Albert Sterr

 

»Signale der Hoffnung«

 

Mit dem Aufstieg Brasiliens gehen wichtige Weichenstellungen auf dem Subkontinent einher

 

 

 

Brasilien, dessen Hoffnungen in der Vergangenheit oft im Schlepptau der USA und Europas enttäuscht wurden, hat in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung erfahren. Unser Autor skizziert die Politik, die diese Entwicklung in Abgrenzung zum neoliberalen Mainstream ermöglicht hat. Sowohl im wirtschaftlichen Bereich als auch im sozialen Sektor hat das »Land der Zukunft« trotz der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise große Erfolge zu verzeichnen. Seine regionale und globale Bedeutung wächst. Damit besitzt es viele Bündnisoptionen. Aber kann die neue Regierung überfällige Reformen im Inneren umsetzen?

 

Lulas Abschied

Zum Jahreswechsel gab Luiz Inácio »Lula« da Silva, laut Time der einflussreichste Politiker des Jahres 2010, das Präsidentenamt an seine Nachfolgerin Dilma Rousseff ab. Mit einer geradezu unglaublichen Zustimmungsrate von 86 Prozent zog sich Lula nach acht Jahren vom Amt, aber nicht aus der Politik zurück, denn »das wäre, wie wenn ich mit dem Essen und Atmen aufhören würde«, sagte der Politiker, der seit 1989 bei allen Präsidentschaftswahlen auf dem Stimmzettel stand. Davor hatte er sich beim Gipfeltreffen der G-20 in Südkorea und beim Gipfel des südamerikanischen MERCOSUR in Paraguay von seinen Amtskollegen verabschiedet. Dort war ihm der Applaus ebenso sicher wie bei der Abschiedstour durch das erst kürzlich von Drogenpistoleros gesäuberte Elendsviertel Do Alemao in Rio de Janeiro. Bis dahin hatte kein Präsident den Fuß in die von Gewalt und Elend geprägte Favela zu setzen gewagt. Lula besuchte noch ein Treffen von Abfallsammlern und ließ sich von einer freudestrahlenden Vertreterin derselben umarmen.

Diese aktuellen Schlaglichter kurz vor der Amtsübergabe illustrieren eindrucksvoll die Breite des politischen Spektrums, in dem Lula mit seiner Amtsführung Ansehen erwarb. Längst vergessen sind dagegen die Warnungen Washingtons und die massiven Spekulationsattacken gegen Börsen und Währung Brasiliens mit zeitweisen Einbrüchen um bis zu 50 Prozent im Jahre 2002, als Lula nach drei aufeinanderfolgenden Niederlagen erstmals die Wahlen gewonnen hatte. Als Reaktion auf dieses bedrohliche Aufbäumen der etablierten Mächte schrieb er damals seinen programmatischen «Brief an das brasilianische Volk«. Darin skizzierte er bereits die Zweigleisigkeit seines zukünftigen Vorgehens: Einerseits beruhigte er die Finanzanleger und Gläubiger, indem er ihnen die Einhaltung von »Verträgen und Verpflichtungen« zusicherte und andererseits machte er den Unterklassen Hoffnung, da er von »Veränderung«, »sozialer Gerechtigkeit« und einem sie »einschließenden Wirtschaftswachstum« sprach (Sao Paulo, 22.6.02).

Seine beiden Amtsperioden waren davon geprägt, dass es ihm gelang, den Spagat zwischen kapitalfreundlicher Politik einerseits und sozialen Versprechen andererseits zu meistern. Anhänger wie Frei Betto halten ihn deshalb für ein »politisches Genie«, obwohl sie weitergehende Reformakzente in puncto Agrarreform oder Verteilungsgerechtigkeit vermissen. Selbst skeptischere Beobachter gestehen zumindest zu, dass es Lula gelang, Brasilien aus dem Status des »Landes der Zukunft« (Stefan Zweig) mit immer wieder enttäuschten Hoffnungen in der Gegenwart zu lösen und hinzuführen zu einer potenten Regionalmacht mit globalen Ambitionen. Ein jährliches Wirtschaftswachstum von durchschnittlich über 5 Prozent (2010: 7,5 %), über 10,5 Millionen neue Stellen im formellen Arbeitsmarkt, Programme zur Armutsbekämpfung, die über 40 Millionen Menschen erreichen, und eine unabhängige Außenpolitik, die das Land in internationalen Foren und Gremien sowie im Zusammenspiel mit den anderen drei BRIC-Ländern zu seinem gesuchten Bündnispartner macht, kennzeichneten die beiden Amtsperioden unter Lula.

 

Dilmas Amtsantritt

Gegen viele Widerstände brachte Lula als Amtsnachfolgerin seine enge Vertraute Dilma Rousseff ins Rennen. An der Spitze einer buntscheckigen Mitte-links-Koalition, die von der linken Arbeiterpartei (PT) geführt wird und rechte Gruppierungen einschließt, setzte sie sich schließlich im zweiten Wahlgang durch. Selbst das kampagnenartige Getrommel der konservativen Massenmedien, die nacheinander ihre vermeintlich fehlende Eignung, ihre Krebserkrankung, ihre politische Vergangenheit und zuletzt noch ihr Eintreten für eine Abtreibungsreform ausschlachteten, zeigte nicht genug Wirkung. Die Tochter eines bulgarischen Kommunisten, 68erin, als Ex-Guerillera vom Militärregime drei Jahre inhaftiert und gefoltert, bevor sie in den 1970er-Jahren in die Parteipolitik ging und schließlich unter Lula Ministerin wurde, steht mit einem klaren Wahlsieg im Rücken (56 %) für Kontinuität. »Sie wird fortführen, was sie selbst mit aufgebaut hat«, schrieb Lula in seiner letzten Kolumne als Präsident. Mit den zwei wirtschaftlich und publizistisch lukrativen Großereignissen Fußballweltmeisterschaft (2014) und Olympische Spiele (2016) vor sich, hat Dilma Rousseff die einmalige Chance, die Erfolge des Lulismus auszubauen und dessen reformpolitische Schwächen in mehreren Politikfeldern anzugehen.

Aber was kennzeichnet den »Lulismus«? Handelt es sich bei der brasilianischen Reformvariante um eine Form personalistischer Politik, die dem Populismus zuzurechnen wäre, oder haben wir es vielmehr mit einer aktuellen Ausprägung einer »Sozialdemokratie des Südens« zu tun? Welche innen- und außenpolitischen Besonderheiten können im Vergleich zu vorhergegangenen Perioden im Land selbst und im Vergleich zu lateinamerikanischen Nachbarn hervorgehoben werden? Gibt es Gegenkräfte, wofür stehen diese und wie stark sind sie? Und schließlich: Welche Widersprüche und ungelösten Probleme schiebt der »Lulismus« vor sich her?

 

Wirtschaftliche Dynamik

Wie im Falle China ist auch bei Brasilien die dynamische wirtschaftliche Entwicklung Grundlage für die wachsende weltpolitische Bedeutung. Dabei galt Brasilien, mit 8,5 Millionen Quadratkilometer das fünftgrößte Land der Erde mit der fünftgrößten Bevölkerung (194 Millionen), trotz seiner gigantischen mineralischen und landwirtschaftlichen Ressourcen, seiner entwickelten Industrie und seines großen Binnenmarktes noch bis Mitte der 1990er-Jahre als ökonomischer Dauerbrandherd, in dem sich vielversprechende Boomphasen mit Finanzkrisen und Hyperinflation abwechselten. Die strikte, an neoliberalen Leitvorstellungen orientierte Konsolidierungspolitik von Lulas Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso legte die Grundlage für makroökonomische Stabilität. Lula behielt wesentliche Pfeiler wie die zurückhaltende Haushaltspolitik, die Hochzinspolitik, die Inflationsbekämpfung, die Förderung der Exporte, die Förderung der Agrarexportlandwirtschaft und die faktische Unabhängigkeit der Zentralbank bei. Dies brachte ihm die Zustimmung der Wall Street sowie der internationalen Finanzorganisationen ein. Hierauf nehmen auch die rechte Opposition Brasiliens sowie die pro-neoliberalen brasilianischen Massenmedien Bezug, wenn sie »Lulas Meriten darauf reduzieren, die Wirtschaftspolitik seines Vorgängers fortgeführt zu haben«, so Arturo Cano (La Jornada, 14.10.10). Diese Argumentationsfigur wird von konservativer und liberaler Seite immer wieder aufgegriffen und variiert, um so das Verdienst für die unerwartet positive Wirtschaftsentwicklung unter den beiden von der Arbeiterpartei gestellten Regierungen zu relativieren. So zitierte etwa die englische BBC anlässlich der Amtsübergabe »einige Experten«, wonach der »wirtschaftliche Aufschwung dem Wirken des vorherigen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso geschuldet ist und Lula lediglich die Früchte erntete« (BBCmundo, 27.12.10). Das englische Finanzmagazin Economist kommentierte nach Dilma Rousseffs Antrittsrede ähnlich.

Dabei wird regelmäßig »übersehen« oder richtiger: ausgeblendet, dass Lula weder die Wirtschafts- und noch viel weniger die Sozialpolitik seines rechtsliberalen Vorgängers einfach fortführte. Entscheidend für den Erfolg scheint vielmehr zu sein, dass er diese in wichtigen Aspekten mit einer Reihe neuer Maßnahmen modifizierte. Wohl wurde in der Haushalts- und Finanzpolitik ein ähnlich zurückhaltender Kurs beibehalten, wie ihn sein Vorgänger pflegte. In der Wirtschafts-, Sozial- und Strukturpolitik wurden jedoch ebenso neue Akzente gesetzt wie in der Außenpolitik. So wurde auf Druck der Gewerkschaften und des linken Flügels der Arbeiterpartei (PT) die unter den Vorgängern begonnene Privatisierung der Staatsunternehmen gestoppt. Vor allem in der zweiten Amtsperiode wurde die Rolle des Staates in der Wirtschaft sogar wieder ausgebaut, insbesondere im Bereich der Infrastrukturentwicklung sowie beim Ölkonzern PETROBRAS, einem der größten weltweit. In diesem Fall wurde durch die letzte Kapitalerhöhung im vergangenen Dezember, bis zu diesem Zeitpunkt die größte überhaupt, der Staatsanteil wieder auf etwa 50 Prozent erhöht. Ein weiteres neu geschaffenes Staatsunternehmen wird mit der Förderung der vor zwei Jahren entdeckten Erdöl- und Erdgasvorkommen vor der brasilianischen Südküste betraut. Die staatliche Entwicklungsbank BNDES, dessen Kapital zu einem Teil von gewerkschaftskontrollierten Pensionsfonds gespeist wird, baute man zur Drehscheibe der Staatsintervention in die Wirtschaft aus. Die BNDES, mittlerweile die größte Entwicklungsbank der Welt, finanzierte zwei »Wachstumsbeschleunigungsprogramme« (PAC I und II) mit einem Gesamtvolumen von etwa 380 Milliarden Euro allein zwischen 2007 und 2010; des Weiteren Konjunktur- und Investitionsförderprogramme sowie die Bildung und Stärkung von schlagkräftigen transnationalen Konzernen, den Multilatinas.

Kurzum: Das neoliberale Credo Cardosos von der fortzuführenden Entstaatlichung der Wirtschaft wurde eben nicht vollumfänglich übernommen, sondern vielmehr in entscheidenden Aspekten variiert oder durch staatsinterventionistische Maßnahmen konterkariert. Das – ähnlich wie in China oder Indien – signifikant hohe Maß an staatlicher Regelung des Finanzsektors hat denn auch verhindert, dass Brasilien von der internationalen Finanzkrise im Herbst 2008 unmittelbar erfasst worden wäre. Die brasilianischen Großbanken und Versicherungen kamen ungeschoren davon. Die vom Staat zur Bekämpfung des Wirtschaftsabschwungs eingesetzten Mittel konnten demzufolge in Infrastrukturentwicklung, Konsum und Produktion fließen und nicht in die Kassen transnationaler Finanzkonsortien. Brasilien wurde als »Letzter in die Wirtschaftskrise hineingezogen und kam als erster wieder heraus«, bilanzierte der Economist. Ganz anders die zweite große Wirtschaftsmacht Lateinamerikas, Mexiko. Dessen monopolisiertes und transnationalisiertes Finanzsystem ächzte unter den dramatischen Krisenfolgen und dessen via NAFTA-Freihandelsabkommen direkt und einseitig an die USA und Kanada angekoppelte Wirtschaft wies in der Krise die schlechteste Performance in ganz Lateinamerika auf (BIP 2009: -7,5 %).

Maßgeblichen Anteil am Wirtschaftserfolg Brasiliens hat die erfolgreiche Diversifizierung der Exportmärkte über die traditionell engen Verbindungen mit den USA und Europa hinaus: Erstens in Richtung der unmittelbaren Nachbarn, die wie Brasilien der südamerikanischen Freihandelszone MERCOSUR angehören (ca. 20 % des Handels); zweitens der im letzten Jahrzehnt exorbitant gewachsene Handel mit Asien und hier vor allem mit China, das mittlerweile größter Handelspartner des Landes ist (ca. 20 %) sowie neuen Märkten in Afrika, im arabischen Raum sowie in Russland und Indien. Der Warenaustausch China/Lateinamerika schnellte zwischen 2000 und 2008 jährlich um 30 Prozent hoch. Bis 2020 nimmt die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika CEPAL durchschnittliche Wachstumsraten von15 Prozent an. 2009 hatte der Warenaustausch zwischen Brasilien (v. a. Soja, Eisenerz, Öl, Flugzeuge) und China (v. a. Konsumgüter, Elektronik) ein Volumen von etwa 36 Milliarden US-Dollar. Die massive Ausweitung des Asienhandels diente Brasilien wie dem gesamten MERCOSUR als lukrative Devisenquelle und pufferte die Folgen der Weltfinanzkrise ab. Als Bezugsquelle für Rohstoffe und Nahrungsmittel sowie als Absatzmarkt für die eigenen Fertigwaren wird Brasilien für China weiter an Bedeutung gewinnen. Die Kehrseite des brasilianischen Exportbooms bei Rohstoffen und Agrargütern: Der Primärgüteranteil am Export stieg von 23 im Jahr 2000 auf derzeit 43 Prozent. In derselben Zeit sank der Anteil der verarbeiteten Güter. Da Rohstoffe aufgrund spekulativer Praktiken auf dem Weltmarkt starken Preisschwankungen unterworfen sind, können die derzeit hohen Deviseneinnahmen nicht einfach linear fortgeschrieben werden. In puncto Außenhandelsstruktur bleibt das Land also verwundbar. Zudem betreibt es ökologischen Raubbau, um neue Flächen für Agrarexporte (v. a. Soja und Agro-Treibstoffe) zu gewinnen.

Trotz dieser negativen Begleiteffekte ist die systematische und von einer aktiven Außen- und Außenhandelspolitik vorangetriebene Diversifizierung des Exports neben der staatlichen Kontrolle des Finanzsektors ein zweites Merkmal, das Brasilien von Mexiko mit seinem strikt neoliberalen Weg unterscheidet. Als drittes Merkmal ist die erhebliche Ausweitung des Binnenmarktes durch die Stärkung der Kaufkraft benachteiligter Bevölkerungsschichten zu erwähnen. Die drei genannten Merkmale stellen Spezifika von Lulas Amtszeiten dar.

 

Soziale Integration

In ihrer Rede anlässlich des Amtsantritts hob Dilma Rousseff die sozialpolitischen Erfolge ihres Vorgängers hervor, die eine hohe soziale Mobilität ausgelöst hatten. Sie versprach die Ausgaben für die wichtigsten Anti-Armutsprogramme »Bolsa Familia« und »Null Hunger« weiter zu erhöhen, um so dem erklärten Ziel ihrer Amtszeit näher zu kommen, »die Armut auszurotten«.

Regelmäßige und deutlich über der jährlichen Inflationsrate liegende Erhöhungen des Mindestlohnes, die Schaffung von über 10,5 Millionen neuen Arbeitsplätzen in der formellen Ökonomie sowie breit aufgestellte Sozial- und Hilfsprogramme, die im Fall der »Bolsa Familia« 12,7 Millionen Haushalten (ca. 45 Millionen Menschen) ein gesichertes, wenn auch geringes Minimaleinkommen garantieren, erhöhten die Massenkaufkraft spürbar. Die Folge: die Rate der Armen (Definitionskriterium: ein Monatseinkommen von weniger als 82 US-Dollar) und jene der Hilfsbedürftigen (Monatseinkommen von weniger als 41 US-Dollar) sank zwischen 2001und 2008 nach Angaben des brasilianischen Sozialministeriums von 33,3 auf 15,5 Prozent. Das sind noch etwa 30 Millionen Menschen. Im Armenhaus des Landes, im Nordosten, wirkten sich die staatlichen Sozialtransfers besonders deutlich aus. Je nach Gegend leben dort zwischen einem Viertel und einem Drittel der Bevölkerung zu einem erheblichen Teil von staatlichen Hilfen. Es ist nicht verwunderlich, dass es der linken PT mittlerweile gelingt, in diesen traditionell von autoritär-konservativen Caudillos kontrollierten Regionen mit ihren etwa 60 Millionen Wählerinnen und Wählern besonders deutliche Stimmenzuwächse zu erzielen. Hier gewann Dilma Rousseff die Wahl.

Unter Präsident Lula wurde jedoch nicht nur die Armut gemildert, wenngleich die Sozialpolitik besonders auf diese Bevölkerungsgruppen zugeschnitten war, es stiegen auch Millionen Menschen in die unteren Segmente der Mittelschichten auf. Etwa 24 Millionen ließen die städtischen Favelas hinter sich und zogen in neue, von Krediten und/oder sozialem Wohnungsbau geförderte Wohnungen. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt heute bei über 1000 Real (ca. 450 Euro), und etwa die Hälfte der Bevölkerung wird zu den Mittelschichten gerechnet. Die englische BBC (27.12.10) zitiert in ihrer Zusammenfassung von Lulas Amtszeit stellvertretend eine Frau aus dem Nordosten: »Ich kann jetzt Medikamente kaufen. Ich verdiene den Mindestlohn in Höhe von 295 US-Dollars und konnte aber doch einen Computer und eine Waschmaschine kaufen Für viele Millionen sind nun erstmals in ihrem Leben langlebige Konsumgüter in Reichweite, die sie bis dahin nur aus Telenovelas kannten. Entgegen dem langjährigen neoliberalen Trend, der die Ausschließung immer größerer Bevölkerungsgruppen aus der formellen Ökonomie sowie aus sozialen Sicherungssystemen zur Folge hatte, setzte Lulas Politik auf soziale Inklusion. Entsprechende Programme und Institutionen wurden ausgebaut. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Maßnahmen über 20 Millionen Menschen aus der Armut holten, besteht die strukturelle soziale Ungleichheit jedoch fort. Die reichsten zehn Prozent erzielen die Hälfte des Gesamteinkommens, während die arme Hälfte sich mit zehn Prozent begnügen muss.

Was den Landbesitz anbetrifft, verfügen 46.000 Eigentümer über die Hälfte des Bodens. Die Hälfte der Bevölkerung dagegen hat nur drei Prozent der Agrarfläche et cetera. Die Landlosenbewegung MST, die stärkste soziale Bewegung Lateinamerikas und enge Verbündete der regierenden Arbeiterpartei (PT), forderte bislang vergeblich eine Agrarreform, die diese Ungleichheiten aufbricht. Lula optierte stattdessen für ein enges Bündnis mit dem devisenträchtigen Agrarexportkapital, das diese Reform strikt ablehnt. Die Grenzen der Sozialpolitik sind somit eng gezogen. An diesem Punkt setzt die linke Kritik der Landlosenbewegung, klassenkämpferischer Gewerkschaften, kleinerer Linksparteien und Intellektueller an.

Unter Beachtung der historischen, strukturellen und sozioökonomischen Besonderheiten erinnert Lulas Wirtschafts- und Sozialpolitik an klassisch sozialdemokratische Konzepte: Ohne die herrschenden und in Brasilien extrem polarisierten Eigentumsverhältnisse infrage zu stellen, wurden die Rolle des Staates in der Wirtschaft und die Staatsfunktionen generell gestärkt, das Wirtschaftswachstum stimuliert, ein Teil des Mehrproduktes über Steuern eingezogen und in Form von Sozialprogrammen für die soziale Sicherheit bislang ausgeschlossener Bevölkerungsschichten verwendet. Es ist diese spezifische Mischung aus kapitalfreundlicher Wachstumspolitik und expansiver Sozialpolitik, die quer durch die Bevölkerung breite Unterstützung findet und die Grundlage ist für Brasiliens stürmischen Aufstieg in den letzten Jahren.

Diese Politik ist struktureller Natur, sie gründet auf einer entsprechenden Programmatik und ihre Protagonisten finden sich vor allem in der Arbeiterpartei, dem Gewerkschaften und den mit ihnen verbündeten Teilen der urbanen Mittelschichten. Regionale Caudillos, mitunter zweifelhafte Figuren, dienen als Verbündete und sichern Parlamentsmehrheiten. Lula bündelte diese Kräfte acht Jahre lang und galt als Personifizierung dieses Kurses, deshalb wird in Brasilien in Anspielung daran von »Lulismus« gesprochen. Dennoch handelt es sich nicht um eine populistische Variante, da sie letztlich von Personen unabhängig ist. Der Rückzug Lulas vom Amt, sein Verzicht auf den Versuch, die Verfassung zu ändern, die bedeutende Rolle der Arbeiterpartei und ihrer Bündnispolitik sowie die Nominierung einer vorher weitgehend unbekannten, wenig charismatischen Nachfolgerin sind deutliche Hinweise darauf. Die Heterogenität der sozialen Basis, die im Vergleich mit den Metropolen relative Schwäche der Arbeiterbewegung sowie die bisher untergeordnete Rolle des Landes im Weltsystem unterscheiden die Regierungen der Arbeiterpartei (PT) Brasiliens von der europäischen Sozialdemokratie. Insofern scheint es angemessen, von einer »Sozialdemokratie des Südens« zu sprechen.

 

Multilaterale Außenpolitik

Bedingt durch die geografische Lage in der westlichen Hemisphäre ist das Verhältnis zu den USA der Dreh- und Angelpunkt brasilianischer Außenpolitik. In Zeiten der Blockkonfrontation und der Bekämpfung des »inneren Feindes« im Rahmen der länderübergreifenden antikommunistischen Containment-Politik ordnete sich das in jener Zeit von Militärs regierte Brasilien der US-Führung unter, wenngleich es in der Atompolitik ernsthafte Differenzen gab. Parallel zur politischen Öffnung in den 1980er-Jahren, vorangetrieben von den Gründern der heute regierenden Arbeiterpartei, wurden die Handelskonflikte offener ausgetragen. Die ideologisch affinen Regierungen Clinton und Cardoso arbeiteten in den 1990er-Jahren auf allen Gebieten sehr eng zusammen, das heißt, Brasilien begnügte sich wieder mit seiner subalternen Rolle.

Die kriegerische Außenpolitik der zwei Regierungen von George W. Bush markierte einen Wendepunkt. Ohne offen auf Konfrontation zu gehen, setzte sich Brasilien unter Lula deutlich von den US-Vorgaben ab. Während Außenminister Celso Amorim und Condoleezza Rice auf regelmäßigen Gipfeltreffen unverbindliche Freundlichkeiten austauschten, gab es neben handelspolitischen Konflikten auch über Grundfragen der internationalen Politik tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten. So weigerte sich Brasilien beispielsweise, Bushs »Koalition der Willigen« beizutreten und im Irak mit in den Krieg zu ziehen. Vielmehr trat Brasiliens Außenminister sowohl hinsichtlich des Irak wie auch im Falle Afghanistans für eine Verhandlungslösung ein. In Sachen »Amerikanische Freihandelszone« (ALCA), dem wichtigsten Vorhaben der USA in Lateinamerika, brach Lulas Regierung mit der Politik seines rechtsliberalen Vorgängers. Im Einvernehmen mit Argentiniens Mitte-links-Regierung und Präsident Chávez sowie unter dem Beifall der globalisierungskritischen Bewegungen wurde das Projekt ALCA 2005 gekippt.

Hier wurde ein lateinamerikanisches Bündnis geknüpft zwischen den radikalreformerischen Staaten um Venezuela und den Staaten, die von Mitte-links-Regierungen geführt werden – mit Brasilien und Argentinien an der Spitze. Dieses nicht formalisierte Bündnis basiert auf den Prinzipien der Nichteinmischung und der gegenseitigen Akzeptanz unterschiedlicher Reformwege. Es richtet sich gegen alle Versuche, Reformoptionen mit Gewalt abzuwürgen. Da die Gegenreformer des Subkontinents mit den Speerspitzen Kolumbien und Mexiko sich bündnispolitisch auf die USA stützen, impliziert dieses Bündnis, das sich ad-hoc zu den verschiedensten Anlässen immer wieder herstellt, eine mehr oder weniger deutliche Kritik an der US-Außenpolitik. Die bolivarianische Achse um Venezuela, Bolivien und Ecuador wäre ohne den politischen Beistand aus Brasilien in Lateinamerika relativ isoliert und damit rechten Attacken ausgeliefert. Brasilien hat Präsident Chávez bereits 2003 mit Erdöllieferungen und Technikern des Staatskonzerns PETROBRAS geholfen, die Folgen des Ölstreiks zu überstehen. Danach hat sich Lula immer wieder hinter Chávez gestellt, wenn vonseiten der USA und ihrer Verbündeten seine demokratische Legitimität infrage gestellt wurde. Die US-Isolationsstrategie gegenüber Kuba wurde ausgehebelt. Als Boliviens Präsident Morales 2008 von gewalttätigen Separatisten in die Enge getrieben wurde hat sich Brasilien im entscheidenden Moment ebenso für ihn stark gemacht wie für Präsident Correa beim jüngsten Putschversuch von Polizeikräften in Ecuador. Im Falle des zivil-militärischen Staatsstreichs in Honduras stellte sich Brasilien wie Venezuela auf die Seite des weggeputschten Präsidenten Zelaya, öffnete ihm monatelang seine Botschaft und weigerte sich, die derzeitige illegitime Regierung Lobo anzuerkennen. Auch dies im Gegensatz zu Hillary Clintons Außenpolitik sowie der EU. Weitere Konfliktpunkte waren das Militärabkommen mit Kolumbien, das den USA die Nutzung von sieben Militärstützpunkten einräumt, sowie die Reaktivierung der IV. US-Flotte vor den Küsten Lateinamerikas. Linke Analytiker wie Raúl Zibechi interpretierten dies primär als Schritte zur Einkreisung Amazoniens. Dies wird sowohl von der Politik wie auch dem Militär Brasiliens für eine »wahrscheinliche Quelle künftiger Gefahren für die nationale Sicherheit« gehalten. Brasilien versucht diesen zu begegnen, indem es seine Rüstungsanstrengungen vor allem im strategischen Bereich (Marine, Luftwaffe) intensiviert. Es traf mit Russland sowie mit Frankreich umfangreiche Vereinbarungen, um militärische Hochtechnologie zu erwerben, darunter ein atomgetriebenes U-Boot. Mit dem damit verbundenen Technologietransfer, den konkurrierende US-Offerten abgelehnt hatten, soll die Autonomie der brasilianischen Rüstungsindustrie gestärkt werden.

In den vier BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China zusammen leben auf einem Viertel der Erdoberfläche 40 Prozent der Weltbevölkerung, die gegenwärtig ein Viertel des Weltbruttosozialproduktes produzieren und knapp 13 Prozent des Welthandels abwickeln. Brasilien ist das BRIC-Mitglied mit den vergleichsweise besten Bedingungen. Anders als Russland, Indien oder China ist es weder in zwischenstaatliche noch innerstaatliche Konflikte verwickelt. Es gibt keine separatistischen Bestrebungen oder religiösen Konflikte und keine weltpolitischen Spannungen, die sich direkt auf das Land auswirken könnten. Das politische System und das Selbstverständnis der politischen und wirtschaftlichen Eliten sind unserem ähnlich, anders als etwa im Falle Chinas. Die BRIC-Staaten haben ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit untereinander ausgeweitet, sodass ihre Allianz über ein gefestigtes Fundament verfügt. Mit Lateinamerika und hier insbesondere mit ihrem wichtigsten Partner Brasilien wuchs der Handel besonders stark. Die zunehmende chinesische Präsenz in Lateinamerika wird von der US-Außenpolitik mit großer Sorge beobachtet. China hält sich in Lateinamerika politisch jedoch sehr zurück, um die aus seiner Sicht prioritären Beziehungen mit den USA nicht unnötig zu belasten. Aus Sicht Brasiliens ist China insofern ein problemloser Partner, als die wirtschaftlichen Verflechtungen keine politische Einflussnahme nach sich ziehen.

Nach dem Niedergang der Sonderbeziehung zu Kuba in den 1990er-Jahren weitete Russland in den letzten Jahren seine Kontakte zu Lateinamerika allgemein und Brasilien im Besonderen stark aus. Der Schwerpunkt des Handels mit einem Gesamtvolumen von 16 Milliarden US-Dollar (2008) liegt nicht mehr bei Kuba (1,7 %) oder Venezuela (6 %) sondern mit 40 Prozent vielmehr bei Brasilien. Konventionelle Waffen, Kraftwerke und chemische Erzeugnisse gehören zu den wichtigsten Exportgütern, die Russland in ganz Lateinamerika verkauft. Unter den etwa 200 Kooperationsabkommen, die Russland seit dem Jahr 2000 mit Lateinamerika unterzeichnete sind auch eine Reihe technisch-militärischer Abkommen, die als Rahmenverträge zur Abwicklung der Rüstungsgeschäfte dienen.

Im Vergleich dazu hinkt die Beziehung mit Indien noch weit hinterher, nicht zuletzt wegen hoher Zölle beider Seiten. Der Handelsaustausch Indien/Lateinamerika, wiederum mit Schwerpunkt Brasilien, hatte 2008 ein Gesamtvolumen von 19 Milliarden US-Dollar und machte damit weniger als ein Prozent des lateinamerikanischen Handels aus. Jedoch wurden erste Abkommen im Rahmen der IBSA-Gruppe (Indien, Brasilien, Südafrika) unterzeichnet und einer aktuellen Studie der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) zufolge hat »Indien das Potenzial, die Funktion einzunehmen, die bisher China in den lateinamerikanischen Ökonomien reserviert war«.

 

MERCOSUR und Süd-Süd-Kooperation

Seit den 1990er-Jahren hat sich Brasilien, traditionell auf die USA und Europa ausgerichtet, verstärkt Lateinamerika zugewandt und im Rahmen der südamerikanischen Wirtschaftsunion MERCOSUR vor allem den Austausch mit seinem direkten Nachbarn Argentinien erheblich gesteigert. Dies ist, so Lulas Außenminister Celso Amorim, »die Basis für die neue Außenpolitik«. Der Handel Brasiliens in der Region stieg von bescheidenen 10 Prozent auf heute etwa ein Viertel. Dies wiegt umso mehr, als dabei der Anteil von Industrieprodukten 90 Prozent ausmacht. Dem MERCOSUR gehören neben Brasilien Argentinien, Uruguay und Paraguay an. Venezuela hat den Beitritt unterzeichnet, die formelle Aufnahme steht jedoch wegen des anhaltenden Widerstands rechter Parlamentsfraktionen in Brasilien und Paraguay noch aus. Mit weiteren Kandidaten ist man im Gespräch. Der MERCOSUR umfasst gut die Hälfte der Fläche Lateinamerikas mit knapp der Hälfte der Bevölkerung. Der MERCOSUR ist von erheblichen Asymmetrien gekennzeichnet, mit dem dominierenden Brasilien und zwei kleinen Mitgliedern, Uruguay und Paraguay. Diese gerieten in den letzten Jahren zunehmend in den Einflussbereich brasilianischer Mulitlatinas, sodass die Diskussion darüber, ob Brasilien sich in der Region einen »eigenen Hinterhof« schafft und gegenüber diesen Ländern als »subimperialistische Macht« (Mauro Marini) auftritt, neu aufflammte.

Tatsache ist, dass 50 Prozent der Fleisch- und 40 Prozent der Reisproduktion in Uruguay in der Hand brasilianischer Hersteller sind oder 80 Prozent der Sojaproduktion Paraguays, dem Hauptexportgut, von Brasiguayos, also immigrierten Brasilianern, kontrolliert werden. Von den zehn größten exportorientierten Unternehmen Uruguays sind fünf brasilianisch, 20 Prozent des bebauten Landes in Paraguay, vorwiegend in Grenzgebieten, sollen bereits brasilianische Eigentümer haben, 20 Prozent des Bruttosozialproduktes Boliviens wird von brasilianischen Konzernen erwirtschaftet. Mit Lulas Amtsantritt begann die rasche Expansion brasilianischen Kapitals in die Nachbarländer. Brasilianische Direktinvestitionen sprangen von 250 Millionen US-Dollar (2003) auf zehn Milliarden US-Dollar im Folgejahr. Dass diese Dynamik Widerstände, Abwehrreaktionen und mitunter schrille Debatten auslöst, sollte nicht verwundern.

Da es MERCOSUR-Mitgliedern untersagt ist, mit Drittstaaten Freihandelsabkommen abzuschließen, und da es nicht gelang, die Agrar- und Industriepolitik zum Vorteil aller Mitglieder zu harmonisieren, gibt es besonders bei den kleinen Partnern Uruguay und Paraguay periodisch Diskussionen darüber, ob es nicht besser sei, aus dem Verbund wieder auszutreten. In Paraguays durchwegs rechtskonservativen Massenmedien wie der führenden Tageszeitung ABC Color werden ständig Breitseiten gegen den MERCOSUR und den »brasilianischen Imperialismus« abgefeuert. Demgegenüber stehen neue Ansätze der politischen Zusammenarbeit in Gremien wie der südamerikanischen Staatengemeinschaft UNASUR, der Bank des Südens oder dem Südamerikanischen Verteidigungsrat. Nicht zuletzt auf brasilianische Initiative und auch zu dessen Vorteil hat sich die Zusammenarbeit der Länder Südamerikas stark intensiviert. Diese Tendenz sollte weiter anhalten, da es für keinen der Beteiligten dazu eine attraktive Alternative gibt.

Neben den BRIC-Staaten und dem MERCOSUR ist die Süd-Süd-Kooperation mit Afrika und dem Nahen Osten eine dritte, dynamisch wachsende Option. Dabei handelt es sich in allererster Linie um Marktbeziehungen, Hilfsprojekte sind demgegenüber nachrangig. Intensive diplomatische Bemühungen und eine rege Wirtschaftskooperation bewirkten, dass sich der Afrikahandel kurz vor Amtsantritt Lulas bis 2008 von fünf Milliarden US-Dollar auf 26 Milliarden verfünffachte. Lula besuchte 27 afrikanische Staaten, mehr als alle Präsidenten Brasiliens zusammen. In seinem Gefolge befanden sich regelmäßig Vertreter der Multilatinas, etwa des Rohstoffkonzerns Vale do Rio Doce, des Baukonzerns Odebrecht oder der Banken Bradesco, BNDES oder Banco do Brasil. Zusammen mit portugiesischen Partnern wollen sie die wachsenden Süd-Süd-Wirtschaftsbeziehungen finanzieren, unter »Umgehung der Finanzzentren New York und London«. »Afrika ist nicht länger ein Problemkontinent und verwandelt sich immer mehr in einen Kontinent der Möglichkeiten«, so Außenminister Amorim. Dass man in der Gegenwart etwa im Bausektor Angolas oder bei der Suche nach Partnern im Rohstoffgeschäft mit dem in Afrika ebenfalls sehr aktiven BRIC-Partner China in einem harten Wettbewerb steht, lässt sich nicht vermeiden. Gipfeltreffen mit afrikanischen (ASA) und arabischen Ländern (ASPA) sowie ein engerer Dialog mit Südafrika und Indien, ebenfalls große, bevölkerungsreiche und multikulturelle Demokratien, sollen die Wirtschaftsbeziehungen überwölben.

 

Ausbau der Reformen?

In Brasilien wie auch in den südamerikanischen Nachbarländern, die von national-populären, linken oder linksliberalen Präsidenten regiert werden, besteht ein enger Zusammenhang zwischen innenpolitischen Reformen und der Neuausrichtung der Außenpolitik in Richtung verstärkter regionaler Integration, Ausbau der Süd-Süd-Beziehungen, Multipolarität und Verhandlungslösungen internationaler Konflikte. Während die Reformer unterschiedlicher Schattierungen für eine »zweite Unabhängigkeit« Lateinamerikas kämpfen, stehen die neoliberalen und gegenreformerischen Parteien für die weitgehend kritiklose Unterordnung unter die Vorgaben und Interessen von USA und EU. Die konkreten Kräftekonstellationen variieren von Land zu Land. Allerdings ähneln sie sich insofern, als in der Regel sowohl Reformer wie auch Gegenreformer über eine nennenswerte Anhängerschaft verfügen. Programmatische Inkonsistenzen, politisch-praktische Schwächen oder Fehlentscheidungen der Reformer können in kurzer Frist zur Stärkung des Gegenreformlagers führen. Dies umso mehr, als die Massenmedien weitestgehend in den Händen der Gegenreformer sind. Desgleichen erhebliche Teile der Wirtschaftsmacht.

Auf der anderen Seite stehen hohe Reformerwartungen der verarmten Bevölkerungsschichten, sozialer Bewegungen sowie kleinerer Linksgruppierungen, was punktuell zu heftigen Konflikten mit den Reformregierungen führen kann, etwa bei Preiserhöhungen, Agrar-, Bildungs- und Gesundheitsreformen oder bei Umweltproblemen. Weitere Konflikte sind vorprogrammiert bei den Themen Korruption, öffentliche Sicherheit und eng damit zusammenhängend dem Kampf gegen die Drogenmafia. So ergeben sich immer wieder quer zu den politischen Lagern liegende Konfliktlinien, die sich in Brasilien (ähnlich auch in Kolumbien) in vergleichsweise erfolgreichen Präsidentschaftskandidaturen (ca. 20 %) »grüner« Politikerinnen manifestieren. Diese scharten als Persönlichkeiten urbane Mittelschichten um sich, konnten jedoch bislang in keinem einzigen Fall ein kohärentes politisches Projekt entwickeln. Demzufolge blieb auch die Parlamentspräsenz grüner Parteien durchwegs schwach.

Mit dem Wahlsieg von Dilma Rousseff und der Arbeiterpartei in Brasilien und dem Erfolg der Chavisten bei den Parlamentswahlen vom September in Venezuela wurden für den ganzen Subkontinent wichtige Weichen gestellt. Brasilien garantiert mit seiner wirtschaftlichen und politischen Macht und Venezuela mit Zuschüssen aus Ölgeldern, dass in kleineren, von linken Präsidenten regierten Ländern wie etwa Ecuador oder Bolivien weiterhin neue Modelle ausprobiert werden können, ohne dass diese in kürzester Frist per Putsch oder Bürgerkriegsszenarien zum Scheitern gebracht werden, wie dies in den letzten Jahrzehnten so häufig der Fall war. Darüber hinaus spielt Brasilien womöglich in den kommenden Jahren auch weltweit eine wichtige Rolle bei der Herausbildung neuer Bündniskonstellationen, welche den Unilateralismus der USA durch einen neuen Multilateralismus ablösen könnten. Das sind »Signale der Hoffnung«, die Boaventura de Sousa Santos in seiner Analyse des brasilianischen Wahlergebnisses ausmachte. Dem gegenüber stehen die extreme soziale Ungleichheit, die fortgesetzte Zerstörung Amazoniens, die blockierte Agrarreform, Korruption und Gewalt der Drogenmafias sowie längst überfällige Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen. Dilma Rousseff tritt mit einem starken Mandat an. Die nächsten zwei, drei Jahre müssen zeigen, ob es ihrer Regierung gelingt, die Ankündigungen umzusetzen und den Reformprozess zu vertiefen. So oder so ist das Ergebnis weit über Brasilien hinaus von Relevanz.

 

Quellen

Celso Amorim: »Un nueva mapa del mundo«, in: El Universo, 31.8.10

Aluisio Alves, Elzio Barreto: »Brazil’s state bank, partner push into Africa«, Reuters, 10.8.10

Peter Birle, Susanne Gratius: »Die Außenpolitik«, in: Costa, Sérgio u. a.: Brasilien heute, Frankfurt am Main 2010, S. 314

Boaventura de Sousa Santos: »Senales de esperanza«, in: www.pagina13.org.br/?p=4904

Silvio Caccia Bava u. a.: »Brasil, un gigante que por fin despierta«, in: Le monde diplomatique, Madrid 10/10

Romer Cornejo, Abraham Navarro García: »China y América Latina: recursos, mercados y poder global«, in: Nueva Sociedad No. 228, Caracas julio-agosto 2010, S. 90

Alessandra Correa: »India puede ser ›la nueva China‹ para América Latina«, in: BBC mundo, 1.8.10

Sergio Costa u. a.: Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt am Main 2010

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In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 1/2011