Martin Altmeyer

Havanna in der Vorwendezeit

Die neue Gesellschaft erwächst aus den Trümmern der alten

 

 

Die kubanische Revolution hat, Ironie der Geschichte, jenes koloniale Ruinen-Ambiente erhalten, das der vormalige Diktator Batista einer großräumigen Modernisierung opfern wollte. Es bildet den Rahmen einer Gesellschaft im Niedergang, deren Führung nicht mehr lange die Zeit wird anhalten können. Einige Grundelemente des Übergangs, so unser Autor, lassen sich schon heute erkennen.

 

Die Dekadenz kehrt zurück – ein Streifzug

Am späten Nachmittag treten wir über die von Arkaden umfasste Terrasse des Inglaterra auf die Straße. Unmittelbar vor dem im Jahr 1875 errichteten, nach Jahrzehnten des Verfalls in seiner neoklassizistischen Pracht wieder einigermaßen hergestellten Kolonialhotel verläuft der Prado. Auf der anderen Straßenseite, dem Inglaterra gegenüber, liegt der schattige Parque Central. Um den Park herum sind noch weitere der ehemaligen Nobelherbergen angesiedelt, die längst auf drei Sterne herabgestuft sind, wie das 1888 in Betrieb genommene Telégrafo oder das 1909 eingeweihte, inzwischen etwas verblichene Plaza, dessen großartige Lobby mit dem prächtigen Marmorboden im Original erhalten ist. In dieser ehrwürdigen Nachbarschaft wirkt das protzig-moderne 5-Sterne-Hotel Parque Central, in dem die Crews der Fluggesellschaften absteigen, wie ein Fremdkörper.

Mit dem New Yorker Central Park hat der Parque Central zwar den Namen gemeinsam, doch mit seiner Fußballplatzgröße reicht er nicht ganz an dessen Dimensionen heran. Aber historische Pferdekutschen gibt es hier auch, die von den Hotels zur Besichtigungstour durch die Altstadt starten. Dazu warten jede Menge Fahrrad- und Motorradrikschas sowie die zu malerischen Sammeltaxis umfunktionierten amerikanischen Straßenkreuzer der 1950er-Jahre, deren Fahrer schon mal aggressiv auf die potenzielle Kundschaft zugehen. Sobald sich jedoch der rote 54er-Buick mit den Heckflossen, der lilafarbene 56er-Chevrolet oder der graugrüne Oldsmobile unbekannten Baujahrs einmal in Bewegung gesetzt haben, wird defensiv gefahren, weil sich keiner der stolzen Besitzer, die ihre Wagen häufig vom Vater oder Großvater übernommen haben, einen Blechschaden leisten kann: Ersatzteile sind nicht mehr zu bekommen. Selbst die altertümlichen Lastwagen und Busse aus aller Herren Länder, die eine Menge Lärm und noch mehr Abgas verursachen, halten sich aus guten Gründen streng an die Regeln. So bewegt sich der bunte Verkehr in Havanna eher in gemächlichen Bahnen.

Gleich hinter dem Park beginnt die malerische Calle Obispo, die als eine Art Fußgängerzone durch das Straßengewirr der Altstadt bis zum weitläufigen Hafengelände an der Bucht von Havanna führt und Touristen in bessere Geschäfte, schöne Cafés und Edelrestaurants lockt. In prächtig restaurierten Läden haben sich Adidas und Nike oder italienische Designer-Marken – in Joint Ventures mit dem kubanischen Staat, der bei solchen Verbindungen stets 51 Prozent der Anteile hält – längst ihren Platz an der Sonne gesichert. In Hafennähe, um die Plaza de Armas, die Plaza de San Francisco und die Plaza Vieja herum, allesamt herrlich angelegte, sorgfältig rekonstruierte historische Plätze, kann man sich wie in den vornehmen Bezirken von Barcelona oder Madrid fühlen. Am Eingang zur Calle Obispo, die gerade mit alten Blocksteinen neu bepflastert wird, liegt das El Floridita, in dem Hemingway einst seine Daiquiris trank und mit Freunden Feste feierte; die 1817 eröffnete Restaurantbar, in den goldenen 1940er- und 1950er-Jahren zum Treffpunkt der Berühmtheiten aufgestiegen, ist heute zu einem Pilgerlokal mit grotesk überteuerten Preisen geworden.

Vom Hotel Inglaterra nur durch eine schmale Fußgängerzone getrennt, liegt rechts das pompöse, 1837 im Stil des deutschen Neo-Barock erbaute Gran Teatro, gleich dahinter das dem Washingtoner Vorbild nachempfundene Capitolio Nacional, das 1912 begonnen und 1929 unter dem Diktator Machado fertig gestellt worden war, in republikanischen Zeiten Sitz von Repräsentantenhaus und Kongress war, nach dem Sieg der Revolution verschiedene kulturelle, wissenschaftliche und politische Institutionen beherbergte. Nach links weitet sich der Prado zum leicht ramponierten Boulevard, einer ehemaligen Prachtstraße, deren Fahrspuren durch eine erhöhte, über Steintreppen zugängliche und von jahrhundertealtem kunstvollem Mauerwerk begrenzte, mit rotem Marmorstein belegte und mit ausladenden Palmen bestandene Mittelpromenade getrennt werden. Um diese Zeit, wenn die Luft ein wenig abzukühlen beginnt, promenieren hier wieder die Touristen, die Kuba nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ins Land zurückrief, um die darbende Wirtschaft anzukurbeln und fehlende Devisen auszugleichen. Für sie stellen die Straßenkünstler hier ihre Werke aus. Hier finden sich abends auch kubanische Familien ein, dazu die Flaneure und jugendlichen Nichtstuer, die man später in den zahlreichen Bars, Clubs und Casas de la Musica, die in den wunderbar morbiden Gemäuern am und um den Prado neu entstanden sind, wiederfinden kann.

In La Habana Vieja, diesem von der Kolonialarchitektur des 19. Jahrhunderts geprägten Zentrum von Havannas Altstadt, blühten in den vorrevolutionären Zeiten Glücksspiel und Prostitution. In den Ballsälen der großen Hotels, die seit den 1920er-Jahren mitunter direkt von der Mafia betrieben wurden, waren die berühmtesten Casinos und Nachtclubs untergebracht, gleich daneben lagen die Bordelle. Im hügeligen Vedado, der westlich angrenzenden so genannten Neustadt, die in ihrer jetzigen Gestalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden ist, betrieb der US-Gangster Charles »Lucky« Luciano das 1930 als Palast erbaute Hotel Nacional de Cuba (in dem später auch der revolutionäre Staat seine sympathisierenden Gäste unterbrachte, wie etwa Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, während die Revolutionäre um Fidel und Che im benachbarten, 1959 brandneuen Hilton Hotel residierten, wo sie nach ihrer glorreichen Ankunft im obersten Stockwerk Quartier bezogen und das sie umgehend in Habana Libre umbenannt hatten). Ein Hauch dieser verruchten Epoche Havannas ist heute noch oder besser: wieder zu spüren. Denn das lasterhafte Vergnügen, dem die sittenstrenge Revolution ein Ende bereitete, weil ihr die bourgeoise Dekadenz des städtischen Lebens zuwider war, ist zurückgekehrt.

 

Im urbanen Alltagsleben kündigt sich das Ende der Gleichheitsutopie an

In der frühen Abenddämmerung ist die Terrasse des Inglaterra, das mit seinem charakteristischen schmiedeeisern-gläsernen Vordach schon in Graham Greenes Roman Unser Mann in Havanna Erwähnung findet, gut frequentiert. Man trifft sich zum Nachmittagstee oder Apéritif. Auch in der Pasteleria Francesa nebenan, die alle Sorten von Kaffee und köstlichen Kuchen anbietet, sind die Bistro-Tische besetzt. Die vorwiegend europäischen und kanadischen Touristen genießen durch die offenen Torbögen hindurch den Blick auf das bewegte Straßenleben, während sie von den kubanischen Kellnerinnen immer wieder aufgefordert werden, ihre Handtaschen, Geldbörsen und Kameras im Auge zu behalten. Denn der Straßendiebstahl ist wieder notorisch in Havanna, genau wie ein anderes Laster, das im sozialistischen Kuba längst ausgerottet schien.

Im Straßenbild fallen sie auf, die jungen hübschen Frauen im superknappen Outfit an der Seite älterer weißer Männer. Man sieht sie zuweilen wartend in der Hotellobby, in den besseren Restaurants und Cafés (auch an den Stränden vor den Toren Havannas, wo sie von der Polizei allerdings ständig kontrolliert werden und ihre Ausweise vorzeigen müssen). Manchmal sind sie zu zweit oder zu dritt, fast alle tiefdunkler Hautfarbe. Auch die Terrasse des Inglaterra wird abends zur Bühne der käuflichen Sexualität, die übrigens Angebote jeder Art für beide Geschlechter vorhält: meist weiße europäische Männer mit schwarzen kubanischen Frauen, aber auch Frauen mittleren Alters aus Frankreich, Holland oder Deutschland, die ihre kubanischen Liebhaber aushalten, oder ein distinguierter Schwuler im Leinenanzug, der unter den muskulösen Kubanern, die mit aufreizend körperbetonter Kleidung den Bürgersteig vor der Terrasse als Laufsteg benutzen, einen jüngeren Partner zu finden hofft.

Ein wenig mag sich der Fremde um Jahrzehnte zurückversetzt fühlen, ins vorrevolutionäre Habana Vieja, als James Wormold (Unser Mann in Havanna) dort sein Staubsaugergeschäft betrieb, bevor er in die Fänge des britischen Geheimdienstes geriet: »An jeder Straßenecke standen Männer und riefen ihm ›Taxi‹ zu wie einem Fremden, und den ganzen Paseo entlang sprachen ihn alle paar Schritte die Zuhälter an, automatisch, ohne echte Hoffnung. ›Kann ich Ihnen dienen, Sir?‹ ›Ich kenne alle hübschen Mädchen.‹ ›Sie suchen eine schöne Frau.‹ ›Ansichtskarten?‹ ›Sie wollen zu einem dreckigen Film.‹« So ähnlich ließe sich eine Straßenszene im heutigen Havanna beschreiben. Nur dass alles etwas leiser und verdeckter zugeht. Es wird mehr gezischt und getuschelt als gerufen, doch die Codes sind eindeutig: Sextourismus. Die Jineteros und Jineteras sind wieder am Werk, kubanische Schlepper und Vermittler, die sich zunächst freundlich erkundigen, wie es einem geht und woher man kommt, um dann mit einiger Hartnäckigkeit alle möglichen Dienstleistungen anzubieten: Mädchen, aber auch Zigarren, Privatzimmer, Paladares. Uns führt eine junge Familie – er im Rollstuhl, sie hochschwanger und mit der kleinen Tochter an der Hand – durch die halbe Altstadt zu einem Restaurant, das stets an der nächsten Ecke sein sollte, um dort für die aufgenötigte Freundlichkeit einen ordentlich überzogenen Obulus zu verlangen. Es ist ein Geschäft, für die Kubaner allerdings geht es ums Überleben.

Weil nämlich niemand vom staatlichen Einheitslohn existieren kann, der umgerechnet etwa 15 Dollar monatlich beträgt, ist jeder auf Zusatzeinnahmen angewiesen. Mangels Alternativen sind die Touristen mit ihren Devisen oft die einzige Zusatzeinnahmequelle. Sie besitzen den begehrten konvertiblen Peso (CUC), der 1:1 fest an den Dollar gebunden ist und im Vergleich zum kubanischen Peso offiziell 1:24 getauscht wird. Die kubanische Regierung hatte dieses gespaltene Währungssystem 1995 eingeführt, als nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Welt auch die Märkte für kubanische Waren in den Bruderländern zusammenbrachen, der Devisenfluss versiegte und der 1993 als einzige Zweitwährung zugelassene Dollar zur rapiden Abwertung des kubanischen Pesos geführt hatte. Die zu Beginn der 1990er-Jahre gegen die chronische Wirtschafts- und Währungskrise Kubas ergriffenen Notmaßnahmen (verharmlosend zur »Sonderperiode« erklärt) dauern immer noch an. Nachdem seit 2004 nicht mehr mit Dollar bezahlt werden kann und die Banken beim Dollarumtausch gar einen »antiimperialistischen« Strafzoll von 10 Prozent erheben, ist der Euro zur wichtigsten Auslandswährung geworden.

Die Spaltung der einheimischen Währung rettete Kuba zwar vor dem Staatsbankrott, korrumpiert aber das ganze Land, indem sie die kubanische Gesellschaft untergründig in zwei Kasten teilt, über deren Zugehörigkeit der begehrte »Cuc« entscheidet. Während die durch Gutscheine für Grundnahrungsmittel ergänzten Peso-Löhne nicht einmal das Existenzminimum der Bevölkerung sichern, sind diejenigen im Vorteil, die als Taxifahrer, Straßenhändler, Geschäftsleute, Betreiber privater Restaurants oder eben auch als Prostituierte in konvertibler Währung bezahlt werden. Ganz abgesehen von den (umgerechnet) unverhältnismäßig hohen Trinkgeldern, die eine einfache Beschäftigung in Restaurants oder Hotels finanziell außerordentlich attraktiv machen.

So erklärt sich, dass an Schulen und in Krankenhäusern sich allmählich Müdigkeit und Absentismus ausbreiten, weil die angestellten Lehrer und Ärzte nach Feierabend neben ihrem Beruf einer weitaus einträglicheren Zweitarbeit nachgehen. Inzwischen herrscht sogar Lehrer- und Ärztemangel, weil sich der akademische Nachwuchs lieber gleich als Taxifahrer oder Kellner verdingt. Das viel gepriesene, für die Bevölkerung jedenfalls kostenlose Bildungs- und Gesundheitssystem befindet sich heute in einer prekären Lage. Man munkelt sogar, dass in den Kliniken unter der Hand doch bezahlt wird, etwa für eine aufwändige Operation oder um einen schnelleren Termin zu bekommen.

Auf mentaler Ebene ist das von der revolutionären Ethik geschmähte Geld in Gestalt der teuren Devisenwährung zum stummen Hebel für den Einzug von Eigennutz, Besitzdenken und Konkurrenzverhalten im gegenwärtigen Kuba geworden, Eigenschaften, die der neue Mensch doch hatte ablegen sollen. Wer konvertible Pesos besitzt, hortet sie für kommende Zeiten. Wer keine besitzt, sucht einen Zugang. Den besten Zugang (und längst auch den größten Besitz) haben die Funktionseliten in Partei, Staat und Militär sowie die Kinder aus dem Revolutionsadel. Wenn die Regierung unter Raúl Castro seit neuestem den privaten Kauf von Mobiltelefonen, PCs und Laptops gestattet oder den Kubanern erlaubt, Hotelzimmer im eigenen Land zu buchen, sind die eigentlichen Adressaten solcher Liberalisierungsorgien die Söhne und Töchter der Funktionäre. Ausgestattet mit teuren Handys, schicken Sportklamotten und dem Habitus der kommenden Elite, bestimmen diese selbstbewussten Kids heute schon die Szenen des großstädtischen Nachtlebens, während die gewöhnliche Jugend sich den teuren Luxus nicht leisten kann.

Aber es ist beileibe nicht nur die sozialistische Moral mit ihrem asketischen Gleichheitsideal, die in Havanna schleichend verfällt. Sichtbarer ist der Verfall der Häuser und des kulturellen Erbes, das sie verkörpern. Havanna ist buchstäblich – und nicht nur im politisch-metaphorischen Sinne – ein Museum der Ruinen.

 

Die Ruinen von Havanna

An seinem nordöstlichen Ende läuft der Prado auf die Stelle zu, wo sich das Wasser aus dem offenen Meer des Golfs von Mexiko durch den engen Canal de Entrada in die herrliche Bucht von Havanna ergießt. Nach Südosten führt nun die Avenida del Puerto zum Hafen. Auf der anderen Seite erstreckt sich in einer sanften Biegung der Golfküste entlang nach Nordwesten der legendäre Malecon, jene kilometerlange Uferstraße, die das von der Kolonialarchitektur geprägte Habana Vieja mit dem Vedado verbindet – am Stadtteil Centro vorbei.

In Centro Habana, das sie einmal die Kasbah genannt haben, sind mehr als die Hälfte der Häuser vom Einsturz bedroht. Durch eine wundersame Statik gehalten, so schreibt der im spanischen Exil lebende kubanische Schriftsteller Antonio José Ponte, »drängen sich die einsturzgefährdeten Gebäude wie Tattergreise« aneinander. Der Malecon, der den Stadtteil vom Meer trennt, wird im Norden durch Felsen und eine mächtige Kaimauer vor der Meeresbrandung geschützt, während an seiner Südseite das Ensemble verfallender Herrschaftsvillen (jede für sich ein einzigartiges Baukunstwerk, dem man seine bessere Vergangenheit noch ansieht) durch abenteuerliche Stützkonstruktionen vor dem endgültigen Zusammenbruch zu bewahren versucht wird. Vereinzelte Baulücken zeugen davon, dass diese Versuche manchmal vergeblich waren, aber immerhin sind einige der Gebäude bereits saniert oder zumindest im Stadium der Sanierung.

Zwar hatte die kubanische Regierung das historische Zentrum 1976 bereits unter Denkmalschutz gestellt, aber erst dem Eingreifen der UNESCO, die Havannas Altstadt 1982 zum Weltkulturerbe erklärte und entsprechende Mittel zur Verfügung stellte, war es zu verdanken, dass der Verfall gebremst und mit der aufwändigen Restaurierung begonnen werden konnte. Inzwischen sorgt ein überaus engagierter, mit einer eigenen Behörde und erheblichen Befugnissen ausgestatteter Stadthistoriker für eine sorgfältige Rekonstruktion, die angesichts des ruinösen Zustands der meisten Häuser und der enormen Zahl der Objekte freilich Jahrzehnte dauern wird und immer wieder an Kostengrenzen stößt. Eine Sisyphusarbeit, von der uns auch die maßstabgetreue (1:1000) Miniaturversion der kubanischen Hauptstadt, die in der Maqueta de La Habana im Stadtteil Miramar ausgestellt ist, keinen Eindruck vermitteln kann; denn sie kennzeichnet mit verschiedenen Farben zwar die Epochen, in der die Häuser gebaut wurden (Braun für die Kolonialzeit, Ocker für die republikanische Zeit und Elfenbein für die Ära des revolutionären Kuba), nicht aber deren baulichen Zustand.

Dass Havanna im Lauf des 19. Jahrhunderts aus einer florierenden Metropole zu einer morbiden Stadt voller Ruinen werden konnte, verdankte sich freilich nicht bloß den Umständen der Natur oder dem Zahn der Zeit, der stetig an der Bausubstanz nagte. Als nach dem Umsturz die Wohlhabenden, die Angehörigen der Mittelklassen, die Anhänger Batistas – sofern sie den Volkszorn überlebten – massenhaft die Stadt verließen oder verlassen mussten, wurden Teile der in die Stadt strebenden Landbevölkerung in die leer stehenden Häuser einquartiert. Mit der Folge, dass diese innerhalb weniger Jahre zugrundegerichtet waren, weil die Mittel, der Wille oder das Wissen zur Erhaltung fehlten, weil die Bewohner ohne statische Rücksichten alte Wände herausrissen oder versetzten oder großzügig gestaltete Räume durch familiengerechte Zerstückelung verunstalteten, weil Parkettböden verfeuert und sanitäre Einrichtungen demoliert wurden oder weil der Regen durch kaputte Fenster und morsche Dächer drang und sich niemand um die Beseitigung der Wasserschäden kümmerte. Wer mehrere Wohnhäuser besaß und blieb, durfte nur eines behalten, musste aber die Miete halbieren, sodass für die bauliche Erhaltung oder gar Modernisierung oft kein Überschuss blieb. Als die Restaurants und Bars, die Hotels und Geschäfte, die Casinos und Bordelle sich leerten, weil die Betreiber bankrott gegangen oder geflohen oder der revolutionären Gerichtsbarkeit zum Opfer gefallen waren, kümmerte sich niemand um die funktionslos gewordenen Orte des Vergnügens, die nun vom Staat für die Wohnungssuchenden aus den ärmeren Stadtteilen requiriert wurden.

Strom, Gas und Wasser kosteten nichts oder wurden ohne Ansehen des wirklichen Verbrauchs zu einem billigen Einheitspreis berechnet, sodass die Versorgung bald zusammenbrach und mit ihr die Versorgungskanäle. Sollte die neue Gesellschaft nicht aus den Trümmern der alten erwachsen? Und der neue, der sozialistische Mensch, sollte er nicht die alten, durch die Erfahrung der kolonialen wie bürgerlichen Kultur geprägten Wertvorstellungen überwinden? Insbesondere das Privateigentum stand am Pranger. Die Strand- und Sommerhäuser der Reichen, ihre Florida-Villen in Miramar jenseits des Flusses, die demonstrativ den Besitzlosen zugewiesen worden waren, stehen heute zum großen Teil leer und verrotten, weil für die Instandhaltung kein Geld da war und niemand sich verantwortlich fühlte. Baumaterialien stehen ohnehin nicht zur Verfügung. Wer Zement braucht, findet keinen Baumarkt, sondern kauft es auf dem Schwarzmarkt, wo Arbeiter der vergesellschafteten Bauindustrie den heiß begehrten, aus dem Staatseigentum abgezweigten Stoff verhökern, um damit ihr spärliches Gehalt aufzubessern. Währenddessen steigt der Bedarf an Neubauwohnungen, der vom Staat nicht mehr zu decken ist.

Die Revolution selbst beförderte den Verfall der wertvollen Bausubstanz, willentlich oder durch ihre verheerende Indifferenz. Die revolutionäre Gleichgültigkeit galt nicht nur der alten Architektur, sondern auch anderen kulturellen Ausdrucksformen. Den ehemaligen Buena Vista Social Club im Vedado, den Ry Cooder und Wim Wenders mit ihrem Film aus der Vergessenheit holten und unsterblich machten, musste Compay Segundo mit seinen Musikerfreunden in den 1990er-Jahren erst mühsam ausfindig machen, weil zwar die Adresse noch existierte, nichts aber, was die Existenz des einst so berühmten Zentrums von Havannas Musikleben belegt hätte. Als wir an der Tür klopfen, öffnen uns vier junge Männer, die im Dämmerlicht eines kahlen Vorraums zusammensitzen und von dem durch das Kino weltweit berühmt gewordenen Club, der sich im hinteren Teil des Hauses befunden hatte, nichts wissen.

Dem radikalen Erneuerungsprogramm der Revolution standen die architektonischen Zeugnisse der Vergangenheit ohnehin bloß im Wege. Statt die innerstädtischen Bezirke zu erhalten, wurde lieber in riesige Hochhäuser am Rande der Stadt investiert, die in Alamar zu besichtigen sind und an die vorstädtischen Wüsten in der ehemaligen DDR erinnern. In seinem Buch Der Ruinenwächter von Havanna (Madrid 2007; deutsch im Verlag Antje Kunstmann, München 2008) schildert der inzwischen aus dem kubanischen Schriftstellerverband ausgeschlossene Antonio José Ponte den ideologischen Hintergrund dieser desaströsen Stadtentwicklungspolitik. Seine Schilderung wirft ein bezeichnendes Licht auf die kulturstürmerische Moral der kubanischen Revolution:

»Alles was vor 1959 errichtet worden war, das Werk der Väter und Großväter, war mit Schuld behaftet und sollte sich bis auf die Grundmauern schämen. Dank gnadenlos hochgezogener Plattenbauten entstand im Osten der Bucht von Havanna das größte Wohngebiet der letzten vierzig Jahre. Man widmete den neuen Vorort dem neuen Menschen und verzichtete auf jeden Tand. Der einzige Schmuck dort war der rechte Winkel. Für Gärten und Parks war später Zeit. Es war besser, wenn sich erst mal kein Baum zwischen den Gebäuden erhob, zwischen den Genossen sollte Offenheit herrschen. Alamar repräsentierte wie der neue Mensch den Sieg der vorgefertigten Materialien. Ein kurzer Sieg, denn wenige Jahre nach seiner Errichtung ist es bereits ein Ruinenhaufen ohne jede Spur von Schönheit (S. 179 f.)

Allerdings darf man nicht unterschlagen, dass auch Mr. Wormold durch eine bereits verfallende Stadt schlenderte und es im vorrevolutionären Havanna seit 1956 Pläne gab, einen Großteil der historischen Altstadt abzureißen und durch Neubauten zu ersetzen. Ein von amerikanischen Architekten unter dem Kriterium der Autofreundlichkeit entwickeltes Stadtentwicklungsprojekt sah innerstädtische Schnellstraßen anstelle des bestehenden Straßengewirrs vor und wollte die kolonialen Innenhöfe zu Parkplätzen umwidmen. Durch den Sturz Batistas wurde dieses gewaltige Zerstörungsvorhaben gerade noch gestoppt. Es bleibt eine Ironie der Geschichte, dass dank einer kubanischen Revolution, die ihrerseits nichts dafür getan hat, den Verfall Havannas aufzuhalten, überhaupt eine verfallende Kolonialstadt erhalten geblieben ist.

Während unter der Ägide der Denkmalschützer aus den kolonialen Prachtbauten von Havannas Altstadt heute ein Museum nach dem anderen entsteht, richtet sich die Bevölkerung darauf ein, dass die Immobilienspekulation zurückkehrt. Wer davon profitieren wird, wenn eines Tages die Eigentumsbeschränkungen bei Grund und Boden fallen, ist ein offenes Geheimnis. Es werden diejenigen sein, die mit der Macht auch den ersten Zugriff haben: die Kader der Partei- und Staatsbürokratie, die Angehörigen der höheren Militärränge, die Manager der Staatsbetriebe. Zur sozialistischen Oligarchie, die ihre Hand jetzt schon auf den zukünftigen Pfründen hat, kommen diejenigen, die ihr Eigentum zurückfordern oder zurückkaufen werden: reiche oder reich gewordene Exilkubaner mit ihren Familien, die in Miami oder anderswo nur darauf warten, nach Kuba zurückzukehren.

Dann würde sich die neue Bourgeoisie einer zukünftigen Gesellschaft aus den Erben der kubanischen Revolution und denen ihrer Gegner zusammensetzen. Gewiss eine kuriose Mischung, die aber, wie im postsowjetischen Osteuropa zu besichtigen, nicht ohne Vorbilder wäre. Da der nationale Reichtum, anders als in Venezuela, nicht aus dem Boden fließt, sondern mit Hilfe von Unternehmergeist, Eigeninitiative und Innovationsbereitschaft hart erarbeitet werden muss, ist der grundrentenfinanzierte Sozialpaternalismus à la Hugo Chávez sicherlich kein Modell. Ob sich die kubanische Partei- und Staatsführung stattdessen am russischen oder doch eher am chinesischen Weg eines autoritären Kapitalismus orientieren wird, ist noch offen. In jedem Fall wird sie weiterhin die demokratischen Freiheiten unterdrücken müssen, um politische Macht und Einfluss zu behalten, wenn die Marktwirtschaft eines nicht allzu fernen Tages auch in Kuba Einzug hält. Ein wilder Kapitalismus treibt jetzt schon aus den Trümmern der Utopie.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 1/2009