Die kubanische Revolution hat, Ironie der Geschichte,
jenes koloniale Ruinen-Ambiente erhalten, das der vormalige Diktator Batista einer großräumigen Modernisierung opfern wollte. Es
bildet den Rahmen einer Gesellschaft im Niedergang, deren Führung nicht mehr
lange die Zeit wird anhalten können. Einige Grundelemente des Übergangs, so
unser Autor, lassen sich schon heute erkennen.
Die Dekadenz kehrt zurück – ein Streifzug
Am späten Nachmittag treten
wir über die von Arkaden umfasste Terrasse des Inglaterra
auf die Straße. Unmittelbar vor dem im Jahr 1875 errichteten, nach Jahrzehnten
des Verfalls in seiner neoklassizistischen Pracht wieder einigermaßen hergestellten
Kolonialhotel verläuft der Prado. Auf der anderen Straßenseite, dem Inglaterra gegenüber, liegt der schattige Parque Central. Um den Park herum sind noch weitere der
ehemaligen Nobelherbergen angesiedelt, die längst auf drei Sterne herabgestuft sind,
wie das 1888 in Betrieb genommene Telégrafo
oder das 1909 eingeweihte, inzwischen etwas verblichene Plaza,
dessen großartige Lobby mit dem prächtigen Marmorboden im Original erhalten
ist. In dieser ehrwürdigen Nachbarschaft wirkt das protzig-moderne 5-Sterne-Hotel
Parque Central, in dem die Crews der
Fluggesellschaften absteigen, wie ein Fremdkörper.
Mit dem New Yorker Central
Park hat der Parque Central zwar den Namen gemeinsam,
doch mit seiner Fußballplatzgröße reicht er nicht ganz an dessen Dimensionen
heran. Aber historische Pferdekutschen gibt es hier auch, die von den Hotels
zur Besichtigungstour durch die Altstadt starten. Dazu warten jede Menge
Fahrrad- und Motorradrikschas sowie die zu malerischen Sammeltaxis
umfunktionierten amerikanischen Straßenkreuzer der 1950er-Jahre, deren Fahrer
schon mal aggressiv auf die potenzielle Kundschaft zugehen. Sobald sich jedoch
der rote 54er-Buick mit den Heckflossen, der lilafarbene 56er-Chevrolet oder
der graugrüne Oldsmobile unbekannten Baujahrs einmal
in Bewegung gesetzt haben, wird defensiv gefahren, weil sich keiner der stolzen
Besitzer, die ihre Wagen häufig vom Vater oder Großvater übernommen haben,
einen Blechschaden leisten kann: Ersatzteile sind nicht mehr zu bekommen.
Selbst die altertümlichen Lastwagen und Busse aus aller Herren Länder, die eine
Menge Lärm und noch mehr Abgas verursachen, halten sich aus guten Gründen
streng an die Regeln. So bewegt sich der bunte Verkehr in Havanna eher in
gemächlichen Bahnen.
Gleich hinter dem Park
beginnt die malerische Calle Obispo, die als eine Art
Fußgängerzone durch das Straßengewirr der Altstadt bis zum weitläufigen Hafengelände
an der Bucht von Havanna führt und Touristen in bessere Geschäfte, schöne Cafés
und Edelrestaurants lockt. In prächtig restaurierten Läden haben sich Adidas
und Nike oder italienische Designer-Marken – in Joint Ventures mit dem
kubanischen Staat, der bei solchen Verbindungen stets 51 Prozent der Anteile
hält – längst ihren Platz an der Sonne gesichert. In Hafennähe, um die Plaza de Armas, die Plaza de San
Francisco und die Plaza Vieja
herum, allesamt herrlich angelegte, sorgfältig rekonstruierte historische Plätze,
kann man sich wie in den vornehmen Bezirken von Barcelona oder Madrid fühlen.
Am Eingang zur Calle Obispo, die gerade mit alten
Blocksteinen neu bepflastert wird, liegt das El Floridita,
in dem Hemingway einst seine Daiquiris trank und mit
Freunden Feste feierte; die 1817 eröffnete Restaurantbar,
in den goldenen 1940er- und 1950er-Jahren zum Treffpunkt der Berühmtheiten
aufgestiegen, ist heute zu einem Pilgerlokal mit grotesk überteuerten Preisen
geworden.
Vom Hotel Inglaterra nur durch eine schmale Fußgängerzone
getrennt, liegt rechts das pompöse, 1837 im Stil des deutschen Neo-Barock
erbaute Gran Teatro, gleich dahinter das dem Washingtoner Vorbild
nachempfundene Capitolio Nacional,
das 1912 begonnen und 1929 unter dem Diktator Machado
fertig gestellt worden war, in republikanischen Zeiten Sitz von
Repräsentantenhaus und Kongress war, nach dem Sieg der Revolution verschiedene
kulturelle, wissenschaftliche und politische Institutionen beherbergte. Nach
links weitet sich der Prado zum leicht ramponierten Boulevard, einer ehemaligen
Prachtstraße, deren Fahrspuren durch eine erhöhte, über Steintreppen zugängliche
und von jahrhundertealtem kunstvollem Mauerwerk begrenzte, mit rotem Marmorstein
belegte und mit ausladenden Palmen bestandene Mittelpromenade getrennt werden.
Um diese Zeit, wenn die Luft ein wenig abzukühlen beginnt, promenieren hier wieder
die Touristen, die Kuba nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ins Land zurückrief,
um die darbende Wirtschaft anzukurbeln und fehlende Devisen auszugleichen. Für
sie stellen die Straßenkünstler hier ihre Werke aus. Hier finden sich abends
auch kubanische Familien ein, dazu die Flaneure und jugendlichen Nichtstuer,
die man später in den zahlreichen Bars, Clubs und Casas
de la Musica, die in den wunderbar morbiden Gemäuern am und um den Prado neu
entstanden sind, wiederfinden kann.
In La Habana Vieja, diesem von der Kolonialarchitektur des 19.
Jahrhunderts geprägten Zentrum von Havannas Altstadt, blühten in den
vorrevolutionären Zeiten Glücksspiel und Prostitution. In den Ballsälen der
großen Hotels, die seit den 1920er-Jahren mitunter direkt von der Mafia
betrieben wurden, waren die berühmtesten Casinos und Nachtclubs untergebracht,
gleich daneben lagen die Bordelle. Im hügeligen Vedado,
der westlich angrenzenden so genannten Neustadt, die in ihrer jetzigen Gestalt
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden ist, betrieb der US-Gangster
Charles »Lucky« Luciano das 1930 als Palast erbaute Hotel Nacional
de Cuba (in dem später auch der revolutionäre Staat seine sympathisierenden
Gäste unterbrachte, wie etwa Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, während
die Revolutionäre um Fidel und Che im benachbarten, 1959 brandneuen Hilton
Hotel residierten, wo sie nach ihrer glorreichen Ankunft im obersten Stockwerk
Quartier bezogen und das sie umgehend in Habana Libre
umbenannt hatten). Ein Hauch dieser verruchten Epoche Havannas ist heute noch
oder besser: wieder zu spüren. Denn das lasterhafte Vergnügen, dem die
sittenstrenge Revolution ein Ende bereitete, weil ihr die bourgeoise Dekadenz
des städtischen Lebens zuwider war, ist zurückgekehrt.
Im urbanen Alltagsleben kündigt sich das Ende der
Gleichheitsutopie an
In der frühen Abenddämmerung
ist die Terrasse des Inglaterra, das mit
seinem charakteristischen schmiedeeisern-gläsernen Vordach schon in Graham
Greenes Roman Unser Mann in Havanna Erwähnung findet, gut frequentiert.
Man trifft sich zum Nachmittagstee oder Apéritif. Auch in der Pasteleria
Francesa nebenan, die alle Sorten von Kaffee und köstlichen Kuchen anbietet,
sind die Bistro-Tische besetzt. Die vorwiegend europäischen und kanadischen
Touristen genießen durch die offenen Torbögen hindurch den Blick auf das
bewegte Straßenleben, während sie von den kubanischen Kellnerinnen immer wieder
aufgefordert werden, ihre Handtaschen, Geldbörsen und Kameras im Auge zu
behalten. Denn der Straßendiebstahl ist wieder notorisch in Havanna, genau wie
ein anderes Laster, das im sozialistischen Kuba längst ausgerottet schien.
Im Straßenbild fallen sie
auf, die jungen hübschen Frauen im superknappen Outfit an der Seite älterer
weißer Männer. Man sieht sie zuweilen wartend in der Hotellobby, in den besseren
Restaurants und Cafés (auch an den Stränden vor den Toren Havannas, wo sie von
der Polizei allerdings ständig kontrolliert werden und ihre Ausweise vorzeigen
müssen). Manchmal sind sie zu zweit oder zu dritt, fast alle tiefdunkler
Hautfarbe. Auch die Terrasse des Inglaterra
wird abends zur Bühne der käuflichen Sexualität, die übrigens Angebote jeder
Art für beide Geschlechter vorhält: meist weiße europäische Männer mit
schwarzen kubanischen Frauen, aber auch Frauen mittleren Alters aus Frankreich,
Holland oder Deutschland, die ihre kubanischen Liebhaber aushalten, oder ein
distinguierter Schwuler im Leinenanzug, der unter den muskulösen Kubanern, die
mit aufreizend körperbetonter Kleidung den Bürgersteig vor der Terrasse als Laufsteg
benutzen, einen jüngeren Partner zu finden hofft.
Ein wenig mag sich der
Fremde um Jahrzehnte zurückversetzt fühlen, ins vorrevolutionäre Habana Vieja, als James Wormold (Unser
Mann in Havanna) dort sein Staubsaugergeschäft betrieb, bevor er in die
Fänge des britischen Geheimdienstes geriet: »An jeder Straßenecke standen
Männer und riefen ihm ›Taxi‹ zu wie einem Fremden, und den ganzen Paseo entlang sprachen ihn alle paar Schritte die Zuhälter
an, automatisch, ohne echte Hoffnung. ›Kann ich Ihnen dienen, Sir?‹ ›Ich kenne alle hübschen Mädchen.‹ ›Sie suchen eine
schöne Frau.‹ ›Ansichtskarten?‹ ›Sie wollen zu einem dreckigen Film.‹« So
ähnlich ließe sich eine Straßenszene im heutigen Havanna beschreiben. Nur dass
alles etwas leiser und verdeckter zugeht. Es wird mehr gezischt und getuschelt
als gerufen, doch die Codes sind eindeutig: Sextourismus. Die Jineteros und Jineteras sind
wieder am Werk, kubanische Schlepper und Vermittler, die sich zunächst
freundlich erkundigen, wie es einem geht und woher man kommt, um dann mit
einiger Hartnäckigkeit alle möglichen Dienstleistungen anzubieten: Mädchen,
aber auch Zigarren, Privatzimmer, Paladares. Uns
führt eine junge Familie – er im Rollstuhl, sie hochschwanger und mit der
kleinen Tochter an der Hand – durch die halbe Altstadt zu einem Restaurant, das
stets an der nächsten Ecke sein sollte, um dort für die aufgenötigte
Freundlichkeit einen ordentlich überzogenen Obulus zu
verlangen. Es ist ein Geschäft, für die Kubaner allerdings geht es ums
Überleben.
Weil nämlich niemand vom
staatlichen Einheitslohn existieren kann, der umgerechnet etwa 15 Dollar
monatlich beträgt, ist jeder auf Zusatzeinnahmen angewiesen. Mangels
Alternativen sind die Touristen mit ihren Devisen oft die einzige Zusatzeinnahmequelle.
Sie besitzen den begehrten konvertiblen Peso (CUC), der 1:1 fest an den Dollar
gebunden ist und im Vergleich zum kubanischen Peso offiziell 1:24 getauscht
wird. Die kubanische Regierung hatte dieses gespaltene Währungssystem 1995 eingeführt,
als nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Welt auch die Märkte für kubanische
Waren in den Bruderländern zusammenbrachen, der Devisenfluss versiegte und der
1993 als einzige Zweitwährung zugelassene Dollar zur rapiden Abwertung des
kubanischen Pesos geführt hatte. Die zu Beginn der 1990er-Jahre gegen die
chronische Wirtschafts- und Währungskrise Kubas ergriffenen Notmaßnahmen
(verharmlosend zur »Sonderperiode« erklärt) dauern immer noch an. Nachdem seit
2004 nicht mehr mit Dollar bezahlt werden kann und die Banken beim
Dollarumtausch gar einen »antiimperialistischen« Strafzoll von 10 Prozent
erheben, ist der Euro zur wichtigsten Auslandswährung geworden.
Die Spaltung der
einheimischen Währung rettete Kuba zwar vor dem Staatsbankrott, korrumpiert
aber das ganze Land, indem sie die kubanische Gesellschaft untergründig in zwei
Kasten teilt, über deren Zugehörigkeit der begehrte »Cuc«
entscheidet. Während die durch Gutscheine für Grundnahrungsmittel ergänzten
Peso-Löhne nicht einmal das Existenzminimum der Bevölkerung sichern, sind
diejenigen im Vorteil, die als Taxifahrer, Straßenhändler, Geschäftsleute,
Betreiber privater Restaurants oder eben auch als Prostituierte in konvertibler
Währung bezahlt werden. Ganz abgesehen von den (umgerechnet) unverhältnismäßig
hohen Trinkgeldern, die eine einfache Beschäftigung in Restaurants oder Hotels
finanziell außerordentlich attraktiv machen.
So erklärt sich, dass an
Schulen und in Krankenhäusern sich allmählich Müdigkeit und Absentismus
ausbreiten, weil die angestellten Lehrer und Ärzte nach Feierabend neben ihrem
Beruf einer weitaus einträglicheren Zweitarbeit nachgehen. Inzwischen herrscht
sogar Lehrer- und Ärztemangel, weil sich der akademische Nachwuchs lieber gleich als Taxifahrer oder Kellner verdingt. Das viel
gepriesene, für die Bevölkerung jedenfalls kostenlose Bildungs- und
Gesundheitssystem befindet sich heute in einer prekären Lage. Man munkelt
sogar, dass in den Kliniken unter der Hand doch bezahlt wird, etwa für eine
aufwändige Operation oder um einen schnelleren Termin zu bekommen.
Auf mentaler Ebene ist das
von der revolutionären Ethik geschmähte Geld in Gestalt der teuren
Devisenwährung zum stummen Hebel für den Einzug von Eigennutz, Besitzdenken und
Konkurrenzverhalten im gegenwärtigen Kuba geworden, Eigenschaften, die der neue
Mensch doch hatte ablegen sollen. Wer konvertible Pesos besitzt, hortet sie für
kommende Zeiten. Wer keine besitzt, sucht einen Zugang. Den besten Zugang (und
längst auch den größten Besitz) haben die Funktionseliten in Partei, Staat und
Militär sowie die Kinder aus dem Revolutionsadel. Wenn die Regierung unter Raúl Castro seit neuestem den privaten Kauf von
Mobiltelefonen, PCs und Laptops gestattet oder den Kubanern erlaubt,
Hotelzimmer im eigenen Land zu buchen, sind die eigentlichen Adressaten solcher
Liberalisierungsorgien die Söhne und Töchter der Funktionäre. Ausgestattet mit
teuren Handys, schicken Sportklamotten und dem Habitus der kommenden Elite,
bestimmen diese selbstbewussten Kids heute schon die Szenen des großstädtischen
Nachtlebens, während die gewöhnliche Jugend sich den teuren Luxus nicht leisten
kann.
Aber es ist beileibe nicht
nur die sozialistische Moral mit ihrem asketischen Gleichheitsideal, die in
Havanna schleichend verfällt. Sichtbarer ist der Verfall der Häuser und des
kulturellen Erbes, das sie verkörpern. Havanna ist buchstäblich – und nicht nur
im politisch-metaphorischen Sinne – ein Museum der Ruinen.
Die Ruinen von Havanna
An seinem nordöstlichen Ende
läuft der Prado auf die Stelle zu, wo sich das Wasser aus dem offenen Meer des
Golfs von Mexiko durch den engen Canal de Entrada in die herrliche Bucht von Havanna ergießt. Nach
Südosten führt nun die Avenida del Puerto zum Hafen. Auf der anderen Seite
erstreckt sich in einer sanften Biegung der Golfküste entlang nach Nordwesten
der legendäre Malecon, jene kilometerlange
Uferstraße, die das von der Kolonialarchitektur geprägte Habana Vieja mit dem Vedado verbindet –
am Stadtteil Centro vorbei.
In Centro
Habana, das sie einmal die Kasbah genannt haben, sind
mehr als die Hälfte der Häuser vom Einsturz bedroht. Durch eine wundersame
Statik gehalten, so schreibt der im spanischen Exil lebende kubanische
Schriftsteller Antonio José Ponte, »drängen sich die einsturzgefährdeten
Gebäude wie Tattergreise« aneinander. Der Malecon,
der den Stadtteil vom Meer trennt, wird im Norden durch Felsen und eine
mächtige Kaimauer vor der Meeresbrandung geschützt, während an seiner Südseite
das Ensemble verfallender Herrschaftsvillen (jede für sich ein einzigartiges
Baukunstwerk, dem man seine bessere Vergangenheit noch ansieht) durch
abenteuerliche Stützkonstruktionen vor dem endgültigen Zusammenbruch zu
bewahren versucht wird. Vereinzelte Baulücken zeugen davon, dass diese Versuche
manchmal vergeblich waren, aber immerhin sind einige der Gebäude bereits
saniert oder zumindest im Stadium der Sanierung.
Zwar hatte die kubanische
Regierung das historische Zentrum 1976 bereits unter Denkmalschutz gestellt,
aber erst dem Eingreifen der UNESCO, die Havannas Altstadt 1982 zum
Weltkulturerbe erklärte und entsprechende Mittel zur Verfügung stellte, war es
zu verdanken, dass der Verfall gebremst und mit der aufwändigen Restaurierung begonnen
werden konnte. Inzwischen sorgt ein überaus engagierter, mit einer eigenen
Behörde und erheblichen Befugnissen ausgestatteter Stadthistoriker für eine sorgfältige
Rekonstruktion, die angesichts des ruinösen Zustands der meisten Häuser und der
enormen Zahl der Objekte freilich Jahrzehnte dauern wird und immer wieder an
Kostengrenzen stößt. Eine Sisyphusarbeit, von der uns auch die maßstabgetreue
(1:1000) Miniaturversion der kubanischen Hauptstadt, die in der Maqueta de La Habana im Stadtteil Miramar
ausgestellt ist, keinen Eindruck vermitteln kann; denn sie kennzeichnet mit verschiedenen
Farben zwar die Epochen, in der die Häuser gebaut wurden (Braun für die
Kolonialzeit, Ocker für die republikanische Zeit und Elfenbein für die Ära des
revolutionären Kuba), nicht aber deren baulichen Zustand.
Dass Havanna im Lauf des 19.
Jahrhunderts aus einer florierenden Metropole zu einer morbiden Stadt voller
Ruinen werden konnte, verdankte sich freilich nicht bloß den Umständen der
Natur oder dem Zahn der Zeit, der stetig an der Bausubstanz nagte. Als nach dem
Umsturz die Wohlhabenden, die Angehörigen der Mittelklassen, die Anhänger Batistas – sofern sie den Volkszorn überlebten – massenhaft
die Stadt verließen oder verlassen mussten, wurden Teile der in die Stadt
strebenden Landbevölkerung in die leer stehenden Häuser einquartiert. Mit der
Folge, dass diese innerhalb weniger Jahre zugrundegerichtet waren, weil die
Mittel, der Wille oder das Wissen zur Erhaltung fehlten, weil die Bewohner ohne
statische Rücksichten alte Wände herausrissen oder versetzten oder großzügig
gestaltete Räume durch familiengerechte Zerstückelung verunstalteten, weil
Parkettböden verfeuert und sanitäre Einrichtungen demoliert wurden oder weil
der Regen durch kaputte Fenster und morsche Dächer drang und sich niemand um
die Beseitigung der Wasserschäden kümmerte. Wer mehrere Wohnhäuser besaß und
blieb, durfte nur eines behalten, musste aber die Miete halbieren, sodass für
die bauliche Erhaltung oder gar Modernisierung oft kein Überschuss blieb. Als
die Restaurants und Bars, die Hotels und Geschäfte, die Casinos und Bordelle
sich leerten, weil die Betreiber bankrott gegangen oder geflohen oder der revolutionären
Gerichtsbarkeit zum Opfer gefallen waren, kümmerte sich niemand um die
funktionslos gewordenen Orte des Vergnügens, die nun vom Staat für die
Wohnungssuchenden aus den ärmeren Stadtteilen requiriert wurden.
Strom, Gas und Wasser
kosteten nichts oder wurden ohne Ansehen des wirklichen Verbrauchs zu einem
billigen Einheitspreis berechnet, sodass die Versorgung bald zusammenbrach und
mit ihr die Versorgungskanäle. Sollte die neue Gesellschaft nicht aus den Trümmern
der alten erwachsen? Und der neue, der sozialistische Mensch, sollte er nicht
die alten, durch die Erfahrung der kolonialen wie bürgerlichen Kultur geprägten
Wertvorstellungen überwinden? Insbesondere das Privateigentum stand am Pranger.
Die Strand- und Sommerhäuser der Reichen, ihre Florida-Villen in Miramar jenseits des Flusses, die demonstrativ den
Besitzlosen zugewiesen worden waren, stehen heute zum großen Teil leer und
verrotten, weil für die Instandhaltung kein Geld da war und niemand sich
verantwortlich fühlte. Baumaterialien stehen ohnehin nicht zur Verfügung. Wer
Zement braucht, findet keinen Baumarkt, sondern kauft es auf dem Schwarzmarkt,
wo Arbeiter der vergesellschafteten Bauindustrie den heiß begehrten, aus dem
Staatseigentum abgezweigten Stoff verhökern, um damit ihr spärliches Gehalt
aufzubessern. Währenddessen steigt der Bedarf an Neubauwohnungen, der vom Staat
nicht mehr zu decken ist.
Die Revolution selbst
beförderte den Verfall der wertvollen Bausubstanz, willentlich oder durch ihre
verheerende Indifferenz. Die revolutionäre Gleichgültigkeit galt nicht nur der
alten Architektur, sondern auch anderen kulturellen Ausdrucksformen. Den
ehemaligen Buena Vista Social
Club im Vedado, den Ry Cooder und Wim Wenders mit ihrem Film aus der Vergessenheit
holten und unsterblich machten, musste Compay Segundo mit seinen Musikerfreunden in den 1990er-Jahren
erst mühsam ausfindig machen, weil zwar die Adresse noch existierte, nichts
aber, was die Existenz des einst so berühmten Zentrums von Havannas Musikleben
belegt hätte. Als wir an der Tür klopfen, öffnen uns vier junge Männer, die im
Dämmerlicht eines kahlen Vorraums zusammensitzen und von dem durch das Kino
weltweit berühmt gewordenen Club, der sich im hinteren Teil des Hauses befunden
hatte, nichts wissen.
Dem radikalen
Erneuerungsprogramm der Revolution standen die architektonischen Zeugnisse der
Vergangenheit ohnehin bloß im Wege. Statt die innerstädtischen Bezirke zu
erhalten, wurde lieber in riesige Hochhäuser am Rande der Stadt investiert, die
in Alamar zu besichtigen sind und an die
vorstädtischen Wüsten in der ehemaligen DDR erinnern. In seinem Buch Der
Ruinenwächter von Havanna (Madrid 2007; deutsch im Verlag Antje Kunstmann,
München 2008) schildert der inzwischen aus dem kubanischen
Schriftstellerverband ausgeschlossene Antonio José Ponte den ideologischen
Hintergrund dieser desaströsen
Stadtentwicklungspolitik. Seine Schilderung wirft ein bezeichnendes Licht auf
die kulturstürmerische Moral der kubanischen Revolution:
»Alles was vor 1959
errichtet worden war, das Werk der Väter und Großväter, war mit Schuld behaftet
und sollte sich bis auf die Grundmauern schämen. Dank gnadenlos hochgezogener
Plattenbauten entstand im Osten der Bucht von Havanna das größte Wohngebiet der
letzten vierzig Jahre. Man widmete den neuen Vorort dem neuen Menschen und
verzichtete auf jeden Tand. Der einzige Schmuck dort war der rechte Winkel. Für
Gärten und Parks war später Zeit. Es war besser, wenn sich erst mal kein Baum
zwischen den Gebäuden erhob, zwischen den Genossen sollte Offenheit herrschen. Alamar repräsentierte wie der neue Mensch den Sieg der
vorgefertigten Materialien. Ein kurzer Sieg, denn wenige Jahre nach seiner
Errichtung ist es bereits ein Ruinenhaufen ohne jede Spur von Schönheit.« (S. 179 f.)
Allerdings darf man nicht
unterschlagen, dass auch Mr. Wormold durch eine
bereits verfallende Stadt schlenderte und es im vorrevolutionären Havanna seit
1956 Pläne gab, einen Großteil der historischen Altstadt abzureißen und durch
Neubauten zu ersetzen. Ein von amerikanischen Architekten unter dem Kriterium
der Autofreundlichkeit entwickeltes Stadtentwicklungsprojekt sah
innerstädtische Schnellstraßen anstelle des bestehenden Straßengewirrs vor und
wollte die kolonialen Innenhöfe zu Parkplätzen umwidmen. Durch den Sturz Batistas wurde dieses gewaltige Zerstörungsvorhaben gerade
noch gestoppt. Es bleibt eine Ironie der Geschichte, dass dank einer
kubanischen Revolution, die ihrerseits nichts dafür getan hat, den Verfall
Havannas aufzuhalten, überhaupt eine verfallende Kolonialstadt erhalten
geblieben ist.
Während unter der Ägide der
Denkmalschützer aus den kolonialen Prachtbauten von Havannas Altstadt heute ein
Museum nach dem anderen entsteht, richtet sich die Bevölkerung darauf ein, dass
die Immobilienspekulation zurückkehrt. Wer davon profitieren wird, wenn eines
Tages die Eigentumsbeschränkungen bei Grund und Boden fallen, ist ein offenes
Geheimnis. Es werden diejenigen sein, die mit der Macht auch den ersten Zugriff
haben: die Kader der Partei- und Staatsbürokratie, die Angehörigen der höheren
Militärränge, die Manager der Staatsbetriebe. Zur sozialistischen Oligarchie,
die ihre Hand jetzt schon auf den zukünftigen Pfründen hat, kommen diejenigen,
die ihr Eigentum zurückfordern oder zurückkaufen werden: reiche oder reich
gewordene Exilkubaner mit ihren Familien, die in Miami oder anderswo nur darauf
warten, nach Kuba zurückzukehren.
Dann würde sich die neue
Bourgeoisie einer zukünftigen Gesellschaft aus den Erben der kubanischen
Revolution und denen ihrer Gegner zusammensetzen. Gewiss eine kuriose Mischung,
die aber, wie im postsowjetischen Osteuropa zu besichtigen, nicht ohne
Vorbilder wäre. Da der nationale Reichtum, anders als in Venezuela, nicht aus
dem Boden fließt, sondern mit Hilfe von Unternehmergeist, Eigeninitiative und
Innovationsbereitschaft hart erarbeitet werden muss, ist der
grundrentenfinanzierte Sozialpaternalismus à la Hugo Chávez
sicherlich kein Modell. Ob sich die kubanische Partei- und Staatsführung
stattdessen am russischen oder doch eher am chinesischen Weg eines autoritären
Kapitalismus orientieren wird, ist noch offen. In jedem Fall wird sie weiterhin
die demokratischen Freiheiten unterdrücken müssen, um politische Macht und
Einfluss zu behalten, wenn die Marktwirtschaft eines nicht allzu fernen Tages
auch in Kuba Einzug hält. Ein wilder Kapitalismus treibt jetzt schon aus den
Trümmern der Utopie.