Nach dem Fast-GAU der
Finanzkrise intervenieren die europäischen Nationalstaaten in recht
unterschiedlicher Weise, um der zum Teil lange verleugneten Wirtschaftskrise
Herr zu werden. Europa sollte sich jedoch, so unser Autor, jener Dynamik
besinnen, die das Einigungsprojekt vorangetragen hat.
Den Herausforderungen dieser Jahrhundertkrise könnte eine Wirtschaftsunion am
ehesten gerecht werden, deren Politik nationale Eigenbröteleien vermeiden kann,
wie sie derzeit von der Großen Koalition in Deutschland betrieben wird.
Der 15. September 2008, der
Tag der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers, so scheinen sich die
Auguren zu einigen, wird als der Tag der Zeitenwende, der Tag des
finanzpolitischen GAUs in die Wirtschaftsgeschichte eingehen. Die Kernschmelze
stand in den Tagen danach kurz bevor, durch ad hoc ergriffene Staatsinterventionen
ließ sie sich noch einmal abwenden. Nach dem Ende der französischen
EU-Ratspräsidentschaft und der Verabschiedung des zweiten deutschen
Konjunkturprogramms Mitte Januar bietet sich Gelegenheit für eine erste
europapolitische Zwischenbilanz. Dies umso mehr, als die relevanten weltweiten
Zentralbankzinsen gen Null tendieren und damit auch das letzte konventionelle
Pulver der Wirtschaftspolitik verschossen scheint.
Die Krise und ihre
Wahrnehmungen
Noch ist nicht klar, in
welcher Phase sich die Wirtschaftskrise befindet. Sie hat irgendwann im Jahr
2007 – man könnte sagen klassisch – begonnen als Finanzkrise, also im Kreditüberbau,
womit der »Sturmvogel der Krise« (Marx) angekündigt war. Nachdem sich dann im
Interbankenmarkt das gegenseitige Misstrauen und der Solvenzverdacht
festgefressen hatte, griff die Kreditkrise im Laufe des Jahres 2008 über auf die
Realwirtschaft – wie die jetzt nach und nach veröffentlichten Zahlen verraten,
schon recht früh im Jahr 2008. Für den zukünftigen Verlauf sind grundsätzlich
zwei Szenarien denkbar.
Szenario 1: Es breitet sich eine normale zyklische Krise aus,
zeitlich begrenzt und garniert mit den üblichen Marktbereinigungen, Unternehmensinsolvenzen,
düsteren Zahlen am Arbeitsmarkt und so weiter, aber am Ende des Tunnels mit
einer Perspektive der wirtschaftlichen Erholung. Schon jetzt steht ziemlich
sicher fest, dass die jetzige Rezession den schärfsten Einbruch in der
westlichen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg markieren würde. Die Krise reihte
sich ein als sechste Konjunkturkrise der Wirtschaftsgeschichte nach 1945.(1)
Szenario 2: Tritt dieser Fall ein, steht die globalisierte
Weltwirtschaft am Beginn eines Strukturbruchs, einer massiven Strukturkrise,
die sich in eine dauerhafte deflationäre Konstellation auswächst mit
unübersehbaren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen. Über die
deflationäre Abwärtsspirale könnte sich noch eine ökologische Krise stülpen, in
deren Rahmen sich der Kampf um Ressourcen intensiviert, begonnene Wirtschaftsentwicklungen
in den Schwellenländern abgebrochen werden und den OECD-Ländern ihr bisheriges
zivilisatorisches Entwicklungsmodell wegrutscht. Beispiele für das Szenario 2:
die Weltwirtschaftskrise von 1929 ff. und – eine erheblich mildere Ausprägung –
die Deflationskrise in Japan von 1990 ff. Der »schwarze Schwan« (Taleb 2008) hätte die Welt heimgesucht.
Seit dem Herbst 2008 häuft
sich reichlich empirisches Material, das für einen sehr tiefen Einschnitt
spricht:
– da ist zunächst das abrupte Austrocknen der
gegenseitigen Kreditierung im Interbankenmarkt mit den Konkursen und dem Wanken
zahlreicher Riesen im Bankensektor, das bis jetzt anhält und epidemische
Ausmaße hat;
– dann sind da die Währungskrisen, die ganze
Staaten an den Rand des Bankrotts getrieben haben und wohl noch treiben werden;
– es zeigt sich ferner die atemberaubende
globale Synchronizität im Abschwung, die die Hoffnung
auf Entkopplung (zwischen Industrie- und Schwellenländern) schlagartig weggedrückt
hat;
– und da sind am Anfang des
realwirtschaftlichen Einbruchs die schockartigen und gewaltigen Rückgänge beim
Export insgesamt und in einzelnen Branchen, insbesondere der Automobilbranche.
Dass mit Sicherheit zum
gegenwärtigen Zeitpunkt keine der beiden Möglichkeiten prognostiziert,
umgekehrt aber auch nicht ausgeschlossen werden kann, erinnert auf den ersten
Blick an den alten Agnostiker Hayek, auf den in dieser Zeit gelegentlich
rekurriert wird – meist in Versatzstücken und zur Unkenntlichkeit verkürzt –,
der eine solche Überlegung zum Thema Zukunft schon im Ansatz als »Anmaßung von
Wissen« abgekanzelt hätte. Bestenfalls zu dem vollständigen Verzicht auf
jedwede staatliche Intervention hätte er geraten, um der Bereinigungskrise
freien Lauf zu lassen und eine neue Etappe im spontanen wirtschaftlichen Entdeckungsprozess
einzuläuten. Erst dann ließen sich die verpfuschten Wirtschaftsordnungen der Gegenwart
in wahre Katallaxien transformieren (Hayek 1968a).
Noch sind es wenige Sternenreiter, die solches in ihren Gedanken bewegen; die
Mehrheit der konventionellen Neoliberalen, auch die in der Wolle gefärbten,
haben fast allesamt die Bankenrettung vom Oktober begrüßt, da es die Kernschmelze
mit dem Systemrisiko zu vermeiden galt.
Mit Blick auf die Risiko-
und Krisenwahrnehmungen im öffentlichen wirtschaftspolitischen Diskurs lässt
sich bislang Folgendes registrieren:
– In bis dato vorborgen gebliebenen Schichten
der Risikowahrnehmung des ökonomischen Sachverstandes lebte die
Weltwirtschaftskrise von 1929 weiter, und wenn es um wirtschaftspolitisches
Handeln geht, kann dieses Wahrnehmungsmuster fast reflexartig abgerufen und
umgesetzt werden.
– Was Jahre, Jahrzehnte wie eine Monstranz in
der Öffentlichkeit herumgetragen wurde, das neoliberale Grundbekenntnis, kann
und wird bei entsprechender Risikowahrnehmung in Windeseile als Ballast über
Bord geworfen. Insofern ist eine sehr beachtliche und begrüßenswerte Entideologisierung
in der Wirtschaftspolitik zu verzeichnen.
Risikoerkennung und
Risikobearbeitung sind bekanntlich die zentralen Aufgaben von Politik. Sehr
früh hat die französische Ratspräsidentschaft die Risikodimension der Finanzkrise
erkannt und sehr früh auch versucht, eine internationale Bearbeitung der sich
auftürmenden Risiken zu lancieren. Über den Tag hinaus bleibt festzuhalten,
dass die deutsche Politik angesichts der internationalen Wirtschaftskrise seit
dem Tag der Epochenwende, dem 15. September 2008, zunächst auf Abwarten
spielte, Risiken also nicht wahrnahm, und dann, als die ersten Lawinen rollten,
nationalstaatliche Risikobearbeitungen präferierte.
Das passiert in einem Land, dessen Wirtschaft, wie fast in keinem anderen Land
der Welt, international eingebettet und verflochten ist, also in einem Land,
das wie kein anderes ein Interesse daran haben muss, dass alle, und das heißt zunächst
die Länder der Europäischen Union (EU), das Richtige tun, weil alle nur Glieder
einer Kette internationaler Verflechtungen sind. Wer sozusagen auf der Ebene
des Kettengliedes laboriert, wie die Deutschen bis zuletzt, muss bestimmte Zusammenhänge
nicht verstanden haben oder darauf hoffen, dass das Handeln der anderen
»irgendwie« die richtige Richtung nimmt. Nach gut einem Vierteljahr, in dem
fast von Woche zu Woche ein Hinterherhecheln der deutschen Politik aufgeführt
wurde, wäre es schon an der Zeit, wenn sich diese Politik auch einmal in
Selbstreflexion der eigenen Risiko- und Krisenwahrnehmungen öffentlich erklären
würde.
Französischer Elan
Die NZZ
(20./21.12.08) hat Sarkozy »Europas ersten
Präsidenten« genannt und darauf hingewiesen, wie ein »Vollblutpolitiker«
schwache Institutionen aufwerten könne. Mit der schwachen Institution wurde
angespielt auf das künftige Amt des EU-Präsidenten, das auch im Lissaboner Vertrag vorgesehen ist. Das Amt war von vorneherein
schwach konzipiert und in seinen Funktionsbereichen mehr als
technisch-sachliche Agentur vorgesehen. Während der französischen
Ratspräsidentschaft hat Sarkozy wie ein politischer
Präsident gewirkt und drei große Probleme gelöst, von denen nur eines auf der
ursprünglichen Agenda stand.
Erstens Der Lissaboner Vertrag ist, nach dem ersten
Scheitern bei der irischen Volksabstimmung im vergangenen Sommer, auf dem Weg
zur endgültigen Ratifizierung, das scheint festzustehen; eine zweite Abstimmung
wird es in der zweiten Jahreshälfte 2009 geben. Gemessen an der
Demokratie-Groteske der Abstimmung im Sommer 2008 (2) haben die Franzosen eine
ebenso elegante wie auch großmütige Lösung zusammengestellt: Es wird bei der
zweiten Volksabstimmung der Abstimmungsgegenstand, der Lissaboner
Vertrag, der gleiche sein, Zugeständnisse an die Iren, wahrscheinlich auf der
Protokoll-Ebene, werden aber eingeräumt.(3)
Zweitens Die Georgien-Krise
wurde unter zentraler Regie der französischen Ratspräsidentschaft beigelegt.
Zwar waren die US-Amerikaner nicht davon abzuhalten, Georgien und der Ukraine
die (langfristige) NATO-Mitgliedschaft zuzusagen, immerhin aber konnte gegen
massive westliche russophobe Tendenzen die Kriegsschuldfrage
halbwegs im Bereich des Objektiven gehalten werden und – vor allem anderen – ließen
sich frühere europäische Hilflosigkeiten wie auf dem Balkan vermeiden.
Drittens Der
wichtigste Erfolg bestand in der französischen Moderation der Finanzkrise
(vgl. Polster 2008). Unmittelbar nach der Lehman-Insolvenz realisierte Sarkozy die Brisanz des sich zusammenbrauenden
finanzpolitischen Gemischs und orchestrierte auf verschiedenen offiziellen und
inoffiziellen EU-Ebenen ein Krisenmanagement, das seinesgleichen in der
europäischen Integrationsgeschichte sucht. Er setzte einen gemeinsamen
europäischen Rettungsfonds für den Bankensektor der EU auf die Tagesordnung.
Viele Wochen, bevor andere begannen nachzudenken, erörterte er vor dem
EU-Parlament ein europäisches Konjunkturprogramm, das auch Verstaatlichungen
nicht ausschloss. Die Euro-Gruppe als Wirtschaftsregierung der EU trat durch Sarkozy aus ihrem Schattendasein und erhielt Umrisse eines
potenziellen Aktionspaneels. Er brachte die Briten wieder mit ins europäische
Boot. Und er initiierte den Auftakt einer internationalen Institutionalisierung
von Beratungen über den Umbau der globalen Finanzarchitektur.
Deutsches Biedermeier
Angesichts der französischen
Dynamik der Ratspräsidentschaft und angesichts der Tandems Kohl-Mitterrand und
Schröder-Chirac (siehe Kasten) rührt einem als Europäer bei dem Blick
auf die deutsche Politik in der Finanzkrise das große Mitleid an. Ausgerechnet
in der Situation, in der die Stunde der Politik schlägt, tritt die seit Jahren
prägende Lähmung im Politischen überdeutlich hervor. Die Moralpolitik der
rot-grünen Koalition wurde abgelöst durch die »unpolitische Politik«, das
politische Biedermeier der großen Koalition. Seither lag der Tau des
Unpolitischen über der Szene, und es lebte die Hoffnung, dass keine
extraordinären Aufgaben zu lösen wären. Personell ist es der Moderatoren- und
Sachbearbeitergestus, mal mit, mal ohne Humor, mal pausbäckig, mal unbeholfen,
der regiert.
Wichtiger als die personelle
aber ist die konzeptionelle Ebene, gerade weil der Fall der extraordinären
Aufgabe eingetreten ist. Im bisherigen Krisenverlauf war das einzige Beständige
in der deutschen Politik das retardierende Moment. Jeweils vehement wurde
Handlungsbedarf bestritten bei der beginnenden Finanzkrise, als es um die
Bankenrettung ging, und wenig später bei der sich realwirtschaftlich
zuspitzenden Krise, als es um die Auflage von Konjunkturprogrammen ging. Und in
beiden Fällen lassen sich schon jetzt erhebliche konzeptionelle Schwächen erkennen.
Im Fall des Konjunkturprogramms folgte dem ersten allseits belächelten
»Päckchen« Ende des letzten Jahres ein etwas größeres zu Beginn des neuen
Jahres, in der Quantität unterausgestattet(4) und in der Qualität
problematisch. Statt schon zu Beginn der Finanzkrise über staatliche Beteiligungen
bei Kreditinstituten in der Geschäftspolitik mitsprechen zu können, verspätete
man sich auch hier. Und als die Teilverstaatlichung der Commerzbank dann kam,
wurde umgehend Bescheid gegeben, dass man sich in die Geschäftspolitik nicht
einzumischen gedenke. Die Dynamisierung im Interbankengeschäft wurde nicht erreicht,
stattdessen werden einzelne Banken gestützt, ohne dass damit Erfolg erzielt
wird.
Eigentlich hätte man es
nicht für möglich halten sollen, aber es kam, wie es kommen musste: In der
Stunde der höchsten Not reflektieren die deutschen Wirtschaftspolitiker über
eine konstitutionelle Schuldenbegrenzung, ein Thema, das in der Föderalismuskommission
schon lange schmorte und gerade jetzt zu einem Ende gebracht werden soll. Zum
Verständnis der alten europäischen Demokratien – Frankreich und Großbritannien
– gehört seit eh und je, dass Geldpolitik und erst recht Fiskalpolitik
ureigenste Aufgaben der politisch-parlamentarischen Gremien sind. Sehr wesensfremd
ist der dortigen politischen Kultur die deutsche Insistenz
in Hinblick auf Stabilitätspakte und konstitutionelle Schuldenverbote. Den
Deutschen beliebt es in diesem Zusammenhang, auf ihre spezielle
Wirtschaftgeschichte hinzuweisen, die immerhin zwei Hyperinflationen
hervorgebracht habe. Der Hinweis ist aber nur zur Hälfte formuliert. Beide Inflationierungen entsprangen außenpolitischen Abenteuern
und diktatorischen Verhältnissen. In Demokratien, so darf formuliert werden,
ist auch eine Phase mehr oder weniger exorbitanter Verschuldung zu handeln.
Eines konstitutionellen Schuldenverbots bedarf es dafür nicht. Die
Notwendigkeit einer Schuldenbremse hat man sich von der deutschen
Wirtschaftswissenschaft (Institutionenökonomie oder
Neue Politische Ökonomie), die angesichts der Krise gerade eine Blamage ohne
Ende erlitten hat, einreden lassen.
Weiter zugespitzt kann
formuliert werden, dass ein solches Politikelement antidemokratisch ist, es
gehört jenen hayekianischen Vorstellungen an, die Demokratie
über allerlei konstitutionelle Umbaumaßnahmen auszuhebeln versuchen (vgl. z.B.
Hayek 1968b). In früheren Zeiten wurde vor allem in der Fachökonomie gegen die
staatliche Kreditaufnahme argumentiert, dass sie die privatwirtschaftliche
Kreditnachfrage ausgrenze (»crowding out«),
heutzutage wird moralisch argumentiert, dass man nicht zu Lasten künftiger
Generationen (man beachte den Plural!) Wirtschaftspolitik betreiben dürfe, denn
Tilgung und Zinszahlung müssten eben die künftigen Generationen tragen. Wer
immer sich den Hinweis auf die künftigen Generationen ausgedacht hat, er darf
für sich in Anspruch nehmen, den Übergang von der Moral in die Transzendenz
bewerkstelligt zu haben.
Die im deutschen Grundgesetz
(und nicht nur da) verankerte »goldene Regel« (Art. 115), nach der die
staatliche Kreditaufnahme die Summe der staatlichen Investitionen nicht
überschreiten dürfe, verknüpft gerade die Gegenwart der Kreditaufnahme mit der
in die Zukunft gerichteten Investition. Schulen müssen für die jetzt lebenden
Kinder gebaut werden, Sparen für virtuelle Generationen der Zukunft muss da zurückstehen.
Mit der moralisch auf Stelzen daherkommenden staatlichen Schuldenbremse wird
die Generation der Gegenwart vertröstet und (vorgeblich) Politik für eine
virtuelle Gruppe der Zukunft (»die zukünftige Generation«) betrieben.
Aber nicht nur die neue
Transzendenz in der Politik lässt aufhorchen. Auch das politische Element der
paradoxen Intervention verdient Aufmerksamkeit. Im Jahr der möglicherweise
höchsten Schuldenquote – für das Jahr 2009 werden 4 bis 5 Prozent des BIP
veranschlagt – werden die Geister des Kameralismus
beschworen, und man versichert sich für die Zukunft auf den ausgeglichenen
Staatsetat hinzuarbeiten. Wer’s glaubt… Der europäische Stabilitätspakt aus dem
Jahr 1997 hat die Mitgliedstaaten wenige Jahre später in der Krisenbewältigung
zu Beginn des neuen Jahrtausends nicht davon abgehalten, fiskalpolitisch
gegenzusteuern. Und auch gegenwärtig hat die Kommission als Wachhund des
Stabilitätspaktes beflissen zugesichert, dass ein Überschreiten der
Schuldenquote unbedingt hingenommen werden müsse, da man in außergewöhnlichen
Zeiten lebe. Wer glaubt ernsthaft daran, dass ein konstitutionelles Schuldenverbot
eine Krise wie die derzeitige überleben würde? Das konstitutionelle Schuldenverbot
ist die moderne, mit Transzendenz aufgewärmte Variante brüningscher Politik. In
Deutschland, dem Land der Pfefferkuchen, lernt man offensichtlich nicht aus
historischen Katastrophen.
Von der Notwendigkeit
einer Wirtschaftsunion
Als in Maastricht 1992 der
Schritt in die Währungsunion beschlossen wurde, kursierte für einige Zeit noch
die Formulierung von der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) die Runde. Erst
nach und nach verschwand dann in der Folgezeit diese Begrifflichkeit, und es
wurde zur Kenntnis genommen, dass die EU oder ein Teilgebilde von ihr über eine
Währungsunion verfüge und mehr nicht. Die Binnenmarktordnung konnte schlechterdings
nicht für eine Wirtschaftsunion stehen. Eine solche ist erst gegeben, wenn eine
einheitliche supranationale Wirtschaftspolitik verfolgt wird. Und davon ist
Europa, das haben nicht zuletzt die vergangenen Wochen vor Augen geführt,
meilenweit entfernt. Im Jahr zehn der Währungsunion, die sich als rundum
erfolgreich herausgestellt hat, insbesondere in der jetzigen Finanz- und
Wirtschaftskrise, wird aber mehr als deutlich, dass der Währungsunion eine
Wirtschaftsunion zur Seite gestellt werden muss.(5)
Auf dem Gebiet der
Wirtschaftspolitik vermochte die französische Ratspräsidentschaft, wie oben
gesehen, trotz erheblicher nationalstaatlicher Widerstände, eine Ahnung davon
zu vermitteln, was denn europäische Wirtschaftspolitik sein könnte. Unterhalb
der Ebene der französischen Ratspräsidentschaft aber gab es ein munteres
dissonantes Konzert von nationalstaatlichen Strategieentwürfen, wenn man sie
denn überhaupt so nennen möchte. Nur zwei Beispiele:
Erstens: Im Bereich des
Bankensektor wollte man sich nicht auf eine gemeinsame Strategie und einen
gemeinsamen Fonds einigen; Frankreich regte an, Deutschland verweigerte sich,
wahrscheinlich weil man deutscherseits seine Banken
noch in guter Verfassung wähnte.
Zweitens: In der
Konjunkturpolitik forcierte Sarkozy Ende
Oktober/Anfang November ein gemeinsames Programm, herausgekommen sind nationalstaatliche
Programme, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Großbritannien setzt am
Konsum an (Senkung der Mehrwertsteuer), Frankreich legt ein »klassisches«
Infrastruktur-Investitionsprogramm auf – was am sinnvollsten ist –, und
Deutschland zögert zunächst,(6) schnürt dann ein »Päckchen«, das zu
Jahresbeginn um ein auch nicht sehr mutig zusammengestelltes Potpourri (Mix aus
Investitions- und Konsumprogramm) ergänzt wurde.
Die Post-Lissabon-Ära
wird also sehr bald nach der Bewältigung der Weltwirtschaftskrise von einer
Diskussion um eine europäische Wirtschaftsunion bestimmt werden. Dabei könnte
denn klar zutage treten, dass die Angst der Deutschen, mit einer europäischen
Wirtschaftsregierung entstehe ein Gegengewicht zu der Europäischen Zentralbank
und deren Stabilitätsorientierung gerate in Gefahr, unbegründet ist. Tritt das
eingangs angedeutete Deflationsszenario ein, dann wird auf viele Jahre hinaus
alles Mögliche zum wirtschaftspolitischen Problem, nur nicht die Inflation.
Die letzten Monate haben
angedeutet, woraus die Aufgabe einer solchen Wirtschaftsregierung bestehen
muss. Es geht um Diskussion, Koordination sowie Vereinheitlichung von
Wirtschaftspolitik und in der längeren Perspektive um exekutive
Machtausstattung. Wäre auf der Ebene einer europäischen Wirtschaftsregierung im
September/Oktober 2008 eine gemeinsame Politik mit Blick auf den europäischen
Bankensektor entworfen worden, hätte es nicht das Vierteljahr zögernder,
uneinheitlicher Flickenteppichpolitik gegeben, sondern einen gemeinsamen Sicherungsfonds,
eine einheitliche Einlagengarantie, Verstaatlichungsmaßnahmen mit Eingriffen in
die Geschäftspolitik der Banken und so weiter. Da die Liquidisierung
im Interbankenmarkt ja offensichtlich immer noch nicht greift, wäre man
wahrscheinlich gut beraten gewesen, über die Beteiligungsmaßnahmen auch
»zwangsweise« die wechselseitige Kreditierung im Bankensektor wieder in Gang zu
bringen.
Warum Koordination? Bei der
gegebenen institutionellen Struktur europäischer Wirtschaftspolitik werden in
der jetzigen Krise zwei Probleme deutlich:
Erstens: Der Binnenmarkt
bietet noch keine Gewähr gegen Protektionismus, und Protektionismus war noch
immer eine Begleiterscheinung von größeren grenzüberschreitenden
Wirtschaftskrisen. Jede nationalstaatliche Konjunkturmaßnahme, sei es die britische
Mehrwertsteuersenkung, sei es die deutsche »Verschrottungsprämie« für Altautos,
so sinnvoll das im Einzelnen auch sein mag, wirkt wie eine protektionistische Abwehrmaßnahme
gegen die ausländische Konkurrenz und droht Gegenmaßnahmen in den Mitgliedstaaten
nach sich zu ziehen, so dass der bekannte spiralige Prozess in Gang zu kommen
droht. Das Ganze liefe auf eine Art »positiven Protektionismus« hinaus.
Zweitens: Die jetzigen
nationalen Programme sind weder im Bereich der Geldwirtschaft noch im Bereich der
Realwirtschaft aufeinander abgestimmt. Vieles, was gegen keynesianische
Wirtschaftspolitik vorgebracht wird, dreht sich um die Frage der Koordination
auf innerstaatlicher Ebene und die Wirkung auf das Ausland. Bei der jetzigen
unkoordinierten europäischen Politik bleibt es reiner Zufall, wie die einzelnen
Maßnahmen im europäischen Verbund wirken.
Das von der Kommission, die
die Finanzkrise zunächst völlig verschlafen hatte, am 26.11.08 verkündete
europäische Konjunkturprogramm war eher eine Lachnummer. Die bis zu diesem
Zeitpunkt hastig zusammengezimmerten
nationalstaatlichen Programme wurden aufaddiert, man kam auf einen
Mittelaufwand von circa 1,5 Prozent des BIP der EU und die sonst so neoliberal
inspirierte Kommission hatte ihre keynesianische
Pflicht verrichtet.
Ganz so einfach ist die
Sache aber nicht, und das liegt nicht nur am neoliberalen Korpsgeist der
jetzigen Kommission, sondern an den institutionellen Restriktionen, in denen
sie gefangen ist. Eine zwischen Wirtschaftsregierung, Kommission und EU-Parlament
ermittelte gemeinsame Wirtschaftspolitik wird auf Dauer nicht ohne
Kompetenz-Kompetenz auf dem Gebiet der Mittelbeschaffung auskommen. Der schon
von Delors ventilierte Gedanke einer eigenen Steuererhebungs- und Verschuldungskompetenz
– innerhalb eines bestimmten Rahmens und mit dem Entscheidungskern eines
aufgewerteten EU-Parlaments – wird ein Eckpfeiler der zukünftigen Wirtschaftsunion
sein.
Schließlich wird im Rahmen
eines solchen institutionellen Neuarrangements die EU auch nicht um eine intensivierte
stoffliche Diskussion kommen, auch nicht um die wirtschaftlichen Profile ihrer
Mitgliedstaaten und horizontale und vertikale Arbeitsteilungen in Europa.
Beispiel 1: Die Bundesrepublik exportiert circa zwei Drittel
ihrer Güter in die EU und sie weist seit langer Zeit einen positiven
Außenbeitrag auf, der eng mit ihrem Wirtschaftsprofil als Fabrik der EU
zusammenhängt. Ermöglicht wurde dieses Profil lange Zeit durch eine spezifische
Währungspolitik, die auf eine Unterbewertung hinauslief. Seit dies, bedingt
durch die Währungsunion, nicht mehr möglich ist, kommt dem zweiten Faktor, der
Niedriglohnpolitik, ein größerer Stellenwert zu. Niedrige und stagnierende,
teils rückläufige (Real-)Einkommen sind die Voraussetzung für den von der
Bundesrepublik betriebenen Merkantilismus. Die Frage ist, wie lange sich die EU
die merkantilistische »Ausbeutung« noch gefallen
lässt.
Beispiel 2: Ein europäisches Investitionsprogramm hätte in der
gegenwärtigen Lage vier Felder abdecken müssen:
– die europäische Verkehrspolitik (im Lissaboner Vertrag unter dem Titel XVI Transnationale Netze
vorgesehen),
– die Energiepolitik (in allen ihren
Dimensionen, einschließlich der Netze und einschließlich der Ordnungspolitik
mit Blick auf den Klimaschutz),
– die Bildungspolitik,
– und ein Investitionsprogramm für die
verarmenden EU-Staaten Osteuropas.
Es liegt auf der Hand, dass
über Investitionen in der Bildungspolitik subsidiär auf nationalstaatlicher
sowie regionaler Ebene entschieden werden muss. Ebenso liegt auf der Hand, dass
Verkehrs- und Energie-Investitionen eine Querschnittsaufgabe darstellen, die
sich auf die supranationale und die nationalstaatliche Ebene verteilen. Eine
gesamteuropäische Aufgabe wiederum, und daher von einem supranationalen Gremium
zu organisierende Aufgabe wäre das osteuropäische Investitionsprogramm, das im
Übrigen weit über die bestehenden EU-Fonds hinausgehen müsste.
Und noch ein Argument
spricht nachhaltig dafür, die Wirtschaftspolitik vom Koordinationsgegenstand
zum Integrationsgegenstand zu machen. In dem »Mehrebenensystem«
(Jachtenfuchs/Kohler-Koch 1996) der EU gilt, dass die Integrationsgegenstände
dem politischen Tagesgeschäft mehr oder weniger entzogen und gleichsam
»entpolitisiert« sind, jedenfalls werden sie mehr als Sachthemen behandelt, die
dem direkten politischen Meinungsstreit ferner sind. Die Bereiche Zollpolitik
und Währungspolitik spielen im politischen Disput beispielsweise keine oder nur
noch eine marginale Rolle. Wäre nun die Wirtschaftspolitik im Rahmen einer
Wirtschaftsunion heutzutage schon vergemeinschaftet,
wäre dem deutschen Publikum der unerträgliche Populismus der Abgaben- und
Steuersenkungsforderungen der letzten Wochen erspart geblieben und das
Konjunkturprogramm könnte sich auf die allein rationalen Dimensionen der staatlichen
Investitionen in soziale und ökologische Felder konzentrieren. Nicht zuletzt
die deutsche Politik sollte darüber reflektieren, dass in einer internationalen
Wirtschaftswelt mit Wirtschaftspolitik keine Mehrheiten mehr zu organisieren
sind und der Abtritt von Politikbereichen an die höheren Etagen im
»Mehrebenensystem« ein sehr großes Moment der Entlastung mit sich bringt. Man
erinnere sich der Währungsunion.
Welches Tier auch immer
kommen wird, der schwarze Schwan, der weiße Hirsch oder das gefräßige Krokodil,
in der sich ausbreitenden Krise und nach ihrer Überwindung wird es keine
Alternative zur europäischen Integration geben. Ob dieser Satz bestehen bleibt,
wenn Verwerfungen und Irrationalitäten um sich greifen, wird sich zeigen.
1
Abgesehen
von profilsüchtigen Außenseitern wird dies seriöserweise
nicht mehr in Frage gestellt. Die gehandelten Daten für das Jahr 2009 liegen zwischen
2 und 4 Prozent Rückgang beim deutschen BIP. Dass das Jahr 2009
wirtschaftspolitisch tiefschwarz ausfallen wird, gilt als ausgemacht. Wann die
ersten Lichtblicke wahrzunehmen sind, wird noch unterschiedlich beurteilt.
2
Wie sich so
nach und nach herausstellte, nahm nicht nur der US-amerikanische Geheimdienst
bei der Volksabstimmung seine demokratischen Rechte in Irland wahr, sondern
auch die europafreundliche britische Presse, die in Irland weitgehend dominant
ist, hat dem Begriff von der Presse als vierte Gewalt in der Demokratie neuen Inhalt
beigegeben.
3
Etwas
verzerrt beziehungsweise gar nicht wird in der hiesigen Presse der Inhalt der
Zugeständnisse wiedergegeben. In der Anlage 1 zu den Schlussfolgerungen des
Vorsitzes Europäischer Rat vom 11. und 12. Dezember 2008 werden knapp
folgende Aspekte erwähnt: Gewährleistung der politischen Neutralität Irlands,
Gewährleistung der irischen Abtreibungsregelungen, keine zusätzlichen
Steuerlasten durch die Union, Betonung folgender Themen: öffentliche
Dienstleistungen sind unverzichtbares Instrument, nationalstaatliche
Verantwortung für Bildung und Gesundheit, Bereitstellung von Diensten im
allgemeinem Interesse. Auf dieser Liste finden sich also durchaus sinnvolle
Dinge. Mehr karikierend wurde in der deutschen Presse nur darauf hingewiesen,
dass die Iren »ihren« Kommissar behalten würden, da man die Verkleinerung der
Kommission von 27 auf 17 Mitglieder abgesetzt habe.
4
Vermutlich
aus kosmetischen Gründen wurde das Konjunkturprogramm II auf zwei Jahre
ausgelegt, was lediglich zu aufgeblasenen Zahlen führt und entschiedenes
Handeln vorgaukelt. Und noch ein anderer Aspekt wird wohl in den nächsten
Wochen ans Licht kommen: Zu lange hatte man den Exorzismus gegenüber der
Konjunkturpolitik betrieben, als dass man jetzt auf den nötigen Sachverstand in
den Ämtern und auch die nötige Mitarbeiterzahl ohne weiteres zurückgreifen
könnte.
5
In der
Sprache der neofunktionalen Integrationstheorie formuliert gärt es im
europäischen Integrationsprojekt seit der Einführung der Währungsunion in zwei
Großbereichen der Politik (»high politics«), vernehmbarer
in der Außenpolitik und – bislang noch weniger deutlich – in der
Wirtschaftspolitik. Einen Schub in Richtung »spill over« zu einer einheitlichen Wirtschaftspolitik sollte die
jetzige Wirtschaftskrise schon bringen.
6
Dass im
Herbst noch lauthals im Land des »Exportweltmeisters« verlautbart wurde, man
sei »gut aufgestellt«, und ein Konjunkturprogramm sei überhaupt nicht vonnöten,
zeigt, auf welch erbärmlichem Niveau die wirtschaftspolitische Kompetenz
hierzulande mittlerweile angelangt ist. Die zweistelligen Einbrüche beim Export
zum Jahresende hin müssen den Stäben im Finanz- und Wirtschaftsministerium wie
Einschläge aus der Milchstraße vorgekommen sein.
Kasten:
Geschichte einer
EU-Dynamik
Sarkozy als »erster EU-Präsident« knüpfte mit seiner Politik
an die lange Tradition dynamischer französischer Europapolitiker an. Die ersten
großen Vertreter waren Robert Schuman und Jean Monnet. Angesichts der heutigen Moralität in der Politik
war das Umschwenken Frankreichs in der Deutschlandpolitik 1950 durchaus von
historischer Größe. Keine fünf Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs
wurde dem »deutschen Usurpator«, der das Land in unendlichem Maße gedemütigt
hatte, eine europäische Zusammenarbeit angeboten, die kurze Zeit später in der
EGKS mündete. Selbstredend waren hier eigene Interessen im Spiel, auch ein
großer Realismus gegenüber den Möglichkeiten von Politik, dennoch war der Schuman-Plan ein überaus freundliches Angebot zur
Kooperation und bedeutete für das westliche Deutschland so etwas wie die
Rückkehr in die internationale Politik.
Nach den langen Jahren
europäischer Lethargie bis in die frühen Achtzigerjahre hinein war es der
französische Kommissionspräsident Jacques Delors, der mit seinem Amtsantritt
1985 eine neue europäische Dynamik entfachen konnte. Von der Konzeption her war
das auf ihn zurückgehende Binnenmarkt-Projekt durchaus nicht nur von der neoliberalen
Machart, wie es später umgesetzt wurde (vgl. Delors 2004, S. 375 ff.). Delors’
politische Einsicht bestand darin, dass sich die europäische
Staatengemeinschaft Wachstumsimpulse durch die gemeinsame Wirtschaft versprach,
die sozialpolitische Umverteilung der Wachstumsgewinne aber auf der nationalen
Ebene organisieren wollte. Das war der europäische Konsens, der aber in den
Folgejahren eine deutliche Schieflage des Projekts brachte. Aus heutiger Sicht
unterschätzte Delors wohl die Dynamik des Binnenmarktes, der doch enormen
Einfluss auf die nationalstaatliche soziale Verfasstheit hatte. Und ein anderer
Aspekt aus der Ära Delors gewinnt in der jetzigen Situation an Aktualität. Im
Vorfeld des Gipfels von 1993 startete er einen Versuch der Aneignung von Kompetenz-Kompetenz
für die europäischen Institutionen in der Aufbringung ihrer Finanzmittel
(Steuererhebung und Kreditaufnahme). Knall auf Fall wurde die Sache aber aus
dem Verkehr gezogen, die nationalstaatlichen Widerstände waren zu groß. Angesichts
der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise und dem von der Kommission
aufgelegten Pseudo-Konjunktur-Programm vom vergangenen Herbst stellt sich die
Frage der autonomen Finanzkompetenz von Neuem.
Ein seltenes Beispiel
gelungener deutsch-französischer Kooperation gelang im Gezeitenwechsel von
1990. Der »große Europäer« Kohl setzte sich gegen ein bis zu diesem Zeitpunkt
als unüberwindlich geltendes Bollwerk aus Bundesbank, Mainstream-Ökonomie,
Zeitungsöffentlichkeit und Bevölkerung für die europäische Währungsunion ein,
um die deutsche Einheit zu realisieren. Dem Geschick der Franzosen Mitterrand
und Delors war es zu verdanken, dass dieser fragile Tausch alle Klippen
umschiffen konnte. Gut eineinhalb Jahrzehnte nach dem Maastrichter Beschluss
zur Währungsunion ist man in Europa vor dem Hintergrund der Finanzkrise heilfroh,
ein (einstweilen noch) auskömmliches Wirtschaftsleben in der Währungsunion führen
zu können. Ohne das Schutzdach der Währungsunion wäre im Verlauf der Finanzkrise
wohl der gesamte realwirtschaftliche acquis
communautaire – von der Zollunion bis zum Binnenmarkt
– zerborsten und der Protektionismus hätte Urstände gefeiert.
Ein weiteres Beispiel
gelungener deutsch-französischer Kooperation brachte schließlich das Frühjahr
2003. Chirac und Schröder – als Verkörperung des »alten Europas« – hielten am
Nein zu dem wahnwitzigen Irak-Krieg fest. Dieses Nein musste in einer hysterisierten
Weltöffentlichkeit gehalten werden, in der es um jeden Preis darum ging, die
»Achse des Bösen« zu bekämpfen. Dass damit Völkerrecht begraben wurde, spielte
keine Rolle. Grabgesänge wurden damals auf die deutsch-französische Achse als
Motor der europäischen Integration angestimmt. Mit der französischen Ratspräsidentschaft
des Jahres 2008 reüssierte das »alte Europa« bedauerlicherweise nicht als
deutsch-französische Achse. Das »neue Europa« – damals in allerübelster
Geheimdiplomatie à la 19. Jahrhundert unter britischer Führung vorpreschend
(»Brief der Acht«) – mit seinen vier westlichen und vier östlichen Geheimbündlern taumelt gegenwärtig von einer krisenhaften
Zuspitzung in die andere.
Werner Polster
Literatur
Delors,
Jacques (2004): Erinnerungen eines Europäers, Berlin
Europäische
Kommission (2008): Schlussfolgerungen des Vorsitzes Europäischer Rat
(Brüssel) vom 11. und 12. Dezember. Dokumentation
Hayek,
Friedrich August von (1968a): »Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren«. In: Kieler
Vorträge, Neue Folge 56
Ders.
(1968)b: »Die Verfassung eines freien Staates«, in: ORDO. Jahrbuch für die
Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Band 19
Jachtenfuchs,
Markus/Kohler-Koch, Beate (1996): »Regieren im dynamischen Mehrebenensystem«,
in: dies. (Hrsg.): Europäische Integration, Opladen
»Europas
erster Präsident«, in: NZZ, 20./21.12.08
Polster,
Werner (2008): »Die Europäische Union, die Finanzkrise und die Perspektiven der
Integration«, in: Kommune Nr. 6/08
Taleb,
Nicholas (2008): Der Schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher
Ereignisse, München