Hans-Willi Weis

 

Lost in Information

 

Oder: Wenn das Urteilsvermögen leckschlägt

 

 

 

Zigtausende Datensätze wurden von WikiLeaks ins Netz gestellt – Informationen, die heiße Debatten auslösten. Sie wurden häufig mit »Wissen« gleichgesetzt, was die durch die informationelle Revolution verursachten Probleme wohl gründlich verkennt. Unser Autor setzt sich mit den Zäsuren in der »Informationsgesellschaft« auseinander, die Individuum und Gesellschaft, Politik und Kultur erfasst haben. Welcher Voraussetzungen bedarf es, um überhaupt beurteilen und urteilen zu können? Was lässt uns die Welt besser verstehen?

 

Anfangs waren es Adelsgeschlechter, Fürstenhöfe, Königshäuser, die das Politische und die Politik unter sich ausmachten. Dazu mussten sie sich wechselseitig beobachten: durch Späher und Spione, Kundschafter und Kuriere. Was diese an Information, Pardon!, an konkreter Beobachtung, an Ausgekundschaftetem, ihren jeweiligen Herrschaften als lebendige Datenträger oder besser mündliche Auskunftgeber zutrugen, ließ sich bequem im Kopf eines Machthabers respektive den Köpfen seiner Lakaien unterbringen. Und vor allem, es gab kaum Probleme mit der Semantik: Eine überbrachte Nachricht oder Botschaft mochte sich im Nachhinein als falsch oder irreführend herausstellen, über ihre Bedeutung und ihren Sinn musste man sich aber für gewöhnlich nicht den Kopf zerbrechen.

Die Geburt der Gutenberg-Galaxie markiert die grundstürzende Zäsur, weil sich von da an ungeahnte Möglichkeiten der Vervielfältigung und Verbreitung von zuvor individuell und oft genug im Geheimen oder clandestin Herausgefundenem, exklusiv Mitgeteiltem und dessen bloß ortsgebundener zerebraler Verwahrung eröffneten. Eine qualitativ neue Stufe der Abstraktion vom jeweils konkret Beobachteten war erklommen und mit derselben das Level dessen, was modern gesprochen Wissen heißt, nämlich eine abstrakte Komplexität von Bedeutungs-, Sinn- und Bewertungsrelationen, -ebenen und -hierarchien. Auf diesem reflexiv und diskursiv anspruchsvollen Wissensbegriff sowie den damit gesetzten Standards einer nicht länger herrschaftlich reglementierten Generierung, einer transparenten Evaluierung, einer allgemein zugänglichen Überlieferung und massenhaften Verbreitung von Erkenntnissen und Wissen beruht schließlich das, was philosophisch und politisch die Aufklärung genannt wurde. Mit ihr war auch schon der Wandel und die Differenzierung im »politischen Subjekt« vollzogen: Statt »L’état c’est moi« von nun an »Volkssouveränität«, welche das Politische in die Instanzen der staatlichen Gewaltenteilung einerseits, die formellen und informellen Organe der bürgerlichen Öffentlichkeit andererseits differenziert.

Als das wichtigste formelle Organ von Öffentlichkeit, von »Publizität«, fungiert seit den Tagen der bürgerlichen Revolution die freie Presse. Ohne die ungehinderte »politische Unterrichtung« seitens der Presse stünde die staatsbürgerliche Souveränität noch mehr »nur auf dem Papier«, wie ohnehin seit jeher geargwöhnt wird angesichts auch unter rechtsstaatlich-republikanischen und demokratischen Auspizien sich verselbstständigender politischer Apparate und Funktionsträger. So hat sich schließlich zu jener in den politischen Machtkonglomeraten instanziierten Beobachtungsfunktion eine weitere hinzugesellt, die Beobachterfunktion der Presse, der »Medien«. Und insofern sie insbesondere beobachten, was die politischen Instanzen und deren Organe so alles beobachten (wobei sie sich in der Regel sehr ungern beobachtet fühlen), wurde damit eine politische Beobachtung »zweiter Ordnung« fest installiert, wie sie für die Demokratie und eine funktionierende Öffentlichkeit unabdingbar ist. Denn verglichen mit der Aristokratenherrschaft von einst und ihrer Palast- oder Kabinettspolitik hat sich in den modernen politischen Systemen eine Beobachtungsexplosion ereignet mit einer entsprechend gigantischen Inflation von Faktenkenntnis: An die Stelle der Kundschafter und Kuriere sind Nachrichtendienste getreten, die zuerst mittels Telegraph und Depesche, dann durch Funkspruch und zuletzt per elektronischer Datenübertragung »kommunizieren«. Und die Speicherkapazitäten sind ebenso explodiert: Unbegrenzte »Vorratsdatenspeicherung« ist endlich möglich – und notwendig, wie Sicherheitspolitiker allerorten beteuern.

 

Politische Gewaltenteilung, Öffentlichkeit, Presse, »investigativer Journalismus« – all das gibt es noch auch nach der jüngsten Medienrevolution, der des Internets und der globalen Informationsgesellschaft. Information heißt das massenhafte Standardprodukt aller vernetzten Beobachtungsfunktionen, ob sie nun in erster, zweiter oder Enter-Ordnung beobachten. Das Problem aber mit dem von dieser Beobachtung Beobachteten ist genau das, womit die Beobachtung in der Vergangenheit in der Regel kein Problem hatte: die Semantik. Was ist die Bedeutung einer bestimmten Information, wie sind diese oder jene Daten zu bewerten? Will sagen, das Problem liegt genau besehen bei der Bedeutung zweiten Grades, also der Bedeutung von Bedeutung oder der Bewertung. Was innerhalb einer Unmenge an Bedeutungen ist tatsächlich von Belang? – Nichts anderes und nichts weniger als der »Relevanznachweis« einiger der Dokumente ist das Problem gewesen, dem man beim Spiegel mit einem Aufgebot von 50 journalistischen Fachkräften zu Leibe rücken musste, nachdem Ende letzten Jahres WikiLeaks das »Nachrichtenmagazin« mit einem sechsstelligen Datensatz an Einzelbeobachtungen geflutet hatte. Was der SZ-Journalist Hans Leyendecker mit der Bemerkung versah: »Zu so etwas sind nur die vom Spiegel in der Lage

Fragt sich: Was ist, wenn ein Sonderkommando bei einem einzelnen Presseorgan das Problem nicht wirklich löst? Was, wenn es mit dem Internet-Zeitalter und der »totalen Informationsgesellschaft« am Ende darauf hinauslaufen sollte, dass allen und allem und sozusagen systembedingt die Informationssintflut droht – den politischen Institutionen, der Öffentlichkeit, den Bürgern? Was, wenn die einmal aus der philosophischen und politischen Aufklärung und ihrem egalitären Wissensoptimismus hervorgegangene Demokratie infolge der jüngsten und historisch vielleicht einschneidendsten medialen Innovation (jedenfalls nicht minder tiefgreifend als jene der Schrift und des Buchdrucks), in einem elektronisch-digital befeuerten Beobachtungsfuror zu implodieren, an der täglichen Informationslawine zu ersticken droht? Wenn die Demokratie ihre lebendige Substanz – den fairen Interessenausgleich über einen halbwegs vernünftigen öffentlichen Diskurs – und ihre Raison d’être – eine möglichst gute und gerechte Lebensperspektive für alle – in einer ans Absurde grenzenden Datenschwemme förmlich ertränkt? Und dies sowohl dadurch, dass die professionell beobachtenden bürokratischen und technischen Apparate des politischen Systems (von der Wirtschaft und den Unternehmen ist noch gar nicht die Rede) beobachten, was das Zeug hält, sammeln und horten, was die Speicherkapazität hergibt (der Sicherheit und dem Wohlergehen der Bürger zuliebe, wie dies nicht nur ideologisch begründet wird), als auch, weil der Bürger zuhause am PC seinerseits dem Beobachtungsrausch erliegt und im Privaten den Download- und Dateien-Junkie hervorkehrt (wobei sich die politischen mit den Unterhaltungsthemen zur Endlosschleife des Infotainments vereinen).

Dass nun, obwohl bislang heftigere Abwehrreaktionen vonseiten eines zivilgesellschaftlichen Bürgerprotestes ausgeblieben sind, die elektronische Beobachtungswut und der digitale Sammeleifer des Staates in »WikiLeaks« einen über die vereinzelte Hackerattacke hinausgehenden organisierten Gegenangriff provoziert hat, veranlasste wiederum einige herkömmliche intellektuelle Beobachter zu einer der Angelegenheit eher unangemessenen Rhetorik. Mit so noblem Begriffsbesteck wie »Aufklärung«, »Wissen«, »Wahrheit« sezierte Evelyn Finger in der Zeit (9.12.10) den WikiLeaks-Aktivismus und dessen Selbstlegitimierung: »Die Wahrheit ans Licht zu bringen ist ein mächtiges Motiv unserer abendländischen Kultur. ›Alle Menschen streben nach Wahrheit‹, sagt Aristoteles. ›Die Wahrheit will entdeckt werden‹, sagt Heidegger.« Da liegt, mit Verlaub gesagt, eine Kategorienverwechslung vor: Mit Wahrheit, Wissen und Aufklärung – sofern denn diese Begriffe noch etwas von ihrer klassischen sowohl philosophischen wie politischen Dignität bewahren sollen – hat die gegenwärtige Informationsguerilla oder der »Internet-Cyberwar« zwischen einer digital hochgerüsteten staatlichen IT-Fraktion und einer ebenso bis an die Zähne mit Daten bewaffneten subversiv-autonomen IT-Intelligenija so gut wie nichts zu tun.

 

Wer den Zugriff auf elektronische Datensätze und die Verfügungsgewalt über digitalisierte Information schlankweg mit Wissen gleichsetzt, der, so steht zu fürchten, hantiert mit einem Wissensbegriff, der schon ziemlich auf den Hund gekommen ist (und dasselbe gilt für den Gebrauch von Worten wie Erkenntnis, Wahrheit, Aufklärung im nämlichen Zusammenhang). Was nicht heißen soll, dass im Besitz ganz bestimmter Daten oder Fakten zu sein unserem jeweiligen Wissen nicht durchaus Kenntnisse hinzufügt. Doch dazu muss man erst einmal jenes Wissen haben, das sich in seiner komplexen Zusammensetzung aus spezifischen Bedeutungen und intelligenten Bewertungen gerade nicht auf ein Informations- und Datensammelsurium reduzieren lässt. Was angesichts von Pennälern, die sich ihre sämtlichen »Infos« am Laptop »zusammengoogeln« für jedermann auf der Hand liegt, dass auf diese Weise kein Wissen »generiert« wird und erst recht kein qualifiziertes, das den Namen Bildung verdiente, diese einfache Tatsache scheint in der WikiLeaks-Debatte dem Bewusstsein vieler Kommentatoren schlicht entfallen zu sein. Geradezu absurd anzunehmen, wie es nochmals der Kommentar von Evelyn Finger in der Konsequenz nahe legt, dass das »hinreichende Wissen«, von dem »unsere Zukunft« neben dem notwendigen Handeln »abhängig« sei, in irgendwelchen staatlicherseits oder anderswo unter Verschluss gehaltenen Akten oder Daten verborgen läge, die es folglich zu Recht im Interesse der Demokratie zu »leaken« oder per investigativem Journalismus ans Tageslicht zu befördern gelte.

Ein Beispiel verfehlter Rhetorik und infolgedessen verzerrter Problemdarstellung lieferte auch Julian Nida-Rümelin, als er (im Untertitel seines Artikels »Demokratie will Öffentlichkeit« in der Zeit vom 16.12.10) fragte, ob nicht »Immanuel Kant von WikiLeaks geträumt« habe, da der Philosoph »radikale Publizität für eine Bedingung des Friedens« erachtete. Sicher steht außer Frage, dass »demokratischer Friede« nach innen wie nach außen auf das kantische Publizitätsprinzip, welches den Verzicht auf »Doppelzüngigkeit« und »Geheimstrategien« vonseiten der Regierenden impliziert, angewiesen ist. Nur dass auch demokratisch gewählte Regierungen gelegentlich dem Prinzip grob zuwiderhandeln, ist uns auch ohne die Datenhuberei von WikiLeaks-Enthüllungen bekannt. Das »offenkundigste und bis heute skandalöseste Beispiel« – na eben! kann man da nur sagen – sieht Nida-Rümelin in den »hanebüchenen Begründungen des Irak-Krieges«, von denen die Öffentlichkeit »absichtlich … in die Irre geführt« wurde. Dann aber reibt sich der Leser des Artikels verwundert die Augen: »Wäre sie adäquat informiert worden, hätte sie den zweiten Irakkrieg vermutlich nicht gebilligt.«

Muss man eigens darauf hinweisen, dass beim Irakkrieg die Daten- und Informationslage (weder bei den Regierenden noch beim Publikum) überhaupt nicht der Punkt gewesen ist, sowie dass die Öffentlichkeit (die westeuropäische sogar mit überwältigender Mehrheit) ihn tatsächlich nicht gebilligt hat? Jemand, der es ansonsten gewiss besser weiß, scheint hier unversehens dem in diesen Tagen besonders inbrünstig geopferten Fetisch Information aufgesessen.

Dem Ex-WikiLeaker Daniel Domscheit-Berg sieht man die Informationsgläubigkeit dagegen eher nach, gewissermaßen als déformation professionelle (»wir wollten alle Informationen veröffentlichen, die einen politischen oder historischen Mehrwert haben«), wenn er (ebenfalls in der Zeit, 9.12.10) der naiven Illusion anhängt: »Nehmen Sie die Bankenkrise. Da passierte so viel hinter verschlossenen Türen, das vielleicht verhindert worden wäre, wenn ein paar Sekretärinnen als ›Whistleblower‹ agiert hätten.« Muss man daran erinnern, dass wohl nicht allein der Ökonom und Publizist Max Otte auch ohne heimliche Daten-Proliferation durch Vorzimmerdamen vorausgesehen hat, dass »der Crash kommt«?

Wie Evelyn Finger mit Pathosformeln operieren wie »Wissen ist Macht« und »Wahrheit als Waffe«, eine »Ethik des Internetzeitalters« anmahnen und fordern: »… man muss mit den Internetpartisanen von morgen, diesen mächtigen Verfechtern eines noch nicht genau definierten Weltgewissens, reden«; oder mit Julian Nida-Rümelin anlässlich von der offiziell verlautbarten Politik abweichender Geheimdossiers nach den »Prinzipien der Klarheit und Wahrheit« rufen und einen »eklatanten Bruch der Publizitätsbedingung Immanuel Kants« beklagen – derlei rhetorische Übungen verniedlichen im Grunde (wenn auch sicher unbeabsichtigt) die Problematik, wie sie der Demokratie und ihrer politischen Öffentlichkeit aus der Internet-Revolution (so wird man es nennen müssen) binnen kürzester Zeit erwachsen ist. Nicht so sehr die offizielle Politik konterkarierenden, dem demokratischen Souverän vorenthaltenen geheimen Beobachtungen, Daten, Informationen sind heute geeignet, »die Grundvoraussetzungen demokratischen Regierungshandelns zu zerstören: Transparenz, Kohärenz und Kontrolle« (abermals Nida-Rümelin); es handelt sich nicht primär darum, dass »Regierungen und Unternehmen mehr geheim halten, als für unsere Gesellschaft gut ist« (Daniel Domscheit-Berg) – vielmehr schaut alles danach aus, dass die technologisch ermöglichte und damit wie zwangsläufig auch schon Realität gewordene Beobachtungsmanie der gesamten Gesellschaft (der Institutionen wie der Individuen) und die dadurch bedingte schiere Masse an umgewälzter Information (Bild, Ton, Text) selber das Problem sind, an dem die Demokratie und ihre politische Öffentlichkeit »wie wir sie bisher kannten und verstanden« laboriert, durch das sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt, wenn nicht am Ende gar zerstört werden könnte.

 

Der harte Kern des Problems, den sich auch an sich scharfsichtige Analytiker anscheinend am liebsten verhehlen, besteht in der »Umformatierung« von Kultur, Gesellschaft und Individuum durch die kommunikationstechnologische Revolution der elektronisch-digitalen Medien. Ihr Equipment, ihre Funktionslogik und die durch sie erzwungenen Abläufe und Verhaltensmuster nehmen den privaten und den sozialen Raum in Beschlag und verschlingen unsere Zeit. Es entsteht ein Sog zur Dauerbeobachtung (einer transitiven wie intransitiven: beobachten und beobachtet werden), die immer weniger »extern«, das heißt durch vorgegebene oder autonom gesetzte Zwecke motiviert ist, vielmehr medial-selbstreferenziell verursacht erscheint, durch netzintern vorprogrammierte »User-Gewohnheiten«. Zugespitzt formuliert verhält es sich nicht so, dass sich ein selbstständiges Handlungsmotiv vorübergehend des Mediums als Mittel zum Zweck bedient, sondern die Netze erzeugen als ihr eigener Zweck einen dauernden Handlungs-, sprich Beobachtungsbedarf, der als Mittel ihrer Perpetuierung (kurzfristig ihrer maximalen Auslastung) dient – mithin erledigte sich das semantische Problem der Bedeutung von Bedeutung, der Bewertung sowie der Entscheidung über Sinn und Unsinn im Moment, da es auf die Spitze getrieben scheint, quasi von selber: Denn an der Benutzeroberfläche mit ihrer virtuellen Unendlichkeit von Bedeutungen ist alles und nichts von Bedeutung und gleichzeitig hat die Statistik (jetzt auch »Schwarm-Intelligenz« genannt) anstelle des individuellen Nutzers immer schon für ihn (vor)entschieden und (voraus)bewertet. Das autonome Subjekt wird in diesem Spiel nicht mehr gebraucht; seine Spieler sind, von der Last, noch selbstständige Zwecke verfolgender Akteur mit eigenem Urteilsvermögen sein zu müssen, befreit, allzeit lost in information. Von einer anonymen Intelligenz sanft von Link zu Link geführt müssen die dergestalt glücklich Selbstverlorenen im Multioptionalismus der Netzwelt nicht selber wählen, sie lassen sich wählen oder werden gewählt von den an die Stelle der Akteure tretenden Aktanten (Bruno Latour). Die Aktanten, diese »handelnden Dinge« (Zeichen, Bilder und sonstige Informationsaggregate zumal), werden, wenn sie denn kommt, die schöne neue Internetwelt beherrschen und damit zu guter Letzt auch das Politische in ihr unter sich ausmachen.(1)

Nun darf geraten werden, ob ein solches Endstadium der Höhepunkt der Demokratie oder ihre Abschaffung wäre. Wir bemühen hier unsererseits bewusst ein Zerrbild, sozusagen aus prophylaktischen Gründen und als Antidot gegen die Realitätsverzerrungen der augenblicklich grassierenden Datengläubigkeit, die den Leser mancher Kommentare in der WikiLeaks-Debatte anwehende Informationsfrömmigkeit. In der vordigitalen Ära, der Zeit vor dem World Wide Web und dessen kulturellen Umwälzungen, stand sicherlich der Kampf gegen staatliche Geheimniskrämerei und Zensur, für uneingeschränkte Presse- und Informationsfreiheit bei der Durchsetzung wirklich demokratischer politischer Verhältnisse ebenso wie bei deren Verteidigung an erster Stelle. Nach dem Anbruch des Internetzeitalters treibt einen Anhänger der Demokratie wie auch den sensiblen Beobachter zusehends so etwas wie die umgekehrte Sorge um: die Gefahr, die der Demokratie aus einem sinnlosen Informationsüberfluss, einem regelrechten Datenoverkill, entsteht; die Bedrohung der autonomen Handlungsmöglichkeit des Einzelnen, seiner individuellen Urteils- und Entscheidungsfähigkeit, nicht in Ermangelung von Kenntnissen, sondern aufgrund der de facto zwanghaften Dauerbeobachtung mit der Folge einer Masse an beliebiger, gleichgültiger, »bedeutungsloser« Bedeutung.

 

Wer sich über diese ideelle Prophylaxe durch den Versuch der Entzauberung des Götzendienstes der Information hinaus die praktische Frage vorlegt: Was tun?, wird sofort merken: Auf die konventionelle Bedrohung von Demokratie und demokratischer Öffentlichkeit konnte man an der staatlichen Geheimhaltungs-, der Informationszugangs- und der Pressefreiheitsfront kampagnen- und maßnahmenpolitisch gut reagieren und intervenieren – per »freedom of information act«(wie 1964 in den USA verabschiedet und wegen seiner Liberalität und Freizügigkeit bis heute international als vorbildlich angesehen), durch eine stetig zu aktualisierende Datenschutzgesetzgebung und nicht zuletzt gegenwärtig durch die Forderung nach freiem Internetzugang überall auf der Welt und die Etablierung einer politischen Öffentlichkeit im Netz selber.

Ganz anders im Falle der aktuellen und künftigen Herausforderung: »Freiheit von Information« oder Schutz gegen digitale Bilder- und Datenflutung lässt sich schwerlich gesetzgeberisch durchsetzen (wo schon der Schutz vor unerwünschten Reklame-Postwurfsendungen nur leidlich funktioniert). Wenn es also nicht angeht, dass wir uns durch staatliche Prohibition flächendeckend vor dem jeweils neuesten Spielzeug der IT-Branche schützen, noch Aussicht besteht, dass öffentliche Appelle an die unsichtbar in ihren »darkrooms« hinter den Benutzeroberflächen unbehelligt Schaltkreise manipulierenden und fröhlich vor sich hin programmierenden Technologie-Freaks der Branche etwas fruchten, sich beim Innovationswettlauf mit der Konkurrenz ein wenig Zurückhaltung und vernünftige Selbstbegrenzung aufzuerlegen – wenn somit weder auf der politisch institutionellen Seite noch auf der verursachenden »Objektseite« des Problems ein Ansatzpunkt für Abhilfe besteht, dann kann man den Hebel nur beim in Mitleidenschaft gezogenen individuellen Subjekt, also bei sich selber ansetzen, indem man die noch vorhandene persönliche Ressource Urteilsvermögen (re)aktiviert.

Die Reaktivierung des Urteilsvermögens setzt auf Wissen statt auf Information. Und alles existenziell relevante Wissen (wahrscheinlich auch alles politisch unabdingbare Wissen) ist im Unterschied zu bloßer Information gerade nicht uferlos. Weshalb das folgende Expertenvotum auch goldrichtig liegt: »Wenn wir im Internet nur statistisch bewerten können, dann müssen wir sicherstellen, dass die Menschen, die sich im Internet bewegen, möglichst viel Allgemeinbildung haben. Das heißt, das Thema Bildung kommt notgedrungen mit dem Netz auf uns zu. Und zwar nicht Bildung, die spezialisiert ist, Breitenbildung, ganz breit, altes humanistisches Bildungsideal, je breiter je besser, je unspezifischer je besser …«(2)

Was schwierig genug ist, umso mehr, als der hier angesprochene Einzelne nicht nur die Lösung des Problems, sondern (als »User«) auch ein Teil desselben ist. Trifft auf ihn doch zu, was Marshal McLuhan vormals am Fernsehzuschauer beobachtete: »… it’s an inner trip, the TV-viewer is stoned«.(3) – Wenn es stimmt, dass im Zweifelsfalle der Internetnutzer high ist, dann scheint dies keine sonderlich optimistische Prognose zu erlauben, was die Wiederbelebung eines ohnehin Leck geschlagenen Urteilsvermögens anlangt (das zu besitzen den »digital natives« viele schon gar nicht mehr zutrauen). Ein gewisser Don Quichote hatte allerdings seinerzeit ein ähnliches Problem mit Ritterbüchern. Zwar nicht ihm selber, aber den Zeitgenossen half, was immerhin hoffen lässt, das Lachen über die Suchtklippe hinweg.

Wenn der Spiegel aus Anlass seiner WikiLeaks-Veröffentlichung beteuert, jetzt sei es möglich, politische Entwicklungen in den Worten der Beteiligten zu dokumentieren und dadurch die Welt besser zu verstehen, so darf nicht nur, es muss gelacht werden.(4) Der informationsgläubigen Netzgemeinde aber wünschen wir dieselbe Heiterkeit, wie sie Rainald Götz an den Tag legte, als er (es ist schon ein paar Jahre her) sein Internet-Tagebuch (damals hieß das noch nicht »blog«) mit dem Titel »Abfall für alle« versah. Das Lachen sorgt für genau die Unterbrechung, jenes Innehalten, dessen es bedarf, damit die Reflexion und das Urteilsvermögen wieder einsetzen. Die fällige Deflationierung könnte beginnen – manchmal wird sogar das Unmögliche möglich.(5)

 

1

Zu verfolgen war die insgeheime Macht der Aktanten auch beim Schlichtungsverfahren zu »Stuttgart 21«, das ansonsten ein Bravourstück zivilgesellschaftlich partizipatorischer Demokratieausübung gewesen ist. Doch am Ende soll auch hier der Aktant »Stresstest« (also ein Datenkörper) das letzte Wort behalten. Überhaupt ist die Datenlastigkeit des gesamten Verfahrens unverkennbar gewesen, substanziellere Fragen die Beschleunigungsmentalität und ihre Lebensstilmuster betreffend erschienen erst gar nicht als verhandelbar. Man hat also selbst mit diesem demokratisch exemplarischen Experiment noch keineswegs den »Mulholland Drive« ins informationelle und Daten-Tohuwabohu verlassen.

2

Das Expertenvotum ist nachzuhören in dem Feature »Web2.0: Leben als Netzwerk« von Walter van Rossum, Deutschlandfunk 2010.

3

McLuhans O-Ton ist in dem voranstehend erwähnten Feature zu hören.

4

Mindestens schmunzeln wird man auch über so viel Zuversicht, wie sie Karsten Polke-Majewski (stellvertretender Chefredakteur von Zeit Online) durch die folgende Idee zum Ausdruck bringt: »Alle Informationen müssen frei zugänglich sein. Solche, die versteckt sind, werden aufgedeckt, gleich, worum es sich handelt. Wenn dann alles offenliegt, können wir endlich diese Welt und ihre Machtstrukturen verstehen und zum Besseren wenden.« In die Tat umgesetzt werden soll die Idee u. a. durch die Einrichtung »anonymer Briefkästen im Netz« (es kursiert bereits der Vergleich mit den Babyklappen): »Wer dort geheime Dokumente hinterlässt, kann sich aussuchen, an wen er sie weitergeben will. Der Empfänger wertet das Material entsprechend seinen Kenntnissen aus und veröffentlicht, was er für wichtig hält. Nach einiger Zeit sollen die Daten allen Besitzern solcher Briefkästen zur Verfügung stehen.« (Vgl. Zeit, 16.12.10, »Mehr WikiLeaks wagen! Transparenz ist gut. Aber sie braucht Regeln.«)

5

Siehe dazu vom Autor auch: »Manifest für unmögliche Unterbrechung oder Arbeit am Begriff des Intellektuellen«; in: Kommune 2/10.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 1/2011