens, in der auf Souveränität nicht prinzipiell verzichtet wird, sondern die Souveränitäten institutionell miteinander verflochten werden. Die Europäische Union ist ein Beispiel für eine relativ weit fortgeschrittene Form der Integration, aber auch die Vereinten Nationen sind eine politische Form der Integration. Indem die UNO in ihr Reformdokument von 2005 die »Responsibility to protect« aufnahm, überwand sie ausdrücklich ein Verständnis von Souveränität, das die Staaten als gegeneinander abgeschlossene Monaden setzt. Staaten im Sinne der UNO haben Verpflichtungen gegenüber ihren Bürgern, die notfalls durch die Staatengemeinschaft eingelöst werden müssen. Staaten sind definiert als Mitglieder der Staatengemeinschaft. Wenn Staaten in ihren Aufgaben vollständig versagen, bleiben ihre Verpflichtungen an der UNO hängen. Sie kann aber funktionierende Staaten nicht ersetzen. Jede Intervention der UNO muss deshalb die Staatsbildung als zentrale Aufgabe auf sich nehmen.

Der Unterschied der jetzigen Finanz- und Wirtschaftskrise und der von 1928 ff. besteht wahrscheinlich weniger darin, dass die Ökonomen heute ein besseres Verständnis der Krise hätten als damals und die Staaten über bessere Instrumente verfügten, um Bankenzusammenbrüche zu vermeiden und Konjunktureinbrüchen entgegenzuwirken. Das eine scheint nicht der Fall zu sein und das andere muss sich erst noch weisen. Die Unterschiede liegen in einer größeren Verflechtung der Ökonomien. Das lässt eine Krise wie die jetzige durch Staatsgrenzen nicht ausgrenzen. Zugleich haben sich nach dem Ende der Imperien Staatsräume und Wirtschaftsräume so auseinander entwickelt, dass kein Staat »seinen« Wirtschaftsraum von der globalen Wirtschaft abtrennen kann, ohne sich selbst den Garaus zu machen. Stattdessen verlangt die Globalität der Krise das enge Zusammenwirken der Staaten, in erster Linie das der wirtschaftlichen Schwergewichte. Dieses Bewusstsein scheint vorhanden. Im Verlauf dieser Krise wird sich wahrscheinlich das Missverhältnis zwischen hoch vernetzter Weltwirtschaft und immer noch ziemlich segmentierter Staatenwelt schmerzlich bemerkbar machen. Die Forderung nach stärkerer Kooperation der Staaten und größerer Vereinheitlichung staatlicher Regulierungen wird nicht zuletzt von Interessenvertretern der Banken- und Wirtschaftsverbände zu hören sein.

 

Neuauftritt alter Mächte – notwendige Gewichtsverschiebungen

Dass mit der Globalisierung, also dem Ende der europäischen Imperien, die Teile der Welt, die durch die europäischen Imperien kolonialisiert oder in eine Randposition gedrängt worden waren, ihre Rückkehr in die Welt anstreben und realisieren, kann eigentlich nicht überraschen. Die globalisierte Welt lebt von ihren horizontalen Verknüpfungen und ist zugleich auf deren Sicherung im Raum angewiesen. Da heute Staaten und nicht Weltreiche diese Sicherheit bieten müssen, können sich die Staaten nicht untereinander abschotten, sondern müssen ihrerseits ihre Fähigkeit zur Kooperation unter Beweis stellen. Eine entscheidende Rolle wächst unter diesen Bedingungen der Bürokratie zu. Sind die Staatsapparate, also die Beamten in der Lage, horizontale Verknüpfungen untereinander zu pflegen und auszubauen? Man muss sich nur vorstellen, wie viele Telefonate unter Beamten, wie viele E-Mails zwischen Ministerbüros notwendig waren, um die gemeinsame Erklärung der G 20 vom November des letzten Jahres vorzubereiten und abzustimmen. Die Staaten müssen unter Bedingungen der Globalisierung ihrerseits auf allen Ebenen horizontale Verbindungen knüpfen. Auf Grund der globalen Vernetzung der Weltwirtschaft sind auch die Staaten daran interessiert, keinen Staat auszuschließen und sich selbst nicht ausschließen zu lassen. Jeder Staat hat schon aus wirtschaftlichen Gründen ein Interesse, bei der Globalisierung dabei zu sein. Das wichtigste Pfund der EU gegenüber den Mitgliedstaaten und anderen Mächten dürfte ihre geschmeidige Bürokratie sein, die sich täglich in der Moderation unterschiedlicher Interessen bewähren muss.

Dass China und Indien, aber auch Staaten wie Brasilien, an relativem wirtschaftlichem Gewicht gewinnen und dies auch zunehmend in den internationalen Institutionen berücksichtigt sehen wollen, ist kein Nachteil für die USA und die EU, sondern geradezu eine Voraussetzung dafür, dass die Chancen wachsen, eine der Globalisierung angemessene neue Weltordnung zu etablieren. Dass Russland wieder an Stärke gewonnen hat, ist ebenfalls wichtig. Dass diese Stärke fast ausschließlich auf der Ausbeutung von Gas- und Ölvorkommen beruht, macht sie extrem von äußeren Marktentwicklungen abhängig. Als Rentnerstaat mit Atombombe bleibt Russland ein starker Risikofaktor der internationalen Beziehungen. Die russische Regierung sorgt in kurzen Abständen dafür, dass diese Tatsache nicht in Vergessenheit gerät.

Weil die USA eine Republik sind, in der Wahlen einen Kurswechsel erzwingen können, dürfen nun wieder politische Erwartungen an die USA gerichtet werden. Weil in den letzten zwanzig Jahren andere Mächte als die USA an Bedeutung gewonnen haben, können und müssen die politischen Erwartungen an eine neue Weltordnung sich heute nicht allein an die USA richten. Die USA aber scheinen reif für die Einsicht geworden zu sein, dass es für sie kein Nachteil sein muss, mit anderen Mächten und ihrem Einfluss zu rechnen. Für die Überwindung der Wirtschaftskrise wird von entscheidender Bedeutung sein, wie die USA und China mit ihrer Fähigkeit, sich ökonomisch gewaltig schaden zu können, in der jetzigen Situation umgehen. Um die Sprengsätze an der Staatenwelt zu entschärfen, bleibt die Ermächtigung der UNO durch die Mitglieder eines vielleicht erweiterten Sicherheitsrates die wichtigste Voraussetzung. Mit den Schwierigkeiten der USA sind vielleicht staatliche Allmachtsfantasien überall erledigt. Die Vorstellung von den USA als »einzig verbliebener Supermacht« war die Mutter aller Blasen. Vielleicht ist mit ihr die Vorstellung, in der globalisierten Welt Supermacht entwickeln zu können, ganz allgemein und definitiv geplatzt. 2009 könnten so die Chancen, die sich 1989 zeigten, schließlich doch noch ergriffen werden.

 

1

Emmanuel Todd: Weltmacht USA. Ein Nachruf. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer und Enrico Heinemann, München (Piper Verlag) 2003, S. 250; vgl. die Besprechung in Kommune 2/03, S. 108.

2

Michael Lind: »Opportunity missed«, New American Foundation, 1. Februar 2004 (http://www.newamerica.net/publications/policy/opportunity_missed).

3

Gideon Rachman: »And now for a world government«, in: Financial Times, 8.12.08.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 1/2009