Ernst Köhler
Zeichen der Zeit
Kosovo 2010
Ein kleiner Staat am fernen Rand
Europas, arm, unabhängig und doch an einer der langen Leinen der EU, die ihr
Versagen in dieser Region eher kläglich verwaltet. Unser Autor sucht das
Gespräch mit den Menschen und Politikern dieses Landes, wie sie ihre Lage und
ihre Möglichkeiten sehen. Tatsächlich zeichnen sich hier neue Kräftekonstellationen
und neue Perspektiven ab, um aus der Isolation herauszukommen, an der Brüssel
mitgewirkt hat und mitwirkt.
Das überdimensionale Foto ist immer
noch da. Es bedeckt die ganze Hauswand. »Lider« steht in großen Buchstaben auf dem Plakat. Es
ist ein riesiges Porträt von Ramush Haradinaj an dem
Gebäude, in dem sich das Büro des Chefs der AKK (Allianz für die Zukunft von
Kosovo) befindet. Es ist ein an sich sympathisches, durchaus ziviles Bild des
Politikers – ohne Krampf, Stechblick und Herrschermiene –, der inzwischen
erneut verhaftet worden ist und wieder in Untersuchungshaft in Den Haag sitzt.
Es ist die Übergröße und der Ort seiner Ausstellung, die das Foto grotesk und abgeschmackt
machen. Auch wenn man das Gebäude betritt, trifft man auf die Erscheinungsformen
eines Stils, eines Modells politischer Führung, dessen Stunde längst abgelaufen
ist. Im Eingangsbereich ein sehr junger, höflicher Mann mit Fremdsprachenkenntnissen,
der den Besucher nicht warten lässt und sofort einen Höherrangigen informiert.
Der dann gleich die Treppe herunterkommt, ein paar Fragen stellt und alles
effizient arrangiert.
Ein paar Tage
später auf dem Weg zum Interview mit dem Boss durch ein, zwei Vorzimmer, in
denen ältere Männer warten und achtungsvoll grüßen. Sie könnten gut Veteranen
der UCK mit ihren Anliegen sein. Alles dreht sich um den einen Mann – die Maschine
wie die Klientel –, der sich im Gespräch dann aber unprätentiös, nachdenklich
und kommunikativ verhält. Als ob er – als Person, als denkender Mensch – nicht
so recht in den autoritären Rahmen passen wolle, den er da um sich herum aufgebaut
hat. Als ob er der Gefangene dieser selbst geschaffenen Umgebung sei. Wie bei
früheren Begegnungen ist es wieder ein richtiges Gespräch. Eine politische
Unterhaltung ohne strategische Tricks und Manöver.
Ramush Haradinaj argumentiert diesmal im Kern liberaler,
wirtschaftsliberaler als bei früheren Gesprächen. Im Zentrum seiner
Aufmerksamkeit und Hoffnung steht das qualifizierte, leistungsbereite
»Individuum«. Als seien wir hier nicht in einem pauperisierten
und zudem einzigartig isolierten Land. Befinden wir uns nicht im Kosovo? Haradinaj muss anderswo sein. Er scheint den Boden unter
den Füßen verloren zu haben. Er scheint seinem geschundenen und blockierten
Land tatsächlich eine schablonenhaft amerikanische Wirtschaftsideologie
verordnen oder überstülpen zu wollen. Keine Spur etwa von einer
sozialdemokratischen Programmatik, die den Entwicklungsrückstand und die
erdrückende Arbeitslosigkeit des Kosovo auch nur ansatzweise aufnehmen würde.
Warum nicht? Der überragende Einfluss der USA im Kosovo und die unangefochtene
Macht der amerikanischen Botschaft in Prishtina
können diese politische Kurzsichtigkeit und mangelnde intellektuelle
Unabhängigkeit kaum erklären. Ernst, glaubwürdig um sein Land besorgt wie seit
jeher, wirkt dieser an sich fähige, lernbereite Politiker diesmal eigenartig
fremdbestimmt, entwurzelt, orientierungslos.
Im Büro von »Vetevendosje«
(Selbstbestimmung) fallen prägnante Sätze. Man wird sie so leicht nicht mehr los: Die
Internationale Gemeinschaft mache hier zwei grundlegende Fehler. Einmal habe
sie für das Kosovo nur eine Stabilitätspolitik, keine Entwicklungspolitik. Man
sei zufrieden, wenn Ruhe im Land herrsche – »Frieden« im
militärisch-polizeilichen Sinne. Zweitens mache man aus allem eine ethnische
Frage. Es gebe hier anscheinend keine Studenten, keine Arbeiter. Es gebe nur
»Ethnien«. Es ist Glauk Konjufca,
der das sagt, Ende 20, einer der führenden Köpfe dieser außerparlamentarischen
Bewegung vor allem junger Leute. Man spürt, es ist keine radikale Rhetorik.
Nicht die vertraute Sprache der Selbststilisierung. Kein Revolutionstheater, wir
haben hier nicht die Neuauflage unserer »Neuen Linken« vor uns. Man verstünde
den Erfolg von Vetevendosje bei den Wahlen im
Dezember auch nicht – auf Anhieb etwa 13 Prozent der Stimmen (das amtliche
Wahlergebnis liegt beim Schreiben dieses Textes noch nicht vor), wenn man
diesen jungen politischen Intellektuellen und seine Analyse in diese Schublade
stecken wollte. Oder sie gar einem nationalistischen Extremismus südosteuropäischen
Typs zuschlüge, wie nicht wenige westliche Journalisten es jahrelang getan
haben.
Die These vom
ökonomischen und gesellschaftspolitischen Disengagement der EU hinter der
militärischen Präsenz der NATO und hinter der Rechtsstaatsmission EULEX entspricht
vielmehr einer im Land verbreiteten Wahrnehmung: Wo wäre der Unterschied, wo
wäre die Zäsur zwischen den Jahren der UNMIK-Verwaltung und heute? Ist es nicht
viel eher die Kontinuität zwischen diesen beiden Phasen, die das Alltagsleben
der großen Mehrheit der Menschen kennzeichnet? Und die Unabhängigkeit von 2008?
Man muss sie nicht zurücknehmen wollen; man muss nicht von ihr abrücken wollen,
um sie als eine große Enttäuschung zu empfinden – je nach Grad und Tiefe der
Bitterkeit: als eine unvollendete Errungenschaft, als eine halbe Sache, als
eine leere Versprechung.
Und auch die
These von der ethnizistischen Manie und Verblendung
der internationalen Gemeinschaft im Kosovo findet breite Resonanz in der
albanischen Gesellschaft des Kosovo. Sie spricht vielen
Menschen hier aus der Seele. Sie ist keine Diffamierung des Minderheitenschutzes.
Die heillose ethnische Aufspaltung Bosniens ist im Kosovo sehr gegenwärtig.
Sollte sich die Ehrfurcht vor den Ethnien nicht spätestens mit der Fehlkonstruktion
von Dayton politisch kompromittiert haben? Das Befremden über die einzigartige
Privilegierung der kosovarischen Serben im
Ahtisaari-Plan beschränkt sich keineswegs auf nationalistische Kreise. Das
Überzogene, das Überkomplizierte, das Künstliche an diesem ausgetüftelten
Regelwerk; die politische Verlogenheit darin, der hinter dem Humanismus versteckte
Opportunismus, die anbiedernde Botschaft an die Adresse Belgrads trifft auch
bei Liberalen auf Unbehagen und Ablehnung. Der internationale Fokus auf den
Minderheiten im Kosovo wird generell als Fehlleistung, sogar als Absurdität
gewertet. In Gesprächen, sobald sie freimütig werden, kann man hören: Immer ist
nur von den Minderheiten die Rede, kaum je von uns, der Mehrheitsbevölkerung.
Zählen wir nicht? Haben wir etwa keine Rechte? Im Kosovo sind nicht nur die Roma
arm. Und in Mitrovica leidet nicht nur das
weltberüchtigte Roma-Lager unter der Bleiverseuchung des Bodens, sondern die
ganze Stadt.(1)
Dann kommt Albin Kurti
dazu. Er wirkt gelöst.
Er befindet sich hier auch nicht im gerichtlich verfügten Hausarrest, in dem
wir ihn beim letzten Mal besuchen mussten – mit Presseausweis und Reisepass
vorbei an mehreren Polizeibeamten auf der Treppe zu seiner Wohnung. Irgendwann
zieht er ein kleines Notizbuch aus der Tasche und liest eine Reihe von polar
angelegten Begriffspaaren vor, die mit unserem Gespräch auf das Vergnüglichste
korrespondieren:
Moderne –
Postmoderne:
Ökonomie –
Kultur
Klassen –
Ethnien
Entwicklung –
Stabilität ...
Fast ist man
versucht, der semantischen Serie Kurtis noch ein
weiteres Wort-Paar anzuhängen: Relevanz (60er-, 70er-Jahre) – Kompetenz
(immer seitdem).
Es ist
Sommer. Die Entscheidung für die Teilnahme von Vetevendosje
an den nächsten nationalen Wahlen ist noch frisch. Aber sie ist definitiv
gefallen – nach wochenlangen, sehr kontroversen Diskussionen, wie Kurti unterstreicht. Niemand kann wissen, dass so wenig
Zeit bleibt, und die Wahlen schon Ende des Jahres kommen – vorverlegt, weil die
Regierungskoalition zwischen PDK (Demokratische Partei, die Partei von Hashim Thaci) und LDK
(Demokratische Liga, die alte Partei Ibrahim Rugovas) auseinandergebrochen ist.
Es gibt in Prishtina ausgezeichnete Kenner der
gesamten politischen Szene, die diesen Sprung aus dem Protest in die Politik
für verfehlt und selbstzerstörerisch halten. »Als Politiker wird er scheitern«,
so ein Mitarbeiter der International Crisis Group. Er
kennt Albin Kurti seit dem gemeinsamen Studium an der
Universität in Prishtina und hat seinen politischen
Weg seit Langem verfolgt – bisher immer mit großem Einfühlungsvermögen und
kritischem Verständnis.
Der
merkwürdig apodiktisch anmutenden Prognose ist eine Sorge anzumerken, auf die
man in diesen Wochen immer wieder trifft: Der unbeugsame Rebell – gestern gegen
das Milosevic-Regime, heute gegen die Machenschaften der eigenen Elite; der
furchtlose Kritiker amerikanischer und europäischer Großmacht-Anmaßung; der
Denker eines aufgeklärten nationalen Eigeninteresses – dieser integre Mann und beeindruckende Rhetor kann nur verlieren,
wenn er »ins System geht«. »Wir gehen nicht ins System; wir nehmen nur an
Wahlen teil«, entgegnet Albin Kurti darauf. »Wir
bleiben, wer wir sind.« Er scheint fest überzeugt,
dass der politische Betrieb der Bürgerbewegung nichts anhaben kann. Dass Vetevendosje in dem neuen Kontext nichts verliert – nichts
von seiner Unabhängigkeit, nichts von seiner Außenansicht, nichts von seinen
Handlungsmöglichkeiten, sondern im Gegenteil einige neue Ebenen oder Foren der
öffentlichen Intervention hinzugewinnt.
Auch in
Tirana stößt diese Selbstsicherheit, dieses stolze Gefühl der politischen Unantastbarkeit
übrigens auf tiefe Skepsis. Sie kann hier sogar noch böser, ätzender ausfallen
und fast schon die Farbe des Hohns und der Verachtung annehmen. Begreiflich vielleicht
vor dem Hintergrund des albanischen postkommunistischen Machtsystems, das der
in Albanien und auch im Kosovo hochgeachtete politische Schriftsteller Fatos Lubonja im Gespräch »irgendwo zwischen Putin und
Berlusconi« ansiedeln möchte. Zenel Hoxha, heute Präsident und CEO der British Chamber of Commerce and Industry in Albania, früher ein politischer Publizist von Rang,
verweist uns auf den Fall der NGO »Mjaft!« (Genug!)
und ihres Sprechers Erion Veliaj,
der einmal ein Geistesverwandter von Albin Kurti zu
sein schien, inzwischen aber bei den Sozialisten Edi Ramas
gelandet sei und »seine Identität gänzlich eingebüßt« habe.
Der Wahlerfolg des parlamentarischen
Newcomers im Dezember
ist ein Ereignis, ein unübersehbares Zeichen von unten, aus den schweigenden
Massen des Kosovo heraus, das erst einmal interpretiert werden will. Es ist ein
deutliches Votum, aber kaum ein emphatisches oder gar rückhaltloses. Für
politischen Enthusiasmus sind die allermeisten Menschen im Kosovo inzwischen
viel zu zermürbt, zu verbraucht, zu müde. Dafür fühlen sie sich viel zu
schwach, zu abhängig, zu ohnmächtig. Ihre Alltagserfahrung, ihr Alltagswissen
spricht für Albin Kurti, aber ebenso auch gegen ihn.
Für ihn spricht, dass er ein einfaches Leben führt; dass er nicht zu den neuen
Herren zählt – er mag die Leute nach Stil und Geist eher an die hier seit jeher
geachteten sozialen Figuren des selbstvergessen bemühten Lehrers oder des
Gelehrten erinnern. Für ihn spricht, dass er nicht mit zwei oder drei Zungen
spricht, sondern nur mit einer, mit seiner – gleichgültig, wo und zu wem; dass
er eine zivile, unmartialische Form der Tapferkeit
verkörpert und zu leiden versteht, wenn es sein muss. Gegen ihn spricht aber –
und zwar massiv, dass er sich in eine absurd unrealistische Konfrontation mit
den übermächtigen Gewalten verstrickt, verbissen hat, die über das kleine Land
verfügen. Der junge Angestellte an der Rezeption des Hotels, der Albin Kurti gerade noch einen gewissen Respekt gezollt hat,
explodiert auf einmal fast vor Ungeduld, vor Zorn, als er auf das dauernde,
allseitige Kämpfen kommt: »Wir können doch unmöglich gegen alle kämpfen. Das
geht total über unsere Kraft. Wir haben gar keine Kraft mehr! Wir sind froh,
wenn wir irgendwie durchkommen!«
Welchen Sinn
hätte auch die Kernforderung Albin Kurtis nach
»Selbstbestimmung«, die seiner Bewegung den Namen gegeben hat, in einem Land, das
sich von der EU unabsehbar auf Distanz gehalten, ausgegrenzt sieht und bislang
– anders als die anderen Staaten des Westbalkans, anders als die Ukraine,
anders auch als das von keinem einzigen EU-Mitglied anerkannte Taiwan –
vergeblich sogar auf eine Liberalisierung des Visa-Regimes wartet. (Vgl. jetzt »European Stability
Initiative: Isolation Confirmed«, Berlin, Brussels, Pristina
22. November 2010). Ganz
zu schweigen von der Einleitung von Integrationsverhandlungen des Kosovo mit
der EU. Welchen Sinn hätte der hohe, noble, emanzipatorische Anspruch, sein
politisches Schicksal endlich in die eigenen Hände nehmen zu dürfen, angesichts
der chancenlos jedes Jahr neu auf den Arbeitsmarkt drängenden jungen Menschen,
die dringend, existenziell auf eine Öffnung der europäischen Arbeitsmärkte
angewiesen wären – statt auf Massenabschiebungen wie aus Deutschland?
Im Frühjahr
und Sommer war eines der großen, aktuellen Themen im Kosovo das Vorgehen von
EULEX gegen Fatmir Limaj, den mächtigen, schwer
korruptionsverdächtigen Transport- und Posttelekommunikationsminister der
Regierung Thaci. Worauf das ganze Land damals hoffte
und doch – aus profundem Misstrauen, aus alter Erfahrung mit den hier seit dem
Krieg operierenden internationalen Organisationen – nicht wirklich zu hoffen
wagte, war ein Durchgreifen der Rechtsstaatsmission. Ein konsequentes
rechtliches Durchgreifen – unabgelenkt, ungebremst
von politischen Opportunitätsgründen, wie sie von den Vertretungen der maßgeblichen
Staaten in Prishtina zu kommen pflegen. Wen könnte in
dieser Situation die Forderung nach »Souveränität« überzeugen, wie Albin Kurti sie bis heute immer wieder vorträgt? Der
Unabhängigkeit seit 2008, die sonst unerfüllt und formal bleibe, müsse die
echte politische Souveränität folgen. In unserem Fall hieße das: Entmachtung
von EULEX, Reduzierung der Mission auf bloße Beratungsfunktionen. Die breite
Öffentlichkeit im Kosovo verlangt ganz im Gegenteil, dass EULEX seine exekutive
Gewalt endlich anwendet. Zunächst muss sie faktisch umgesetzt werden – im
gebieterischen Interesse des Landes. Bevor man sie wieder abschafft.
Näher am Puls des Kosovo ist Albin Kurti mit seiner Perspektive eines Zusammenschlusses von Kosovo
und Albanien. Wenn man das sogleich und fast reflexhaft mit »Großalbanien«
assoziiert, hat man sich ein unbefangenes Verständnis bereits verstellt. Man
denkt dann unwillkürlich an »Großdeutschland«, »Großungarn«, »Großserbien« oder
»Großkroatien«, und die auf mehrere Staaten verteilte albanische Nation von
heute steht flugs unter dem Verdacht, einen ähnlich blutigen Chauvinismus
auszubrüten. Eines Interviews für eine unserer großen Zeitungen wird Albin Kurti erst seit Kurzem für würdig befunden – so sagte er
neulich der NZZ (9.12. 10): »Erstens benutzen wir nicht den Begriff
Großalbanien; wir sprechen von einer Vereinigung von Kosovo und Albanien. Und
zweitens fordern wir dies nur als ein Recht, wie es jedem souveränen Staat zusteht.
Wenn Frankreich und Deutschland sich vereinigen wollen, kann sie niemand daran
hindern – zwei Referenden, und die Sache ist erledigt. Warum soll Kosovo nicht
dasselbe Recht haben? Wir sind gegen den Verfassungsartikel 1.3, der festhält,
dass Kosovo sich nicht mit einem anderen Staat vereinigen soll. Das erinnert
mich an Breschnews Konzept der beschränkten Souveränität sozialistischer
Staaten.«
Hätte sich
die Option Kosovo – Kosovo als ein neuer Nationalstaat auf dem Balkan – etwa
bereits überlebt? Gerade erst feierlich aus der Taufe gehoben und schon wieder
abgestorben? Unter entsetzlichen Opfern erkämpft und doch schon wieder delegitimiert und aufgegeben? Man macht ein Land nicht
ungestraft zu einem Dauerlabor für politische Experimente – auch ein so kleines
und hilfloses Land nicht. Europa lässt ein Land in Europa nicht ungestraft
darben und verkommen – auch das Kosovo nicht. Dann gäbe es eine – noch stille,
noch untergründige – Abwendung der Kosovo-Albaner von ihrem jungen Staat? Und
sie wäre die Rechnung des Volkes für die Politik der internationalen
Gemeinschaft und vor allem Europas? Und auch die Rechnung an die Adresse der »politischen
Klasse« des Landes, die im Schatten und Schutz der Internationalen vor Ort über
den unfertigen Staat verfügt, als sei er ihre Domäne, ihr Eigentum? Man fragt
sich bei uns gern, warum uns diese besessenen Kosovo-Albaner denn unbedingt
einen unmöglichen, lebensunfähigen Kleinstaat zumuten und aufhalsen müssen.
Vielleicht sollten wir uns besser fragen, was die EU tun kann, um diesen Staat
in den Augen seiner eigenen Bürger einigermaßen zu rehabilitieren.
Aber das
erfasst die eigenartige politische »Obdachlosigkeit« (Siegfried Kracauer) nicht
genau, die der Besucher im Kosovo heute ahnt. Wir sollten vermeiden, der
Entwicklung vorauszueilen. Die besondere Verbundenheit mit den Albanern in
Albanien ist im Kosovo natürlich nichts Neues. Ein Freund, Ende 40, der in der
Gegend von Prizren aufgewachsen ist, erzählt von
seinem schmerzlichen Befremden, von seiner Fassungslosigkeit, als ihm als Junge
schlagartig die Grenze, die geschlossene Grenze zwischen Jugoslawien und dem
Albanien Enver Hoxhas bewusst geworden sei. Die gewaltsame, hermetische
Trennung von den keineswegs fremden, vielfältig nahe stehenden, verwandten
Leuten jenseits der Grenze habe er als Kind als etwas Widernatürliches, Menschenwidriges
empfunden. Auch die dem Kosovo als dem letzten Nachfolgestaat des in Kriegen
untergegangenen Jugoslawiens international oktroyierte Auflage, sich nicht mit
Albanien zu vereinigen, ist hier immer nur hingenommen, niemals akzeptiert
worden. Die Auflage ist hier immer nur als ein Tabu empfunden worden. Und das
Tabu ist immer nur aus Ohnmacht, aber durchaus auch aus Verständnis für ein in
Jugoslawien jämmerlich gescheitertes, zerstrittenes, überfordertes,
gedanklich-strategisch auf ein zwanghaftes Krisenmanagement reduziertes Europa
stillschweigend geschluckt worden. Heute, soviel lässt sich sagen, wird es
nicht mehr geschluckt. Die Ohnmacht hat sich keineswegs entschärft, aber das
Verständnis für Europa ist merklich erkaltet.
Die Geduld
mit der westeuropäischen Öffentlichkeit scheint glücklicherweise dennoch nicht
ganz aufgezehrt. In Gjakova, unweit der albanischen
Grenze und traditionell eng – ein Freund nennt es »ethnopsychologisch« – mit
Nordalbanien verknüpft, sprechen wir lange mit Mentor Kaci,
einem leitenden Angestellten einer Fachhochschule in Peja,
über die albanische nationale Frage. Mentor Kaci legt
den Akzent auf ihre Entdämonisierung. Es ist in seinen Augen die erste Aufgabe
– eine schwierige, langwierige Aufgabe. »Wir müssen unser Anliegen, unseren
friedlichen Wunsch nach nationaler Einheit der Welt zuerst einmal darstellen,
verdeutlichen, vermitteln. Das ist es, woran wir arbeiten müssen.« Man kann
ruhig mal ein bisschen staunen: In dieser Sicht sind die Aufklärer zur
Abwechslung einmal die Albaner – und die Adressaten sind zur Abwechslung einmal
wir.
Es geht im
Kosovo nicht – noch nicht – um Grenzveränderung und Staatenbildung. Dafür gäbe
es auch in Tirana gegenwärtig gar keinen ernsthaften Ansprechpartner. Aber es
geht auch nicht nur um Gefühle: um die alte, historische, wenn auch keineswegs
störungs- und spannungsfreie Erfahrung der sprachlichen, kulturellen, verwandtschaftlichen
Nähe. Genauer gesagt: um die Anerkennung dieser Gefühle durch ein gerade in
seiner außenpolitischen Schwäche und Unschlüssigkeit verhärtetes, voreingenommenes
Europa.
Es geht
aktuell vor allen Dingen einmal um die konkrete infrastrukturelle und ökonomische
Vernetzung des Kosovo mit Albanien und überhaupt mit den albanischen Siedlungsgebieten
in der Region – gedacht, gewollt, geplant als der grundlegende Schritt aus der
gezielten epochalen Unterentwicklung der serbischen Provinz, aus dem gezielten
Ruin des Krieges, aus der international zu verantwortenden Isolierung und
Stagnation der Nachkriegszeit heraus. Es ist die eigentliche, die sich zwingend
aufdrängende Selbsthilfe – auf dem Weg nach Europa, richtiger: im Vorgriff auf
ein abwartendes, sich in der Krise gar verschließendes Europa. Man muss nur
einmal in kosovo-albanischer Begleitung die neue
Autobahn von Prizren nach Durres
fahren, der Hafenstadt an der Adria. Dann ist diese Perspektive des Aufbruchs
und der Hoffnung mit Händen zu greifen. Ihr Begleiter wird Ihnen seine Freude,
nein: sein Glücksgefühl über die neue Straße signalisieren – egal wie wenig
befahren sie noch ist; egal wie monströs die gigantischen Bauten der Autobahn
die natürliche Landschaft vergewaltigen; egal wie furchtbar arm die Dörfer am
Rand sind. Er wird Sie selbst auf diese Dörfer aufmerksam machen. Er kennt ihr
Elend. Er weiß aus der persönlichen Anschauung vieler Jahre, wie arm Albanien
ist – skandalös arm, wenn man an seine Oligarchen, Kriminellen und Neureichen
denkt. Ihr Begleiter wird diese Autobahn dennoch als eine kapitale Investition
in die Zukunft werten. In die Zukunft auch und gerade des Kosovo, wenn das
Kosovo bisher auch noch nichts produziert, das im Hafen von Durres
verladen werden könnte.
1
Woher
kommt der Minderheiten-Kult Europas im Kosovo? Das wäre ein Thema für einen
weiteren Text. Um es zu verstehen, muss man weit ausholen und bis auf das
gründliche Scheitern des in den Friedenverträgen von 1918/19 festgelegten
Minderheitenschutzes zurückgehen. Die Klauseln des Minderheitenschutzes sind in
den neuen Staaten Osteuropas Papier geblieben. An die Stelle des
Minderheitenschutzes trat zudem bereits Anfang der Zwanzigerjahre der staatlich
organisierte Bevölkerungstransfer zur Sicherung der politischen Stabilität, der
dann unter den totalitären Regimen Hitlers und Stalins, aber unmittelbar nach
dem Zweiten Weltkrieg durchaus auch von den westlichen Alliierten zu
ungeheuerlichen Dimensionen ausgeweitet und radikalisiert worden ist. Die
Europäische Gemeinschaft hat sich von Anfang an in ihrem Selbstverständnis von
diesen Verfahren der Massenentrechtung und Massenvertreibung grundsätzlich
abgegrenzt und wieder an die Ende des Ersten Weltkrieges ursprünglich
anvisierte liberale, an der Wahrung kollektiver Grundrechte orientierten
Rechtsordnung angeknüpft. Diese umfassende Revision, diese Distanzierung
Europas vom integralen Nationalismus und die Rückbesinnung auf die Lebensinteressen
der Minoritäten und bedrohten Völker hat freilich in den Jugoslawienkriegen,
vor allem im Bosnienkrieg der Neunzigerjahre, einen katastrophalen Rückschlag
erlitten. Es waren Kriege gegen die Zivilbevölkerung. Die »ethnischen
Säuberungen«, die immer wieder in Massenmord, in Völkermord übergingen, waren
keine Begleiterscheinungen dieser Kriege, sondern ihr eigentlicher Sinn und
Zweck.
Europa
hat dieser verbrecherischen Gewaltpolitik in seiner Mitte jahrelang untätig und
indifferent zugesehen. In Dayton sind die Resultate des systematischen
Vertreibens und Mordens in Bosnien dann festgeschrieben und legalisiert worden.
Dieser Verrat Europas an sich selbst und seinen unentwegt beschworenen
»Werten«, dieser Verrat der amerikanischen Demokratie an sich selbst, dieser
Verrat der Vereinten Nationen an sich selbst und ihrem umfassenden
Friedensgedanken soll anscheinend im Kosovo wiedergutgemacht werden. Nicht in
Bosnien selbst etwa, sondern im Kosovo – dort scheint es leichter. Nicht über
eine Auseinandersetzung Europas mit seinem Versagen im zerfallenden, im
zerschlagenen Jugoslawien, sondern mittels einer rigiden politischen Pädagogik
gegenüber einem kleinen Land – das ist billiger.