Balduin Winter

 

Süd-Sudan, Staat Nummer 193

 

 

 

Viel Dunkles und Rückständiges wird mit dem »schwarzen Kontinent« assoziiert. Rankings wie jenes von failed states für 2009 des »Fund for Peace« (USA) tragen dazu bei. Gleich fünf afrikanische Staaten nehmen die Spitzenplätze ein: Somalia, Zimbabwe, Sudan, Tschad und die DR Kongo, 22 der 53 Staaten des Kontinents werden in die »Alarmzone« eingereiht. Die Kriterien sind aufrichtig westlich definiert. »Aber diese Wahrnehmung basiert auf Afrikas verkommensten Regimes und ist unfair und irreführend«, meint Mo Ibrahim, ein erfolgreicher britisch-sudanesischer Mobilfunkunternehmer, dessen Stiftung politische und wirtschaftliche Entwicklungsprozesse in Afrika untersucht und Preise für Good Governance vergibt. Ibrahim bestreitet nicht die Existenz labiler Staatlichkeit und die hohe Militanz in und zwischen den Staaten. Er spielt auch nicht die Kolonialismus-Karte, wenngleich er die diversen »westlichen Hinterlassenschaften« kritisch bewertet. Diese wolle er jedoch positiv umgesetzt wissen: »Sudan war ein Experiment, das in ganz Afrika Anklang fand. Wenn wir, das größte Land auf dem Kontinent, das von der Sahara bis zum Kongo reicht, Religionen, Kulturen und eine Menge Ethnien überbrückt, in der Lage gewesen wären, einen wohlhabenden und ruhigen Staat unserer verschiedenen Bürgerschaften zu konstruieren, so könnte das auch dem Rest von Afrika gelingen (Financial Times, 6.1.11)

Der Sudan ist bunt, bewohnt von vielen Völkern mit weit über 100 Sprachen, gemeinhin eingeteilt in 40 Prozent »Araber« und 60 Prozent Schwarzafrikaner, der Religion nach in 70 Prozent sunnitische Muslime und 30 Prozent Christen und Naturreligionen. Von der komplizierten Gemengelage wird noch die Rede sein. Mo Ibrahim zieht, mit deutlicher Kritik am Regime des Präsidenten Omar al-Bashir, ein skeptisches Resümee: »Dass wir gescheitert sind, sollte eine Warnung an alle Afrikaner sein. Sudan mit zweieinhalb Millionen Quadratkilometern ist das größte Land des Kontinents und grenzt an neun andere Staaten. Die Verwerfungslinien unserer Trennung werden sich von Eritrea nach Nigeria verlängern. Wenn der Sudan zu zerbröckeln beginnt, verbreitern sich die Stoßwellen

Tatsächlich ist die Zone zwischen dem Horn von Afrika und dem Golf von Guinea, zwischen der Sahara und den Seen eine globale neuralgische Zone, auch wenn es sich vordergründig um regionale Krisenherde zu handeln scheint. Tatsächlich lassen sich viele katastrophische Fakten aus Vergangenheit und jüngster Gegenwart auf diese seit dem Zweiten Weltkrieg blutigste Zone häufen – der Bürgerkrieg im Sudan seit seiner Unabhängigkeit 1956 mit einer Unterbrechung zwischen 1972 und 1983 mit 2,5 Millionen Opfern, der Genozid in Ruanda 1994, der »afrikanische Weltkrieg« 1996–2003 in Zentralafrika mit 5,4 Millionen Toten und dazu der Dauerkonflikt am Horn von Afrika. Tatsächlich sind die Voraussetzungen zum Start für den neuen Staat – aller Voraussicht nach fällt das Votum für die Unabhängigkeit des Süd-Sudan aus – schlecht: Der Süden hat zwar Öl, Vieh, Weiden, Wasser und vermutlich einige Bodenschätze, doch 90 Prozent der 8,8 Millionen Menschen müssen mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen, 33 Prozent leiden an chronischem Hunger, 85 Prozent der Erwachsenen sind Analphabeten, es fehlt an Infrastruktur, Schulen und Jobs (nach Economist, 22.11.10). 40 Prozent des Haushalts, nämlich zwei Milliarden Euro, werden für Militär und Polizei, jedoch nur 15 Prozent für Bildung und Gesundheit ausgegeben (NZZ, 27.12.10).

 

Die Afrikanische Union (AU) und ihre Vorgängerin, die OAU, waren lange Zeit bedacht, Sezessionen zu verhindern. Nigerias Biafra und Kongos Katanga waren zu niederschmetternde Erfahrungen, als dass man die »Patchwork-Steppdecke von afrikanischen Ländern, zufällig zusammengenäht in wenigen Generationen durch die Kolonialmächte, in Fetzen zerreißen lässt, wenn ein großer Stamm nach Freiheit verlangt« (Economist, 6.1.11). Doch haben sich heute die Rahmenbedingungen verändert. Als »große Ironie der Geschichte« bezeichnet Ethan B. Kapstein in der Foreign AffairsAfrica’s Capitalist Revolution«, Juli/Aug. 2009), dass »Afrika die gegenwärtige globale Rezession als die einzige Region in der Welt gut durchstanden hat«. Er spricht von einer »eindrucksvollen Erfolgsgeschichte während der letzten Dekade«. In zentralen Sektoren wie Investitionen, Industrie, Handel, Banken, Börsen habe ein Aufholprozess stattgefunden, dass man von einer »kapitalistischen Revolution« sprechen kann. Er übersieht nicht die Regierungsprobleme und die Misslagen breiter Kreise der Bevölkerungen; doch meint er, alle Indikatoren sprechen für ein »Verdämmern des Afro-Pessimismus«.

Wird freilich der Fokus näher auf eine Region eingestellt, mehren sich kritische Stimmen. Niemand billigt dem Sudan insgesamt eine positive Tendenz zu. Zu düster ist seine Bilanz von jahrzehntelangen Bürgerkriegen, von Ausrottungsfeldzügen in Nubien und Darfur. Eine merkwürdige Koinzidenz internationaler Interessen und die interne Gespaltenheit der AU spielen eine Rolle dafür, dass diese voraussichtliche Abtrennung relativ ruhig über die Bühne zu gehen scheint. Die USA haben massiv auf diplomatischem Weg eingewirkt und den Machthabern um al-Bashir, gegen den ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vorliegt, Zugeständnisse gemacht für die vollständige Implementierung des Comprehensive Peace Agreement (CPA) von Naivasha 2005. Eric Reeves spricht im linksliberalen Dissent-Magazine (8.10.10) deshalb vom »Verrat an Darfur«, wo sich die Lage seit 2005 kaum verbessert habe und das für eine halbwegs zivilisierte Trennung »geopfert« werde. Die regierende National Congress Party (NCP) al-Bashirs veröffentlichte am 16. September mit großem publizistischem Aufwand ihre »Neue Strategie« – acht Tage später fand im Rahmen der UN-Vollversammlung der »Sudan-Gipfel« statt, bei dem zwar heftige Worte erklangen, hinter den Kulissen aber eine Gruppe geschmiedet wurde aus Vertretern der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Norwegens und dem afrikanischen Ostkonsortium (IGAD), um einen reibungsarmen Ablauf zu gewährleisten. Der Kritik schlossen sich auch konservative Kreise etwa in mehreren Artikeln in Foreign Policy an, in Europa blieb die Darfur-Frage hingegen weitgehend ausgeklammert.

 

US-Sonderbotschafter Andrew S. Natsios und Holocaust-Forscher Michael Abramowitz sehen hingegen im Sudan einen Schauplatz erschöpfter militärischer Gegner, die wissen, dass sie sich nicht gegenseitig niederringen können: »Es ist … unwahrscheinlich, dass entweder al-Bashir oder Kiir (Salva Kiir Mayardit, Präsident des Süd-Sudan, B. W.) einen neuen Konflikt anzünden würden. Beide sind Militäroffiziere, die die Kosten des Krieges kennen – anders als einige der militanten Islamisten, die nach Blut verlangen, aber nie einen abgefeuerten Schuss gehört habenSudan’s Secession Crisis«, in: Foreign Affairs, Jan/Feb 2011) Sie beziehen sich auf den oppositionellen Politiker Hassan al-Turabi und seinen Popular Congress (PC), eine Abspaltung von der regierenden NCP. Al-Turabi, eine charismatische Person, könnte auf den Plan treten, wenn es im Rest-Sudan aufgrund der Unzufriedenheit mit dem »Verlierer« al-Bashir zu wachsenden Unruhen kommt. Doch wird damit gerechnet, dass beide Seiten sich über die Öleinnahmen verständigen werden, die jeder dringend zum Abschmieren seiner jeweiligen Politik braucht. Das Öl liegt zwar zu 80 Prozent im Süden, macht aber nur Gewinn, wenn die großen Firmen unter chinesischer Regie es fördern und über die Pipeline durch den Norden zur Verschiffung nach Port Sudan am Roten Meer pumpen. Dieses zentrale Interesse kettet die verfeindeten Seiten eng aneinander. Damit kommt eine weitere Respekt erheischende Macht ins Spiel, nämlich China.

Etwa sieben Prozent der chinesischen Ölimporte kommen aus dem Sudan. Die staatliche China National Petroleum Corporation (CNPC) besitzt 40 Prozent der Greater Nile Petroleum Company und hat mehrere Milliarden Dollar in eine Raffinerie und in den Bau einer Pipeline investiert. Geplant ist eine weitere Pipeline nach Südosten an Kenias Küste. Die derzeit im Betrieb befindliche Pipeline wird von chinesischen Militärs bewacht, die in Süd-Sudan stationiert sind. Hatte es zunächst so ausgesehen, als ob die VR China Partei für den Sudan al-Bashirs einnimmt, so scheint sie nun auf eine Position als Mediator zuzusteuern, da sie Interessen in beiden Ländern zu vertreten hat.

Die Loslösung kann schließlich weitere Sezessionen beflügeln. Des Öfteren wird ein Kontext hergestellt zu Somalia, wo es ebenfalls einen Staat im Wartezimmer der Unabhängigkeit gibt, nämlich Somaliland. Dieser erfüllt seit seiner De-facto-Abtrennung von Somalia 1991 tatsächlich alle Bedingungen funktionierender Staatlichkeit. Der Fall Süd-Sudan wird, so hofft sein Außenminister Ahmed Mohamed Silanyo (Economist, 10.1.11), auch sein Land aufwerten, zu dessen Unterstützung die deutschen Grünen die Bundesregierung schon mehrmals vergeblich aufgerufen haben. Dieser Staat mit demokratischen Merkmalen könnte ein Stabilitätsfaktor am Horn von Afrika werden.

 

Letztlich vollzieht die Abtrennung des Süd-Sudan etwas, das im Westen selten, dagegen recht unverhohlen von schwarzafrikanischer Seite ausgesprochen wird: die Spaltung des Kontinents zwischen dem nördlichen Teil und Sub-Sahara-Afrika. Heftig zum Ausdruck bringt Tidiane N’Diaye den Graben zwischen »Arabomuslimen« als Eroberern und »Afrika« als Unterdrückten und Sklaven in seinem Buch Der verschleierte Völkermord. Die Geschichte des muslimischen Sklavenhandels in Afrika (Reinbek 2010). Für ihn ist der »arabomuslimische Überfall« auf Afrika, beginnend 652 mit einem Zwangsvertrag zwischen einem Emir und einem nubischen König, dem die Ermordung und Erniedrigung von Millionen schwarzer Menschen folgten, die Wurzel allen Übels. Heute noch symbolisiert Darfur dieses unheilvolle Verhältnis.

Was immer daran Pathos und überzogene Feindseligkeit sein mag, damit wird ein realer Konflikt signalisiert. Gérard Prunier zeigt in seinem Buch Darfur (Hamburg 2006) auf, wie problematisch Ethnizität ist – »Araber« wird im Sudan in ganz verschiedenen Bedeutungen verwendet, oft nur aufgrund der Lebensweise. Er macht darauf aufmerksam, dass der Sudan zu Kolonialzeiten und danach der Einfachheit halber »primär als arabischer Staat mit einem exotischen Anhang« behandelt wurde. Dieser Eindruck wurde nach dem Kalten Krieg noch gefördert, als die einst »kommunistische« SPLA, die Guerilla des Südens, zu ihren christlichen Wurzeln zurückkehrte, während in Khartum radikale Muslime die Macht ergriffen.

Doch hätte damals schon westliche Beobachter irritieren müssen, so Prunier, dass Khartums Armee 1992 mit »genozidaler Gewalt in den Nubabergen« vorging: gegen Muslime, Christen und »Heiden«; dass die SPLA, die zur Verteidigung der Bevölkerung vordrang, von einem muslimischen Kommandanten angeführt wurde. Mit schlichten Begriffen wie »arabisch« und »afrikanisch« lässt sich das eigentlich nicht erklären. Doch Lybiens Staatschef Gaddafi und Sudans Premier al-Mahdi traten mit einer eigenartig rassistisch konnotierten Erklärung auf: »Darfur war arm und rückständig, weil es nicht ausreichend arabisiert war. Darfur war von der … Umma übergangen worden, weil sein Islam primitiv und nicht arabisch genug war. … Damit begann ein jahrelanger niederschwelliger rassischer Konflikt, in dem sich das ›arabische‹ Zentrum sozusagen gewohnheitsmäßig gegen die ›afrikanische‹ Peripherie stellte

»Araber« sind auf jeden Fall eine Minderheit, zugleich aber auch die Eliten im »arabischen Dreieck« (die Städte Khartum, Omdurman, Bahri), während die »Muslime« (70 %) eine Mehrheit stellen. »Muslime« waren eben auch »Afrikaner«. Die Siege der SPLA, der sich auch andere Religionsangehörige anschlossen, brachten die Machthaber in Khartum arg in Verlegenheit – sie suchten daher je nach Opportunität Bündnispartner unter den »Sklaven«, »kauften« Stämme, spielten die einen gegen die anderen aus. Das lässt bis heute die »Fronten« verschwimmen, wobei die Führungsfiguren jeder Seite noch zusätzliche Profilierungsprobleme haben. Eine bürgerlich-demokratische Entwicklung ist auf keiner der beiden Seiten in Sicht, vermuten daher Andrew S. Natsios und Michael Abramowitz. Khartum und Juba müssen erst einmal wesentliche Fragen der Scheidung klären: die Grenzziehung, die Staatsbürgerschaft der Bürger, die im anderen Teil leben, die Aufteilung der Ölprovinz Abyei, die gemeinsamen Ölfragen (Förderung, Transport, Verschiffung, Verwaltung, Verrechnung), die Wasserfrage. Und das Zusammenhalten des jeweiligen Lagers, um regieren zu können.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 1/2011