Krisztina Koenen
Die Geburt einer
europäischen Autokratie
In Ungarn betreiben politische
Abenteurer die Zerstörung des Rechtsstaates
Ungarn bewegt sich auf einem Kurs, der
abseits der Demokratie führt. Sein Premier Victor Orbán
setzt alles daran, seine Ikone Berlusconi zu übertreffen, wenn es um die Aushöhlung
rechtsstaatlicher Institutionen geht. Dass es dazu kommen konnte, hat allerdings
eine Vorgeschichte: der konfliktlose Übergang vom Kommunismus zu einer freien
Gesellschaft, die vom »linken Beton« gekennzeichnet ist: der völligen
Reformunfähigkeit der Sozialisten, die sehr viel zum Niedergang des Landes
beigetragen haben. Eine besondere Rolle spielt auch der alte, wieder
aktualisierte ungarische Stadt-Land-Dualismus.
Gleich zwei Autoren stellten in den
vergangenen Wochen in Budapest
die Behauptung auf, Ungarn habe sich bereits in der kurzen Zeit, die seit den
Parlamentswahlen im April und den Kommunalwahlen im September 2010 vergangen
ist, von einer Demokratie zu einer Autokratie entwickelt. Bei den Verfassern
der beiden Essays handelt es sich um namhafte Vertreter der ungarischen
politischen Elite: János Kornai,
ein mutiger, regimekritischer Volkswirtschaftsprofessor, der in der Achtzigern
als einer der Ersten nachwies, dass die kommunistische Planwirtschaft aus
innerer Notwendigkeit heraus zur Mangelwirtschaft führt, und József Debreczeni, ein
liberalkonservativer Politiker und Publizist, enger Vertrauter und Freund des
ersten frei gewählten konservativen Ministerpräsidenten Ungarns, dem früh verstorbenen
József Antall. Keiner von ihnen steht im Verdacht,
Parteigänger der gestürzten Sozialisten oder – gottlob, muss man heutzutage
sagen – Juden oder Zigeuner zu sein, und daher einen vermeintlich unbegründeten
Groll gegen die derzeitige Regierung Ungarns zu hegen.
Die
Begründung für die dramatische Feststellung ist in beiden Aufsätzen die
gleiche: Innerhalb kürzester Zeit hat die seit Frühjahr 2010 mit
Zweidrittelmehrheit regierende Partei Fidesz (Verband
der jungen Demokraten) die wichtigsten Institutionen der Rechtsstaatlichkeit
mit eigenen Parteigängern und Günstlingen besetzt, sie ihrer Kompetenzen
beraubt oder diese beschnitten und die Verfassung so geändert, dass Fidesz von keiner Oppositionspartei in absehbarer Zeit
durch Wahlen wird abgelöst werden kann. Die Partei hat sich das Monopol
gesichert, Verfassungsrichter zu ernennen, und bestimmte gleich zwei Richter,
die vorher nie als Juristen oder Richter gearbeitet hatten, der eine hat nicht
einmal eine juristische Ausbildung. Die Führungspositionen des Rechnungshofes,
der Wettbewerbsbehörde und der Finanzaufsicht sind ebenso von schwachen und zum
Teil unqualifizierten Fidesz-Gefolgsleuten besetzt
worden wie die Medienaufsicht. Massenweise wurden Berufsbeamte und andere
Berufsfunktionäre des Staates entlassen, eine Säuberungswelle fegte bis
hinunter zur kommunalen Ebene durch Behörden und Verwaltungen.
Einer
Verhöhnung des Amtes des Staatspräsidenten kommt es nahe, dass für dieses Amt
ein ehemaliger Olympiasieger und kommunistischer Sportfunktionär auserkoren
wurde, der durch sein zusammenhangloses Gestammel und
seine mehr als eigenwillige Rechtschreibung zurzeit den schriftkundigen
Teil der Nation erheitert. Um aber ganz sicherzugehen, wurden die Kompetenzen
des Verfassungsgerichts nach einer missliebigen Entscheidung so eingeschränkt,
dass es für Wirtschaftsfragen nicht mehr zuständig ist. Die Verabschiedung des
neuen Mediengesetzes, das nun endlich die längst fälligen ausländischen
Proteste hervorgerufen hat, war schließlich der Endpunkt einer Entwicklung, die
man mit Kornai und Debreczeni
getrost als Weg in die Autokratie bezeichnen kann.
Wer nun
darauf pochte – wie es die ungarische Regierung tut –, dass es schließlich
nicht auf die Ausgestaltung der Institutionen, sondern auf die Inhalte der
Politik ankommt, wird ebenfalls Erschreckendes vorfinden. In der
Wirtschaftspolitik hat es gleich drei Maßnahmen gegeben, die eindeutig
verfassungswidrig und mit den Prinzipien des Rechtsstaats nicht vereinbar sind:
Um die hinausgesäuberten Staatsdiener auch finanziell zu
ruinieren, wurde ein Gesetz zur Besteuerung von Abfindungen (ab 3 Millionen
Forint, ca. 10.000 Euro: 98 Prozent) erlassen, das rückwirkend gilt. Das
Verfassungsgericht wurde eben deshalb gemaßregelt, weil selbst seine Fidesz-Mitglieder die rückwirkende Gültigkeit als
verfassungswidrig einstuften.
Neue
Steuergesetze verletzen das Gebot der Gleichbehandlung. Strafsteuern wurden bei
ausländischen Unternehmen im Bereich Banken und Finanzen, Energie, Telekom und
Einzelhandel erhoben mit der Begründung, sie seien an der Finanzkrise schuld.
Ihre ungarischen Konkurrenten hat man mittels Sondergesetzen von den Steuern
befreit, die ausschließlich ausländische Automobilindustrie (weil ein »produktiver«
Wirtschaftszweig im Gegensatz zu den abgestraften »unproduktiven«) wurde ganz
verschont.
Und
schließlich wurde das Recht auf Eigentum mit Füßen getreten, als das Vermögen
der privaten Rentenversicherungen und damit der Versicherten enteignet und der
staatlichen Einheitsversicherung einverleibt wurde.
Es gibt aber
auch noch andere Ideen, zum Beispiel die, die mehr als zehn Jahre alten
Privatisierungsvorgänge, aber nur die, in die westliche Firmen involviert sind,
auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu »untersuchen«, mit dem Argument, die meist
deutschen Käufer hätten »Extraprofite« gemacht und diese außer Landes
geschafft. Dass das Ziel die Zurückverstaatlichung ist, scheint offenkundig,
die Begründung dagegen fadenscheinig: Wenn Kapital in großem Maßstab außer
Landes geschafft worden wäre, dürfte Ungarn nicht in dem großen Maße
Kapitalimporteur sein, wie es dies tatsächlich ist. Weder die Existenz von
»Extraprofiten« noch der nennenswerte Kapitalexport lassen sich mit Zahlen
untermauern. Da inzwischen das Verfassungsgericht für Bereiche wie Eigentumsfragen
keine Zuständigkeit mehr hat, gibt es auch keine Möglichkeit zum Protest, geschweige
denn zur Anfechtung dieser und ähnlicher Vorhaben.
Die Maßnahmen
sind durchaus Teil einer konsistenten politischen Idee und dienen als
Unterfütterung für eine ausländerfeindliche, nationalistische und
antikapitalistische Programmatik, die im Inneren sehr gut ankommt. Sie sollen
vermeintlich nationalen Interessen dienen: So soll zum Beispiel die Strafsteuer
gegen ausländische Unternehmen helfen, die Neuverschuldung niedrig zu halten,
gleichzeitig aber ermöglichen, dass kein Rückbau des Staates erfolgen muss, der
als Erbschaft des Sozialismus in allen Bereichen überdimensioniert ist und
häufig eine kostentreibende Monopolstellung hat.
Doch weit
davon entfernt, dem Lande Vorteile zu bringen, hat der im Namen des nationalen
Selbstbewusstseins vom Zaun gebrochene Streit mit IWF und der EU zu einem rasanten
Wertverlust des Forint geführt (von etwa 30 Prozent) und zur Herabstufung der
ungarischen Staatsanleihen auf nur eine Stufe vor Junk-Niveau, was die Zinsen
für Bonds in die Höhe trieb und die Staatsschuld, statt sie zu vermindern,
weiter anschwellen ließ. Der Vertrauensverlust bei ausländischen Investoren,
zuletzt zum Ausdruck gebracht durch den Protestbrief führender europäischer
Unternehmen an die EU, wird nicht ohne Folgen bleiben. Die gegen die Banken
erhobene Strafsteuer treibt jetzt schon die Kreditkosten auch im Inland nach
oben und trifft so, zusammen mit dem Wertverlust des Forint, die Mehrheit jener
am meisten, die sie fördern sollte: die einheimischen mittelständischen
Betriebe. Und so kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass diese
Regierung genau dem gleichen Wahn erlegen ist wie seinerzeit die kommunistische
Parteiführung: Sie glaubt allen Ernstes, nicht nur in der Politik, sondern auch
in der Wirtschaft tun zu können, was sie will, ohne die Folgen fürchten zu
müssen. Die Haltung des »Sieg oder Untergang« im Zeitalter der Globalisierung
in einem kleinen, traditionell extrem außenwirtschaftlich orientierten Land hat
etwas Selbstmörderisches, das nicht zufällig an das Verhalten der wenigen übrig
gebliebenen kommunistischen Inseln in der Welt erinnert. Wenn erst die von Fidesz ausgearbeitete neue Verfassung verabschiedet wird,
werde das – so sagen führende Staatsrechtler voraus – das Ende der Dritten Republik
sein.(1)
Die Sozialisten – das Ende einer
postkommunistischen Partei
Man kann es
so sehen. Es spricht aber vieles dafür, dass der Aushöhlungsprozess der
demokratischen Institutionen und der Parteien nicht jetzt erst begonnen hat,
sondern schon seit Längerem andauert, und dass die Zweidrittelmehrheit von Fidesz zusammen mit dem ungehinderten Aufkommen einer
nationalsozialistischen Partei wie von Jobbik
(bedeutet so viel wie »die Besseren«, aber auch »die Rechten«) nur der Endpunkt
und die logische Konsequenz einer schon lange währenden Entwicklung ist. Der
Weg hierhin ist von den Sozialisten geebnet worden, von ihrem Versagen in
vielerlei Hinsicht und dem ganz spezifischen Weg, den diese Partei bis heute
ging. Selbst jetzt noch, da die Sozialistische Partei als Opposition dringend
gebraucht werden würde, halten die alten Haudegen der Partei an ihren Ämtern,
Ansichten fest und sind mit wenigen Ausnahmen zu keinerlei Selbstkritik fähig.
Die Partei ist reif für den Untergang – dieser Meinung scheinen auch die
ungarischen Wähler zu sein.
Rückblickend
wird sichtbar, dass der fast konfliktlose, mit vielen Kompromissen behaftete
Übergang von Kommunismus und Planwirtschaft zu einer freien Gesellschaft am Anfang
der Probleme stand, die die Sozialisten seither plagen. Denn er ermöglichte der
Staatspartei Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei USAP, diesem
Machtinstrument der Diktatur, sich ohne Weiteres in eine neue, nunmehr
demokratisch legitimierte Partei, die Ungarische Sozialistische Partei,
umzuwandeln. Niemand anderer symbolisierte die Kontinuität besser als der erste
Parteivorsitzende und ehemalige USAP-Außenminister Gyula Horn. Vor dem
Zusammenbruch galt das Land als »lustigste Baracke« des Ostblock-Lagers, die
Partei János Kádárs als
besonders liberal und kompromissfähig. Und so sah man in der umbenannten MSZP
keine Notwendigkeit für die strukturelle und personelle Erneuerung der Partei,
die folgerichtig auch nie stattgefunden hat. Der jetzt voranschreitende Zerfall
ist die späte Folge der ungelösten Aufgabe.
Von Anfang an
waren gleich mehrere Parteien innerhalb der Sozialisten am Werk: Reformfreudige
liberale Demokraten, die den Rechtsstaat und die freie Marktwirtschaft bejahten
(obwohl sie die meisten Führungskräfte stellten, befanden sie sich trotzdem immer
in der Minderheit), existierten neben verknöcherten kommunistischen Altkadern,
die von der Fortführung des Sozialismus träumten, und einer zynischen Mehrheit,
die nur darauf bedacht war, ihre alten Privilegien in das neue System
hinüberzuretten.
Auch wenn die
Sozialisten die ersten demokratischen Wahlen 1990 an das konservative
Demokratische Forum verloren hatten, nutzten viele ihrer früheren Funktionäre
die ihnen aus kommunistischen Zeiten zur Verfügung stehenden Insiderinformationen
und Beziehungen, um große Vermögen an sich zu reißen und aufzubauen. Sie sind
die wahren Gewinner der Privatisierung, nicht die westlichen Konzerne, die
durchaus reale Preise für die erworbenen Unternehmen zahlten. Die Korruption
der Sozialisten ist geradezu legendär. Sie bildeten Netzwerke innerhalb der
Gesellschaft, die sich in Form von politischen oder gesellschaftlichen
Positionen, von Privatisierungsgewinnen in barer Münze auszahlten. Die Milieus
der weniger exponierten zweiten Linie, die Führungskräfte der Komitate (die
schon im Sozialismus kleinen Königreichen glichen), die Funktionäre der
ehemaligen Jugendorganisationen, Führungskräfte verschiedener Großbetriebe und
Branchen bildeten solche Milieus, die weiter zusammenhielten, einander gegenseitig
mit Insiderinformationen aus der Wirtschaft und der Politik versorgten,
einander besonders vorteilhafte Immobilien- und sonstige Geschäfte zuschoben,
sich für lukrative Unternehmungen oder zur Eroberung von politischen und
wirtschaftlichen Positionen zusammentaten. Von diesen Vorteilen mochten sie
sich nicht trennen: Noch die letzten Monate der sozialistischen Regierung waren
von einer Welle der unappetitlichen Korruptionsskandale gekennzeichnet.
Nichts ist
für die innere Fäulnis dieser Partei kennzeichnender, als dass sie es nicht geschafft
hat, anstelle der alten Kader eigene Führungspersönlichkeiten hervorzubringen.
Der 2002 gewählte Ministerpräsident Péter Medgyessy war zwar ein kommunistischer Kader, aber zu der
Zeit parteilos, als liberaler Banker ohne Wurzeln in der neuen Partei. Der 2004
eingesetzte Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány, das
wahrscheinlich größte politische Talent seit dem Zusammenbruch des Kommunismus,
war zwar Funktionär der kommunistischen Jugendorganisation, kam aber ebenfalls
aus der Wirtschaft und von außerhalb der Parteihierarchien und musste später
erleben, wie seine eigene Partei zu seinem größten Gegner bei der
Verwirklichung von Reformvorhaben wurde. Denn trotz der Reformanstrengungen
Gyula Horns, der unter anderem die größten Privatisierungsprogramme
durchpeitschte, war diese Partei gewohnt, auf die gleiche Art Politik zu betreiben
wie einst Kádár: durch Sozialgeschenke an die Masse
der immer noch armen Ungarn und durch Kungeleien mit den mächtigen
Interessengruppen. Auch das Ergebnis dieser Politik war das gleiche wie unter Kádár: die katastrophale Staatsverschuldung und eine
chronisch negative Handelsbilanz.
2006 führte
Ferenc Gyurcsány eine Sozialistische Partei zum
Wahlsieg, die vermutlich in keiner einzigen Frage hinter ihm stand. Seine
Vorstellungen von einer verantwortlichen, sozialen Marktwirtschaft westlichen
Typs teilten kaum eine Handvoll der Parteimitglieder. Für die Eindämmung der
verantwortungslosen Ausgabenpolitik, für die Verkleinerung des Staatsapparats,
die Stärkung der Eigenverantwortung der Bürger im Gesundheits- und
Bildungswesen fand er weder in- noch außerhalb der Partei Partner. In dieser
Situation geschah das, was der britische Premier Harold Macmillan als die
größte Gefahr für Politiker bezeichnete: ein Ereignis. Eine interne Parteirede Gyurcsánys, in der er die Führung mit den Worten
aufzurütteln versuchte, die Partei habe bei den Wahlen, davor und danach die
Wähler und sich selbst belogen, wurde insgeheim aufgenommen und anschließend
veröffentlicht. Es ist bis zum heutigen Tag nicht klar, wie das geschehen
konnte, die wahrscheinlichste Annahme ist, dass seine Gegner innerhalb der Sozialistischen
Partei den Verrat begangen haben.
Eine
beispiellose Hetzkampagne gegen ihn unter Führung von Fidesz
begann. Er hätte zurücktreten müssen, aber die Sozialisten hatten keinen, der
seine Stelle hätte einnehmen können. 2008 noch peitschte Fidesz
eine Volksabstimmung gegen die Praxisgebühr von 1 (!) Euro und gegen die
Privatisierung im Gesundheitswesen durch. Kurz darauf begann die Finanzkrise
und die Schuldenlage wurde erdrückend. Jetzt mussten die Einschränkungen
vorgenommen werden, die schon längst fällig waren. Die Empörung gegen die
Sozialisten kannte keine Grenzen. 2009 trat Gyurcsány,
der seine Glaubwürdigkeit zusammen mit den Sozialisten vollständig verloren
hatte, zurück, und eine Expertenregierung unter Gordon Bajnai,
ebenfalls ein parteiloser Wirtschaftsfachmann, übernahm die
Regierungsgeschäfte. Nun musste die Konsolidierung im Eiltempo stattfinden,
Ungarn entging dem Staatsbankrott nur durch einen gemeinsamen Kredit von IWF
und der EU in Höhe von 20 Milliarden Dollar, erste radikale Einschränkungen der
Sozialetats bewirkten einen Rückgang der Verschuldung auf zunächst 3,8 Prozent
des BSP.
Fidesz – die Anatomie eines
Zivilisationsverlustes
Die
himmelschreiende Korruption der Sozialisten und die Causa Gyurcsány
waren der Hintergrund und die Legitimation für die
autoritär-nationalchauvinistische Wende, den die gegnerische große Partei Fidesz nach 2002 vollzogen hatte. Um aus Anlass der sozialistischen
Sündenfälle jedoch eine nationale Konfrontation des Ausmaßes zu entfachen, wie
sie vor und seit den Wahlen stattfindet, bedurfte es darüber hinaus der Persönlichkeitsstruktur
und des brennenden Ehrgeizes eines Demagogen wie Viktor Orbán,
dem Vorsitzenden der Partei.
Mit dem
Wahlsieg der Sozialisten 2002 und noch mal 2006 hat sich Fidesz
unter der Führung von Orbán, der Silvio Berlusconi
und die Forza Italia als seine großen Vorbilder bezeichnet, niemals abgefunden.
Sofort nach der ersten Wahlniederlage war der Plan entstanden, die Macht vom
rechten Rand her zu erobern. Das hatte zwar eine scharfe Wende in der
Parteipolitik von freiheitlich-liberal hin zu national, ja irredentistisch und
autokratisch zur Voraussetzung, konnte aber dank der orbánschen
Alleinherrschaft in der Partei schnell vollzogen werden. Statt der
Institutionen sollten fortan Personen herrschen, Viktor Orbán
voran.
Dazu gehörte
der Entschluss, den Machtkampf mit den Sozialisten auf die Straße zu tragen und
Fidesz als revolutionäre Kraft, die jetzt erst mit
dem angeblich so verhassten Sozialismus endgültig Schluss macht, zu
positionieren. Nach einem illegalen Sturm des aufgepeitschten Mobs auf das
Fernsehgebäude fantasierten die Parteigänger von Fidesz
eine neue Revolution herbei und die Rebellion erfuhr gegenüber der Gesetzgebung
eine höhere Weihe. Die öffentliche Gewalt wurde innerhalb kürzester Zeit zum
zentralen Teil der politischen Kultur. 2006, am Jahrestag der Revolution von
1956, führte Viktor Orbán persönlich den Ansturm des
Mobs gegen die Absperrungen vor dem Parlamentsgebäude. Dieser Rechtsauffassung
entsprach ein Jahr später die Gründung der »Ungarischen Garde«, einer
paramilitärischen Organisation, die inzwischen verboten wurde.
Für die Etablierung
einer Kultur der öffentlichen Gewalt bot das vorherrschende ungarische
Selbstbildnis, das im Wesentlichen dem romantischen Nationalismus des neunzehnten
Jahrhunderts entstammt, willkommene Anknüpfungspunkte. Einer Bevölkerung, die
nach dem Zusammenbruch aller herkömmlichen Vorbilder nach identitätsstiftenden
Visionen verlangte, waren die Bilder einstiger Heldentaten und Größe leicht
nahezubringen. Demnach sind die Ungarn ein tapferes kleines Volk, das bis zum
heutigen Tag im Kampf um seine nationale Unabhängigkeit gegen übermächtige
Feinde steht. Die Kämpfe gegen Tataren, Türken, Österreicher und Russen wurden
noch stärker als früher zum Teil der nationalen Mythologie, die antirussische
Revolution von 1956 erhielt gar den Status eines heiligen Ereignisses. Der
»Kampf« gegen IWF und EU, gegen ausländische Unternehmen, rassefremde
Sozialisten und die ewige Bedrohung durch nebulöse Kommunisten (und Juden) ist
die Fortsetzung der einen ewigen Schlacht des kleinen Ungarnvolkes mit neuen
und alten Gegnern. Begleitet wird die Mythologisierung
der eigenen Geschichte durch einen allgemeinen Kult des Mystischen und
Irrationalen. Die Mythologisierung der Kraft von Volk
und Familie, der vielschichtige Kult des Blutes, die Ableitung des Ungarntums von den Skythen gehören ebenso dazu, wie die
Verehrung der Runenschrift (manche fordern ihren Unterricht in den Schulen) und
des »heiligen« Vogels Turul.(2)
Fidesz stellte ihr Programm als neues
Kettenglied in die Reihe dieser Kämpfe, betrachtete sich als einzigen legitimen
Erben von 1956 und knüpfte an die Tradition des Aufstandes der Straße gegen die
Herrschaft in- und ausländischer Mächte an. Die Partei bedient sich dabei, um
die Fremdheit der Sozialisten zu untermauern, der im Lande virulenten Gefühle
von Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus, zu deren Verstärkung sie
selbst wesentlich beigetragen hat. Die Partei ist auf nationaler Grundlage antikapitalistisch
und globalisierungsfeindlich, pflegt den Kult des kleinen nationalen Unternehmens
gegenüber den internationalen Konzernen. Schon vor einiger Zeit stellte Viktor Orbán in einer öffentlichen Rede fest, dass es »ein Leben
auch außerhalb der EU« gebe. Dazu passt die feindselige Haltung so gut wie
allen Nachbarstaaten gegenüber und das Anheizen der Konflikte um die
ungarischen Minderheiten, mit denen die betreffenden Nachbarländer
zugegebenermaßen oft mit harter Hand umgehen.
Für Orbán ist das öffentliche Zeigen einer Flagge, die die Pfeilkreuzler, die ungarischen Nazis im Zweiten Weltkrieg,
zitiert, vollkommen in Ordnung. In seinen Reden spricht der Fidesz-Parteichef
nicht etwa zu den Bürgern des Landes, sondern zu den »ungarischen Menschen«, in
einer archaischeren Form zum »ungarischen Mann«. Er und seine Partei
propagieren eine Fiktion: den uniform denkenden und handelnden Ungarn, der
keine Interessenkonflikte und Widersprüche kennt, ein mythisches Subjekt des
einheitlichen Volkswillens. Dieses Subjekt, das mit der Nation identisch ist,
befindet sich allerdings in einem Zustand der extremen Unterdrückung durch die
»neue Aristokratie« der Sozialisten, die zusammen mit ihren Wählern nicht Teil
der Nation, sondern vielmehr »Vaterlandsverräter« und Fremde sind. Und weil das
Land durch diese Art Fremdherrschaft am Rande des Abgrunds steht, ist kein
Platz mehr für langwierige parlamentarisch-demokratische Prozeduren: Die Nation
braucht den Regierungs- und Systemwechsel um jeden Preis. Und genau der findet
zurzeit statt.
Nun sind
Rassismus und Antisemitismus in Ungarn nichts Neues. Aus der letzten zur
Verfügung stehenden Umfrage aus den Jahren 1993 bis 2003 geht hervor, dass zehn
Prozent der erwachsenen Bevölkerung »militant antisemitisch« sind, 25 Prozent
teilen antijüdische Vorurteile. Aber es ist eine neuere Entwicklung, dass das
mehr oder minder offene Einverständnis von Politikern mit dem volkstümlichen
Antisemitismus diesen aus den Niederungen der Gesellschaft hervorgeholt und in
der Alltagskommunikation salonfähig gemacht hat. Was zunächst anlässlich von
Fußballspielen ungeahndet blieb (das Zeigen antisemitischer Spruchbänder, das
Rufen von Parolen wie »Der Zug nach Auschwitz fährt gleich los!« und das
Verprügeln von gegnerischen Fans oder auch unbeteiligter Passanten), sickerte
allmählich aus den einschlägigen Milieus heraus, und inzwischen kann keine
öffentliche Kundgebung mehr stattfinden, und sollte es auch nur eine harmlose
Nikolaus-Feier in der Budapester Innenstadt sein, ohne dass die rot-weiß
gestreiften Árpád-Fahnen der Nationalsozialisten und
Abbildungen von Großungarn (mit annektierten Teilen fast aller Nachbarstaaten)
auftauchten. Es existiert in dieser Hinsicht kein Unrechtsbewusstsein mehr, es
ist nicht anrüchig, als Teil von Polemiken auf die jüdische Abstammung von
Politikern und anderen Akteuren des öffentlichen Lebens hinzuweisen. Dazu
gehört auch die Diskriminierung von Zigeunern, die bis hin zu gewalttätigen
Ausschreitungen gegen sie geht, die Ungarische Garde paradierte bis vor kurzem
regelmäßig in den Dörfern mit großer Roma-Einwohnerschaft.
Wie konnte es
so weit kommen? Warum haben die Sozialisten Nationalismus, Rassismus und
Antisemitismus nicht von Anfang an bekämpft, die Polizei entschieden gegen die
ersten Zeichen der Eroberung der Straße durch den Mob eingesetzt? Warum taten
das die dafür zuständigen Institutionen nicht? Sie haben sich tatsächlich nicht
getraut. Sie haben sich nicht getraut, den Revisionismus gegenüber Ungarns
Nachbarn zurückzuweisen, um nicht als kommunistische Vaterlandsverräter dazustehen. Aus dem gleichen Grund haben sie sich nicht
getraut, rechtzeitig dem Kult der Straße und der Gewalt entgegenzutreten.
Insbesondere die Sozialisten wollten in diesem Zusammenhang auf keinen Fall
daran erinnert werden, dass sie die Nachfolger jener Kräfte sind, die die Revolution
von 1956 niedergeschlagen haben. Schritt für Schritt haben auch öffentliche Intellektuelle
eine demokratische Position nach der anderen preisgegeben oder sind verstummt.
Warum
Ungarn?
Die
protektionistische Wirtschaftspolitik und die erdrückende Rolle des Staates im
Wirtschafts- und Gesellschaftsleben entsprechen den Präferenzen der
Bevölkerungsmehrheit. Die ungarische Bevölkerung ist staatsgläubig, steht der
Marktwirtschaft zumindest skeptisch, wenn nicht ablehnend gegenüber.
Eigenverantwortung hat keine Tradition, eine Reihe von autokratischen Systemen
verschiedenen Ursprungs haben in den vergangenen zweihundert Jahren die
Menschen sich daran gewöhnen lassen, dass sie zwar nicht frei leben können,
dafür aber vom Staat oder einer anderen Obrigkeit eine gewisse Grundversorgung
zu erwarten haben.
In den
meisten kommunistischen Ländern Europas fiel der politische Zusammenbruch des
Systems mit dem wirtschaftlichen Bankrott zusammen. Das war zwar auch in Ungarn
so, aber es war für die Bevölkerung viel weniger spürbar und sichtbar als beispielsweise
in Polen oder der Slowakei. Der Grund war die Besonderheit des Kádár-Systems: Der Preis für den gesellschaftlichen
Ausgleich nach der Revolution von 1956 war die Garantie einer besseren
Versorgung als in den umliegenden Ländern des sozialistischen Lagers. Das wurde
auf zwei Wegen erreicht: durch Importe begehrter Konsumgüter aus dem Westen und
durch die Freigabe von Kleinstgewerbe sowohl in der
Landwirtschaft als auch im Handwerk und Handel. Es war eine Gesellschaft, die
durchaus große soziale Unterschiede kannte, die aber weitgehend unsichtbar
bleiben mussten. Sobald sie sichtbar wurden, schlug der Staat zu. Auch in
Ungarn endete der Sozialismus im wirtschaftlichen Desaster, aber nicht so wie
in anderen Ländern auf der Versorgungs-, sondern auf der Schuldenseite, und so
erlebte der Einzelne den finanziellen Zusammenbruch weniger dramatisch als
andere die Versorgungszusammenbrüche – schließlich betraf er »nur« den Staat.
Und weil es für den Einzelnen bis zum Schluss zu funktionieren schien, ist es
dieses System, wonach sich die Mehrheit heute noch sehnt, daher die
volkstümliche Ablehnung von ausländischem Kapital, außenwirtschaftlicher
Verflechtung, von Steuern und Selbstverantwortung.
Auch wenn
schon bisher einige Gründe für die fatale Fehlentwicklung Ungarns genannt
wurden, es bleibt doch die Frage, ob dies alles zwangsläufig so gekommen ist.
Sicherlich nicht. Es bedurfte dazu einer verantwortungslosen, vom Sozialismus
geprägten politischen Elite – und dies gilt für alle politischen Richtungen –,
der in ihrer Macht- und Geldversessenheit jedes Mittel recht war. Eliteversagen
ist kein Schicksal, es ist das Ergebnis einer kollektiven Selbstvergessenheit,
die begünstigt wurde durch die Autoritätsgläubigkeit der Bevölkerung.
Ansturm
auf die gelebte Freiheit
Es gibt
allerdings einen objektiven Hintergrund, der Ungarn trotz des Augenscheins das
Leben schwerer macht als den umliegenden Nachbarn, und das ist der scharfe
Kontrast zwischen der Metropole Budapest und dem Rest des Landes. Einen solchen
Kontrast findet man außer in Russland in keinem anderen ehemaligen
Ostblockland. Viele westliche Beobachter glauben, Budapest sei Ungarn, doch
nichts ist falscher als das. Budapest ist eine wunderbare, lebendige Großstadt
westlichen Typs, in der ein Teil – der tonangebende Teil, aber nicht die Mehrheit
– der Einwohner gewohnt ist, liberale Lebensgewohnheiten zu pflegen und nach
dem Muster westlicher Metropolen zu leben. Es gibt eine lebendige Kunst- und
Vergnügungsszene, unorthodoxe Künstler, Schwule und Lesben, viele Ausländer,
extreme Lebensstile, Luxus und öffentlich zur Schau getragene Laster. Es gibt
keine andere Stadt in Ungarn, die in ihrer Kultur und Größe (Budapest hat drei
Millionen Einwohner, Ungarn insgesamt knapp zehn) mit der Hauptstadt vergleichbar
wäre. Einen größeren Kontrast zum Leben auf dem Lande und in Kleinstädten kann
man sich in Europa kaum denken. Nicht nur ist das Wohlstandsgefälle enorm. Die
Lebensweisen trennt mindestens ein Jahrhundert voneinander: Man lebt dort für
sich, am liebsten abgeschottet, unverändert auf meist sehr niedrigem
materiellem und kulturellem Niveau. Von dort wurde die »sündige« Hauptstadt
immer schon misstrauisch beäugt, oft aber auch gehasst und als »entartet«
verachtet. Budapest ist in den Augen dieser Mehrheit nicht »ungarisch« genug,
das viele Geld, der Luxus, die Moden, die ausländischen Einflüsse, die gelebte
Freiheit sind Ausdruck des Fremden, der Verdorbenheit. Wird diese ohnehin schon
große kulturelle Kluft durch große soziale Unterschiede noch vertieft, bekommt
der Kampf der Kulturen eine besondere Aufladung.
In dieser
Hinsicht erinnert Ungarn an Länder wie die Türkei mit Istanbul oder gar an den
Iran mit seiner Hauptstadt Teheran. Und es erinnert nicht nur an sie, es
verhält sich auch sehr ähnlich wie sie. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus
hat die westlich orientierte Elite kurzfristig die Führung im Lande übernommen.
Es gab schmerzhafte Zumutungen, die sozialen Unterschiede wurden seit langer
Zeit zum ersten Mal sichtbar, im Laufe der Privatisierung entstanden große,
unbegründete Vermögen. Dies alles schien zusammen mit der gewachsenen
Selbstverantwortung der Preis der Freiheit zu sein, die deshalb viele nicht
mehr wollen. Die Autokratie Kádárs – und für die
Abkömmlinge der alten Vorkriegselite auch die des Reichsverwesers Miklós Horthy – schien besser zu funktionieren. Viktor Orbán, ein Mensch mit geradezu animalischen politischen
Instinkten, begriff schnell, dass seine Chance, die Macht zu erobern, darin
liegt, den Aufstand des sich nach Befehlsherrschaft und Übersichtlichkeit
sehnenden Landes gegen die freie und unübersichtliche Hauptstadt anzuführen.
Sein Wahlsieg ist der Sieg des östlichen Landes über das westliche Budapest.
Gerade deshalb wird er so schnell nicht rückgängig zu machen sein.
1
Die
erste Verfassung war die der Revolution von 1848, die zweite stammt aus dem Jahre
1946, bevor die Russen und ihre Marionetten die Macht übernahmen, und die dritte,
bisher gültige, war in den Runden-Tisch-Gesprächen 1989/90 entstanden.
2
Der
Vogel soll um 800 herum eine Ungarin im Schlaf geschwängert und ihr prophezeit
haben, dass sie einen Sohn zur Welt bringen würde, der der Urahn vieler Könige
sein werde. Diesen Sohn und die Ungarn führte dann ein Turul
in die heutige Heimat, ins Karpatenbecken.