Kuba feiert das fünfzigjährige Bestehen seiner
Revolution. Doch krankheitsbedingt übergab Comandante
Fidel Castro im Februar 2008 endgültig die Regierungsgeschäfte an seinen Bruder
Raul, welcher diese schon über eineinhalb Jahre kommissarisch geführt hatte.
Für die einen zeigt sich unter Castro II nur eine andere Fratze des Totalitarismus:
der kleine Bruder des »Diktators« tritt in dessen Fußstapfen. Andere
tendieren hingegen zu einer dichotomen Darstellung der Art »Böser Bruder –
Guter Bruder«: Folgt auf den mit eiserner Faust regierenden »Fantasten« Fidel
der »Realpolitiker« Raul und damit das Ende aller Utopien? Es lohnt sich,
genauer hinzusehen und zu reduktionistischen
Klischees der einen wie der anderen Art Distanz herzustellen.
Der Fluch der Karibik
Schlimmer hätte es nicht
kommen können. Raul Castros Regierungsfähigkeit wurde gleich mit drei
Wirbelstürmen getestet, die zwar kaum Menschenleben forderten, amtlichen
Schätzungen zufolge aber einen Gesamtschaden von knapp 10 Milliarden Dollar
verursachten. Es war die verheerendste
Naturkatastrophe seit der Revolution: Die gesamte Infrastruktur in den
Provinzen Holguín, Camagüey,
Pinar del Rio und Isla de
la Juventud und insgesamt eine halbe Million Gebäude
wurden beschädigt, davon knapp zehn Prozent total zerstört. Die ohnehin
kränkelnde Landwirtschaft ersoff regelrecht in den Fluten und die
Bananenstauden wurden flächendeckend umgeknickt. Zehntausende Rinder und Hühner
starben. Über zwei Monate hinweg gab es auf dem freien Bauernmarkt so gut wie
nichts mehr zu kaufen. Zur Eindämmung der Spekulation und Beruhigung der
murrenden Bevölkerung und knurrenden Mägen entzog der Staat die in astronomische
Höhen geschnellten Preise dem Marktmechanismus und deckelte
sie. Gleichzeitig versuchte er den Schwarzmarkt überall, wo dieser sein Haupt
zeigte, mit drakonischen Strafen unter Kontrolle zu bringen.
Naturkatastrophen, Epidemien
und ihre Folgen, ob nun Hurrikane, Dürren oder Dengue-Fieber,
werden auf Kuba generalstabsmäßig wie im Krieg bekämpft. Dieser kubanische
»Kriegskommunismus« verhindert durch sofortiges breit angelegtes und
systematisches staatliches Handeln viele Todesopfer, die in Nachbarländern einfach
hingenommen werden würden. Jedoch wird das Leben in den Zeiten des Hurrikans
gleichzeitig erschwert, wenn der Fokus auf der Bekämpfung von Bereicherung
statt auf der Ankurbelung der Produktion liegt; denn das Erstere kann das
Letztere durchaus behindern. Im vorliegenden Fall kam es aufgrund der
schlechten Preise zeitweise zur Weigerung von Bauern, die Märkte überhaupt noch
zu beliefern, die Knappheit verschlimmerte sich dadurch weiter.
Erst gegen Ende November
tauchten allmählich Obst und Gemüse wieder auf. Bananen fehlten weiterhin, aber
Tomaten gab es bereits reichlich, ferner typische Landesfrüchte wie Mamey, Guaven, Papayas und
Ähnliches. Einerseits kann man sagen hören, das Land habe durch die Katastrophe
10 Jahre verloren, andererseits heißt es nun wieder »El país
vuelve a la normalidad«,
das Land kehrt zurück zur Normalität.
Das agrarische Debakel
Doch auch in normalen Zeiten
produziert die Landwirtschaft nicht ausreichend. Zwar liegt die
Kalorienversorgung pro Einwohner und Tag, 1993 noch bei existenzbedrohenden
1860 Kalorien, längst wieder bei weit über 3000 Kalorien. Dies wird jedoch nur
über höhere Lebensmittelimporte sichergestellt und kostete das Land 2008
angesichts der gestiegenen Weltmarktpreise äußerst
schmerzhafte circa 2,5 Milliarden Dollar. Gewiss ist es in der Region nichts
Ungewöhnliches, dass ein Land kein Selbstversorger
ist. Exportorientierte Monokulturen, ob nun Zuckerrohr in Jamaika oder Macadamia-Nüsse in Costa Rica, verhindern überall die
Lebensmittelautarkie. Der Selbstversorgungsgrad in Kuba ist jedoch noch
niedriger als in den Nachbarländern. Der primäre Sektor funktioniert nur im
Devisenbereich hie und da gut: bei Tabak oder Langusten. Der Reisanbau ging
dagegen in diesem Jahrzehnt zurück, nur dank der Privatbauern fällt der
Rückgang nicht noch drastischer aus. Zwei Drittel dieses wichtigsten
Grundnahrungsmittels müssen derzeit importiert werden, bei anderen Produkten
liegt die Importquote noch höher. Zwar sinken die Reis- und sonstigen
Lebensmittelpreise auf dem Weltmarkt nach letztjähriger
Hausse inzwischen, was das strukturelle Problem nicht löst, sondern nur eine
Atempause gewährt.
2006 hatte es nach
zweijähriger lebensbedrohlicher Dürre wieder kräftig geregnet, trotzdem ging
die Landwirtschaft entgegen allen Erwartungen weiter in die Knie. 2007 kam es
endlich zu einer beachtlichen Erholung, die Produktion zog um fast ein Viertel
an. Im Sommer 2008 wurden neue Regelungen zur Verteilung der Brachflächen (die
Kooperativen und Privatbauern für 10 Jahre zum Nießbrauch überlassen werden
sollen) sowie zur Entbürokratisierung von Verwaltungsvorgängen in der Landwirtschaft
verabschiedet. Das Verhältnis zwischen Kooperativen und Staat soll zugunsten
von mehr Autonomie in den Entscheidungsprozessen neu definiert werden. Dies
wäre insbesondere für die einer extremen Gängelung unterliegenden Kooperativen
des Typs UBPC (Union Básica De Producción
Cooperativa) notwendig, welche bislang nicht einmal
frei über die Verwendung ihrer Einkünfte entscheiden dürfen. Anträge auf
notwendige Arbeitsmaterialien für die Kooperativen sollen nicht mehr auf ewig
in einer ineffizienten und kafkaesken Agrarverwaltung hängen bleiben, und auch
Privatbauern sollen endlich Zugang zu Krediten zur Anschaffung von Geräten
erhalten. Die staatlichen Ankaufpreise sollen erhöht werden.
Bislang konnten die geplanten
Reformen nicht voll umgesetzt werden, sei es weil die Wirbelstürme zunächst
alle Pläne durchkreuzten, sei es wegen des aufgrund
zeitlicher Befristung des Nießbrauchs bedingten geringen Interesses an der
Überlassung von Land. Im Herbst 2008 soll erst ein Viertel der Flächen zur
Nutzung beantragt worden sein. Die Brachflächen belaufen sich insgesamt auf gut
die Hälfte der bebaubaren Flächen.
Insgesamt wuchs die
Landwirtschaft im Sturmjahr lediglich um eineinhalb Prozent. Doch es gibt einen
positiven Ausreißer. Bereits 2007 waren die Ankaufspreise für Milch angehoben
worden. Die Bauern reagierten prompt. Die Milchproduktion stieg zum zweiten Mal
in Folge, 2008 um 16 Prozent. Das Beispiel zeigt auf, in welche Richtung es
gehen kann und muss.
Comandante Raul
Die Neuerungen in der
Landwirtschaft tragen die Handschrift von Raul Castro. Von ihm ist der Spruch
»Erst Bohnen, dann Kanonen« überliefert. Als Verteidigungsminister forcierte er
eine Entwicklung, bei der die Armee nicht das Bruttosozialprodukt des Landes
verfrühstücken, sondern sich selber an der Wertschöpfung beteiligen sollte. Und
so begaben sich die Fuerzas Armadas Revolucionarias (FAR) auf ungewöhnliche Wege und betrieben
ebenso Landbau wie eine Hotelkette.
Dem Dienstantritt als
Präsident folgten einerseits Bekenntnisse zur Kontinuität der revolutionären
Politik, andererseits kleine Reformschritte und -ankündigungen, nicht nur in
der Landwirtschaft. Raul Castro möchte perspektivisch ein differenziertes
leistungsgerechtes Lohnsystem einführen. Ferner hob der dekretierte
erleichterte Zugang zu Devisenhotels und Handys einige der absurdesten noch
bestehenden Auswüchse der so genannten Sonderperiode der Neunzigerjahre mit
ihrer »Touristenapartheid« auf.(1) Gleichzeitig trat Kuba zwei UN-Menschenrechtserklärungen
bei, dem Internationalen Pakt der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Rechte sowie dem Internationalen Pakt der bürgerlichen und politischen Rechte.
Kurz darauf wandelte Raul Castro die meisten noch bestehenden Todesurteile in
lebenslange Haftstrafen um, mit Ausnahme dreier wegen politischer Verbrechen
verurteilter Straftäter. Bei jeder Gelegenheit bot Castro sich nun den USA als
Gesprächspartner an, stieß aber bei der alten Regierung in Washington
zwangsläufig auf taube Ohren. Eine Gesetzesreform zur Emanzipation sexueller
Minderheiten, die unter anderem die eingetragene Lebensgemeinschaft für
Gleichgeschlechtliche vorsieht sowie die Übernahme der Kosten der Geschlechtsumwandlung
für Transsexuelle durch den Staat, ist in Arbeit.
Letztere Entwicklung wurde von der Präsidententochter Mariela
Castro, die dem sexualwissenschaftlichen Institut CENESEX vorsteht, mit
beeinflusst. Allerdings wurde das Gesetzespaket von der Nationalversammlung im
Dezember 2008 noch nicht verabschiedet, sondern noch einmal in die
Warteschleife gelegt. Angeblich hatte die Fokussierung der
(land-)wirtschaftlichen Situation nach den Stürmen Priorität sowie die
Verabschiedung des Gesetzes zur sozialen Sicherheit, welches unter anderem das
Rentenalter auf 65 erhöht.
In seiner Ansprache vor der
Nationalversammlung am 29.12.08 geißelte Castro die fehlende Disziplin und
Arbeitsqualität, die Ausruh- und Subventionsmentalität und machte deutlich,
dass jenseits aller Träume das Ausgabenvolumen sich den realen Möglichkeiten
des Landes anzupassen habe, kurzum: Alle Wohltaten müssten zunächst einmal erarbeitet
werden.
Solche Gürtel-enger-schnallen-Reden
mögen einem von hiesigen Politikern bekannt vorkommen, doch etwas ließ
aufhorchen. Der Adressat der Rede war nicht allein Francisco Normalverbraucher.
Denn konkret wurde Castro, wo es um Privilegien der Nomenklatura
ging. Extras wie die Urlaube für Funktionäre (in ministerieneigenen Hotels)
sollen verschwinden, das Volumen der Dienstreisen ins Ausland wird auf fünfzig
Prozent zurückgefahren. Ferner soll eine Institution geschaffen werden, die das
Verwaltungshandeln kontrolliert.
Der Apparat und seine
verschiedenen Kritiker
Angriffe gegen die Nomenklatura sind nichts Neues. Immer wieder hatte es Wellen
von Sanktionierungen und Selbstreinigungen des Systems gegeben. Diese hatten
sich zuletzt nie gegen konkurrierende politische Strömungen im Apparat
gerichtet, sondern gegen Privilegientum,
Amtsmissbrauch und Korruption. (2)
Diese »Politik des Köpferollens« entspringt einer »Kontrolle von oben« und ist
somit Produkt einer zentralistischen, etatistischen
Denkweise von Fidel Castro. Diese Kontrolle von oben war in der jüngeren
kubanischen Geschichte nur unzureichend verknüpft mit einer wirksamen
»Kontrolle von unten«, mit Partizipation der Basis und Berücksichtigung ihrer
Kritik. So erklärt es sich, dass immer wieder unpopuläre und inkompetente
Funktionäre zunächst auf der Karriereleiter nach oben fallen, bevor sie irgendwann
von Disziplinarmaßnahmen ereilt werden.
Nach Heinz Dieterich, Soziologieprofessor
an der Autonomen Universität von Mexiko City(3) könnte die dialektische
Bewegung, die daraus entstand, dass Fidel Castro sowohl Staatschef als auch
Oppositionsführer in einer Person war und in dieser Doppelgestalt die wild
wuchernde, von ihm mit geschaffene Bürokratie gleichzeitig immer wieder heftig
attackierte, nach dem Abgang des Comandante von der
politischen Bühne zum Erliegen kommen. Im ungünstigsten Fall könne keine der
gezähmten gesellschaftlichen Kräfte und Organisationen die Rolle einer
Opposition innerhalb des Systems übernehmen, darauf seien sie gar nicht
vorbereitet. Die Sensoren für die Wahrnehmung von Problemen, Bedürfnissen und
Notwendigkeiten im Land seien leider verkümmert. Ein kybernetisches Chaos bis
hin zum Zusammenbruch des Systems, das potenziell nicht mehr über ausreichende
Ausgleichs- und Steuerungsmöglichkeiten verfüge, sei laut Dieterich zu
befürchten. Wurde also dieses strukturelle Defizit nur von der charismatischen
Persönlichkeit des Comandante übertüncht?
Vielleicht gibt es aber
Akteure in der Zivilgesellschaft, die Verantwortung übernehmen können. Während
trotz kleiner Veränderungen Tagespresse und Fernsehen in Kuba im Allgemeinen
brave Lämmer sind (oder »Kirchenblättchen«, wie der Schriftsteller und
Kuba-Freund Eduardo Galeano schon 1985 schrieb) und
der Entwicklung mehr hinterhertrotten als
voranschreiten, kommt der Kultur traditionell die Funktion zu, gesellschaftliche
Debatten in Gang zu bringen und das auszusprechen, was Politik, Medien und
Massenorganisationen selten thematisieren. Dafür steht etwa das Oeuvre des Regisseurs
T. G. Alea bis zu seinem Tod 1996, in Deutschland
neben dem Klassiker Memorias del subdesarrollo (1968) vor allem durch den Silbernen
Bären für den international erfolgreichen Erdbeer
und Schokolade (1993) bekannt. Der Film verhandelt Fragen von
gesellschaftlicher Ausgrenzung sowie von Toleranz und Intoleranz (nicht nur)
gegenüber Homosexuellen und schlug in Kuba wie eine Bombe ein. Auch die
Literatur stellt sich ihrer Aufgabe. Der international bekannteste lebende
kubanische Schriftsteller Leonardo Padura betonte auf
der Frankfurter Buchmesse 2008, es gebe in seinem Land nicht mehr wirklich eine
affirmative Literatur, es dominiere vielmehr die Linie des »Desencanto«
(Entzauberung, Enttäuschung). Dafür gibt es unter der Schirmherrschaft des
derzeitigen Kulturministers Abel Prieto einigen Raum.
Als das kubanische Fernsehen
im Winter 2006/2007 einen Beitrag über die »Verdienste« von Luis Pavón brachte, eines wichtigen »stalinistischen« Kulturfunktionärs
der Siebzigerjahre, ohne dessen Rolle bei der Repressionswelle gegen kritische
und gegen homosexuelle Künstler auch nur zu erwähnen, brach ein Sturm der
Entrüstung los. Pavón, die »Stille Macht, heilige
Macht« hinter dem damaligen Kulturminister, sollte offenbar weiß gewaschen
werden. Hunderte von Beschwerdemails von Künstlern und Intellektuellen ergossen
sich daraufhin über die verantwortlichen Fernsehmacher.
Zwar verschwiegen die Medien
die Debatte zunächst, doch es kochte weiter und ein Jahr später organisierte
der Künstlerverband UNEAC in Havanna unter Teilnahme wichtiger Politiker einen
nationalen Kongress zum Thema, bei dem es nicht mehr nur um die Rolle des
Fernsehens und schon gar nicht nur um die Rolle einer einzelnen Person in den
Siebzigern ging, sondern um die Bewältigung der Vergangenheit (das so genannte
graue Jahrfünft) und um verknöcherte mediale und gesellschaftliche Strukturen
insgesamt. Die bemerkenswerte Debatte erschien in Kuba schließlich in Buchform.
Bereits vorher hatte das Fernsehen erstmals bestimmte Filme wie Erdbeer und Schokolade oder Fernando Perez’ La
Vida es Silbar (Das
Leben ein Pfeifen, 1997) und andere mehr gezeigt: wichtige Werke, die
erfolgreich in den kubanischen wie internationalen Kinos liefen, vom
kubanischen Fernsehen – das nicht wie das Kino dem Kulturministerium untersteht
– jedoch zunächst wie die Pest gemieden wurden.
Was unterscheidet die
Castros?
Doch sind die erwähnten
Ereignisse nicht relativ unabhängig vom Personalwechsel an der Führung zu
sehen? Hatte es nicht ein Jahrzehnt zuvor kleiner dimensionierte, aber ähnlich
polemische Debatten gegeben? So anlässlich von T. G. Aleas
letztem Film Guantanamera oder auch anlässlich
einer Theatergruppe, die auf der Bühne die kubanische Fahne verbrannt hatte,
woraufhin sich schließlich Kulturminister Prieto
unter Berufung auf Che Guevara für die Freiheit der Kunst aussprach und die
Diskussion damit beendete? Auch der schleichende Emanzipationsprozess sexueller
Minderheiten begann in den Neunzigerjahren, lange vor der Amtsübernahme Raul
Castros. Selbiges gilt noch viel mehr für den Emanzipationsprozess afrokubanischer Kultur und Religion, die heute mehr denn je
ein Bestandteil der cubanía ist. Und für die
Todesstrafe galt schon seit Jahren ein Moratorium, das allerdings einmal (2003)
durchbrochen wurde.
Ohne Zweifel ist ein
Verständnis davon, dass es Bereiche gibt, bei denen nicht der Staat der einzige
oder der Hauptakteur sein muss oder sollte, sondern bei denen viele dezentral
agierende Kleinstproduzenten besser und effizienter wirken könnten, tatsächlich
eher bei Raul als bei Fidel Castro gegeben, hier liegt ein zentraler Unterschied.
Insofern ist es kein Zufall, dass gerade jetzt eine Agrarreform in Angriff
genommen wird, wie unvollständig diese auch sein mag.
Dennoch sei der
Gerechtigkeit halber klargestellt: Fidel Castros Credo des starken Zentralstaats
hatte seine Vorteile
und Stärken. Die kubanische Wirtschaftskraft liegt im internationalen Vergleich
exakt in der Mitte der knapp 180 Länder zählenden internationalen Staatengemeinschaft,
beim Ranking des Human Development Index (HDI) der
Vereinten Nationen rangiert das Land mit Platz 51 allerdings viel weiter oben
und das ist kein Zufall. Wer sonst als der Staat hätte die Alphabetisierung und
den Aufbau des leistungsfähigen Bildungssystems, das trotz des aktuellen
beklagenswerten Lehrerschwunds laut einer 2006 veröffentlichten Untersuchung
der UNESCO immer noch das mit Abstand beste Lateinamerikas ist, in Angriff
nehmen sollen? Wer anders als der Staat hätte den Aufbau des Gesundheitswesens
leisten können? Ein Gesundheitssystem, das auf der Habenseite eine der höchsten
Lebenserwartungen des Kontinents und bei der Säuglingssterblichkeit eine der
niedrigsten Raten weltweit aufzuweisen hat, und das inzwischen sogar von einem
reinen Kostenfaktor zu einer Produktivkraft geworden ist. Die medizinische,
pharmazeutische und biotechnologische Forschung, ein Lieblingskind Fidel
Castros, bringt über den Export von Impfstoffen und Medikamenten laut Omar Everleny von der Fakultät für Wirtschaft der Uni Havanna
dem Land jährliche Einnahmen von 400 Millionen US-Dollar. Mit steigender
Tendenz kann gerechnet werden, denn die kubanische Forschung begann in diesem
Bereich erst vor einem Vierteljahrhundert und erst seit etwa einem Dutzend
Jahren kann man die eigenen Produkte mit zunehmendem Erfolg auf dem Weltmarkt
platzieren. Vor allem aber exportiert Kuba Ärzte nach Venezuela und bezieht im
Gegenzug Erdöl zu Vorzugskonditionen.
Auch die Importsubstitution
im Energiebereich, die nicht nur auf der Ankurbelung der eigenen
Erdölproduktion – welche jetzt die Hälfte des nationalen Bedarfs deckt –
beruht, sondern insbesondere auf der so genannten Energierevolution, der letzten
großen Idee des Comandante im Ruhestand, hätte ohne
einen starken Staat nicht realisiert werden können. Die flächendeckende und
kostenlose Verteilung von Energiesparlampen, die organisierte Versorgung der
gesamten Bevölkerung mit in ultralangfristigen Kleinstraten finanzierten
energiesparenden modernen Kühlschränken, Reiskochern und Schnellkochtöpfen
sowie die Überholung des Stromnetzes und die Dezentralisierung der Stromerzeugung
per Austausch störanfälliger und ineffizienter Großkraftwerke durch Hunderte
von Kleinstkraftwerken war ökologisch und ökonomisch sinnvoll. Die Energierevolution
spart dem Land beträchtliche Devisen für Energieimporte und drückt die Stromausfälle
– das alte Problem der meisten karibischen Staaten – gegen Null. Damit ist Kuba
Nachbarn wie der Dominikanischen Republik in punkto Energieversorgung inzwischen
weit voraus.
Trotz benannter persönlicher
Schwerpunktsetzungen der Brüder und auch wenn die kubanische Gesellschaft auf
Fidel ausgerichtet und von dessen Charisma geprägt war, konnte dennoch Geschichte
nie in diesem plumpen Sinne von Einzelpersonen gemacht werden. So ist das
zentralistische und etatistische Politikverständnis
der Regierungszeit Fidels immer vor dem Hintergrund des sowjetischen Einflusses
zu sehen, denn angesichts der US-Politik gab es um des eigenen Überlebens
willen gar keine Alternative zur Annäherung an die UdSSR. Und heutzutage
wiederum sind manche vorsichtigen Öffnungen auch nicht reduzierbar auf
persönliche Vorlieben eines neuen Präsidenten, sondern können nur im
Zusammenhang mit der in den letzten 15 Jahren in Trippelschritten erreichten
wirtschaftlich-sozialen Konsolidierung verstanden werden. Auch erweiterte sich
der Handlungsspielraum dadurch, dass das Niveau regionaler Integration Kubas in
der Karibik und Lateinamerika in den gesamten letzten 50 Jahren noch nie so
hoch war wie jetzt. Die Zeiten, in denen Kuba allein wie eine Nussschale auf
dem Ozean trieb, sind definitiv vorbei.
Andererseits beschränkt
wiederum der plötzliche Verfall des Weltmarktpreises für das Hauptexportgut
Nickel den finanziellen Gestaltungsspielraum im Innern. Und nach den Hurrikanen
werden alle Pläne zur Restrukturierung und Dezentralisierung wirtschaftlicher
Prozesse kurzfristig von einer gegenläufigen Tendenz konterkariert und der
Staat präsentiert sich wieder mit harter Hand. Dasselbe reaktive Muster gilt
auch für manche restriktive und repressive Vorgehensweisen im Innern, die nicht
nur, aber auch direkte Folge der angriffslustigen Attitüde der Vereinigten
Staaten sind, das heißt Folge der in Washington verfolgten Politik der
wirtschaftlichen Strangulierung Kubas im Allgemeinen und Folge der Wühlarbeit
der CIA-lastigen US-amerikanischen Interessenvertretung
in Havanna im Besonderen. Sosehr man sich eine souveränere Haltung Kubas vor dieser
beständigen Politik der Aggression wünschen mag, bleibt dennoch das feindselige
Agieren Washingtons bisher ein bestimmendes Moment zur Charakterisierung des
Spielraums kubanischer Innenpolitik.
Bei einer substanziellen
Veränderung der Beziehungen zum großen und derzeit noch feindlichen Nachbarn
könnte die aggressive Politik der US-Regierung dann nicht mehr herhalten als
Ausflucht oder Rechtfertigung für alles, was an Unzulänglichkeiten da ist und
was von den Kubanern gern »die innere Blockade« genannt wird. Auch wenn die
weltweite Krise des Neoliberalismus den Kubanern nicht verborgen geblieben ist;
auch wenn der scheidende US-Präsident auf Kuba generationenübergreifend
zutiefst verhasst ist; auch wenn selbst die Jüngeren heute die eigene
Gesellschaft nicht nur negativ sehen und weniger als noch zehn Jahre zuvor den
»Westen« durch die rosarote Brille betrachten, kann man sich dennoch darauf
nicht ausruhen und – wenn man denn zuhört – noch reichlich Kritik vernehmen,
die ernst genommen werden muss. Die Schwierigkeit, die eigene Lebenswelt in den
Medien wiederzufinden und der Formalismus der öffentlichen
Diskurse; die Desorganisation in manchen gesellschaftlichen Bereichen; die
schlechte Bausubstanz und vor allem die mickrigen Individuallöhne, die trotz
mehrerer Lohnerhöhungen und trotz des hoch subventionierten Lebens nicht für
den ganzen Monat reichen – an Themen mangelt es nicht. Aus niedrigen Löhnen und
niedriger Produktivität entsteht ein Circulus vitiosus: Je geringer der Lohn,
desto geringer die Motivation, desto geringer die Produktivität, desto geringer
der Lohn.
Aus Gründen der
Existenzsicherung lassen die Menschen so manches am Arbeitsplatz »mitgehen«, um
die Sachen dann auf dem Schwarzmarkt feilzubieten. Auch ist ein mehr
wirtschaftlich als politisch bedingter Migrationswunsch
bei vielen Kubanern gegeben. Raul Castro wird daran gemessen werden, inwieweit
er aktiv die multiplen Problemlagen angeht. Eine Restrukturierung der
öffentlichen Steuerungssysteme und die Neujustierung des Verhältnisses zwischen
System und Lebenswelt ist unumgänglich. Lösungen
werden jedoch anders aussehen, als es den immer noch einen Zusammenbruch des
Systems erhoffenden Verfassern der zum 50. Jahrestag der Revolution inflationär
daherkommenden oberflächlichen Abrechnungsliteratur vorschwebt.(4)
1
Schon 2007,
als Raul Castro erst kommissarisch die Geschäfte führte, wurde mit der
demütigenden und mit kubanischen Zollgesetzen gar nicht begründbaren
Ungleichbehandlung einreisender Kubaner gegenüber Touristen am Flughafen
Schluss gemacht. Erstere wurden insbesondere am Charterflughafen Holguín durchweg mit absurden Strafzöllen in astronomischer
Größenordnung für das mitgeführte Gepäck abgezockt. Inzwischen wurden in Holguín mehrere Grenzbeamte entlassen.
2
So
geschehen nach der berühmten Rede von Fidel Castro vom November 2005 in der
Universität Havanna, in der er unter anderem Korruption und Bereicherung anprangerte
und zum ersten Mal davon sprach, dass die Revolution nicht mehr von außen,
sondern nur noch von innen zu Fall gebracht werden könne. Auch unabhängig von
dieser Rede konnten führende Funktionäre in den letzten Jahren alle Posten und
manchmal sogar die Freiheit verlieren (so geschehen im Falle des ehemaligen
Politbüromitglieds Robinson wegen Amtsmissbrauchs sowie im Fall des ehemaligen
2. Parteisekretärs von Santiago de Cuba, Chacón, wg.
Amtsmissbrauchs und Missbrauchs Minderjähriger).
3
Heinz
Dieterich: Kuba nach Fidel, Berlin 2006.
4
Immerhin:
Die Wirtschaftskommission der UN für Lateinamerika und die Karibik CEPAL sagt
Lateinamerika ein schwieriges Jahr mit einem Wachstum von nur 1,9 Prozent voraus
(FR, 24.12.08). Lediglich drei Ländern wird ein mindestens
vierprozentiges Wachstum prognostiziert: Peru, Panama und Kuba.