Michael Ackermann
Hektik und Erschöpfung
Erkundungen der Informations- und Selektionsgesellschaft
Der Cyberwar digitaler Mächte
ist bedrohlich. Die Freiheit im Netz ist gefährdet. Aber wie frei ist das Netz
der »User«? Effektvoll wird es von großen Playern mit neuen Formaten und
Verhaltensmustern gefüllt. Emanzipativ? Oder bilden Hyperaktivität und
Erschöpfung zwei Seiten der neuen virtuellen Medaille? Ein Ausblick auf
kritische Einwürfe und Studien.
Die Entwicklung der
Menschheit ist in den vergangenen 2,5 Millionen Jahren langsam und
kontinuierlich verlaufen, was sich seit Beginn der Industrialisierung
signifikant verändert hat. Aber erst die seit den 80er-Jahren explodierende
Entwicklung der Mikroelektronik führte zu einem beängstigenden Auseinanderdriften
von anthropologischer und technologischer Entwicklung.«
So sagt es Bernhard E. Bürde in einem Beitrag in Der digitale Wahn. Vor
gut zehn Jahren erschienen, war es ein Versuch, die Entwicklung der digitalen
Welt einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Da waren die Zeiten, als man
sich über die Langsamkeit von DOS-Systemen beschwerte und die Kritik an
benutzerunfreundlicher Software noch dominierte, auch schon wieder vorbei. Noch
heute gültige Probleme wurden damals jedoch schon aufgeworfen: Informationsüberflutung.
Halbwertzeit, Zugang und Verarbeitung von Informationen. Unterscheidung von
Fiktionalität und Wirklichkeit. Befähigung zur Konzentration.
Cyperspace und anthropologische Zukünfte
Von skeptischen
Ausblicken auf die Entwicklung der »digitalen Gesellschaft« hat diese sich
naturgemäß nicht aufhalten lassen. Es hat sich eine Ausweitung der Neuen Medien
vollzogen, deren Potenziale wir kaum abschätzen können. Was wir jedoch sagen
können ist, dass schon an ihrem Anfang starke Fantasien über virtuelle
Realität, künstliche Intelligenz und den Cyberspace stehen. Zu den kritischen
Optimisten von heute gehört Manfred Faßler, der in Nach
der Gesellschaft. Infogene Welten – anthropologische Zukünfte von einem »Ende der Gesellschaftszeit«
schwärmt. Durch die Anthropologie des Medialen wird von ihm die
»personalisierte Individualität« infrage gestellt. Er zielt damit auf einen
Siegeszug der künstlichen Intelligenz und hofft auf die »Chance, zu einer neuen
Kooperations-Intelligenz zu gelangen«. Sie baut auf die Logik von
Zufallsgemeinschaften. Nach Faßler wird
Dauerhaftigkeit von Stabilität und ständiger anpassender Veränderung verdrängt
und es »entsteht eine informationell neu zusammengesetzte, medienintelligente
›Menschheit‹«. Die Menschen werden somit zu einem »Datenkörper«, für den sie
auf viele ihrer örtlichen, lokalen, identitäts- und kulturexklusiven
Selbstzuschreibungen verzichten müssten. »Nur Künstlichkeit bringt Gewinn.
Künstlichkeit schafft Welt.« Die Befürchtungen
mancher, der Mensch lasse sich an das Null-Eins-Prinzip der Algorithmen
anpassen (Schirrmacher), teilt Faßler gerade nicht.
Faßlers kybernetische
Entwicklungsfantasien streben eine Utopie von Entkörperlichung
und Enträumlichung an. Doch hält diese Idee den
gegenwärtigen Entwicklungen in der Globalisierung noch nicht stand. Nie zuvor
vollzog eine derart große Anzahl von Menschen real so weitreichende räumliche
Veränderungen. In seiner Schrift Das Niemandsland der Kulturen
beschreibt Pravu Mazumda
diese Bewegungen als eine doppelte. Migration und Tourismus sind
entgegengesetzte Bewegungen in unterschiedliche »Glücksräume«. Während die
einen sich auf die Pfade der Sehnsucht nach Arbeitsunterbrechung begeben, gehen
die anderen auf der Suche nach Arbeit und Existenz den umgekehrten Weg. Historisch
mit Eroberung der Neuen Welt und der Erfahrung des Kolonialismus verbunden,
bringt diese doppelte Bewegung eben nicht nur Daten- und Informationsströme,
sondern neue oder verwandelte Orte des Seins hervor. Nicht Entmaterialisierung
und Virtualität stehen hier im Zentrum, sondern körperabhängige und stoffliche
Existenz- und Seinsweisen, denen die virtuellen Netze
allerdings eine zusätzliche Dynamik verleihen.
Auch aus einer
immanenteren Perspektive werden die Hochfantasien des Cyperspace
kritisch betrachtet, nämlich in Gadget von Jaron
Lanier, einem der Begründer und Mentoren der virtuellen Realität. Ursprünglich
emphatisch, ist er mittlerweile zu einem Skeptiker dieser virtuellen Realität
geworden (siehe Peter Mosler, S. 14). Gegenüber einer
vermeintlichen Schwarmintelligenz sieht Lanier die Rolle und Verantwortung des
Individuums zunehmend schwinden. Er sieht auch Schwarmdummheit und den Verlust
einer individuellen Verantwortung. Das Netz fördert danach weniger die
Individualität als jene neuen Formate zutage, in denen sich die User weitgehend
formatiert bewegen (müssen). Facebook und Twitter sind für Lanier keine Bereicherungen, sondern
Medien mit der Gefahr individueller Verarmung und persönlicher Ausspähung. Der
Web-Pionier widerspricht der Annahme, dass das Web 2.0 per se die Möglichkeiten
der Teilnahme und Anteilnahme, der Demokratisierung und Individualisierung
fördere. Er widerspricht damit der emphatischen Erwartung, im Cyberspace werde
sich die Abhängigkeit des Einzelnen von gesellschaftlichen Machtverhältnissen
verringern und die Emanzipation der Individuen, quasi einer Eigenlogik folgend,
ausweiten.
Realitäten und Fakten
Die Annahme, eine
höhere Seinsstufe der Weltentwicklung werde durch neu
auftauchende virtuelle und mediale Qualitäten charakterisiert, ist dem Glauben
an steten Fortschritt geschuldet. Doch die Annahme, dass die Zunahme von
Quantitäten gesetzmäßig, also dialektisch, in eine neue Qualität umschlägt, hat
sich als zweifelhaft erwiesen. So geht auch Stefan Münker
in Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die
Sozialen Medien im Web 2.0 davon aus, dass sich das Netz nicht von einer
bloßen Litfaßsäule in einen qualitativ anderen Lebenszusammenhang verwandelt.
»Digitale Medien determinieren ihren Gebrauch nicht; digitale Medien entstehen
erst durch ihren Gebrauch!« Gegen die Vorstellung,
das Web 2.0 erzeuge eine neue enthierarchisierte
Öffentlichkeit und Medienlandschaft, hält er fest, dass das Internet zwar die
Strukturen der Öffentlichkeit verändert, darin aber durchaus auch die
Möglichkeit einer Ernüchterung liege. Zwar stellen die neuen Medien der
digitalen und sozialen Netzwelt … den medialen Alleinvertretungsanspruch der
alten Medien der analogen Industriekultur infrage, aber das Netz bildet
gleichwohl auch Zentren aus, privilegierte Schnitt- und Anlaufstellen, wie
nicht nur das Ranking bei Google beweist (Fischbach). Das Web liefert erst
einmal nur die »Hardware für die Enträumlichung einer
verdichteten und beschleunigten Kommunikation, … kann jedoch von sich aus der
zentrifugalen Tendenz nichts entgegensetzen«.
Die Ernüchterung über
die Potenziale der »Netzwerkgesellschaft« lassen sich empirisch bekräftigen. In
seiner Dissertation Neue Demokratie im Netz? Eine Kritik an den Visionen der
Informationsgesellschaft expliziert Jan-Felix Schrape die Ergebnisse von
breitflächigen Untersuchungen über das Nutzerverhalten im Netz. In Kontrast zu
euphorischen Studien auf minimaler Beteiligungsgrundlage (etwa bei Schindl und Seber) führt Schrape
nüchterne Daten an.
So halten die
unreflektierten Erwartungen aus dem Bereich der Anwender den Entwicklungen in
der Bevölkerungsmehrheit bislang nicht stand (ganz abgesehen vom weltweiten
Gefälle zwischen Nordamerika, Europa und anderen Weltgegenden). Zwar ist die
Online-Durchdringung in Deutschland mittlerweile recht hoch, die
Informationsquellen im Netz bleiben jedoch an die »Leitmedien« gebunden. Blogs
und Podcasts nutzen bisher nur drei beziehungsweise zwei Prozent der Befragten.
Ihr Einfluss auf die Wirklichkeitsbeschreibung bleibt bisher also gering. Das Web
steigert eher die Effizienzstruktur bisheriger kommunikativer Strukturen. Zwar
hat die Sichtbarkeit alternativer Inhalte im Web deutlich zugenommen, doch
täuscht eine pauschalisierende Betrachtungsweise über ihre marginale Bedeutung
hinweg. Noch ist es so, dass unbekannte Blogs prominente Weblogs äußerst häufig
verlinken, aber nur selten eine Verlinkung
zurückerhalten. Bekannte Blog-Autoren verlinken sich dagegen wechselseitig
regelmäßig. So bleibt die Hierarchie der Aufmerksamkeit erhalten. »Die Annahme,
dass die neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten im Online-Nexus zu einer
Demokratisierung in der gesellschaftsübergreifenden Realitätskonstruktion
führen könnten, kann folglich bislang kaum bestätigt werden«, fasst der Autor
im Stile trockener Zurückhaltung zusammen. Weiterhin bewegen wir uns im Rahmen
einer Selektionsgesellschaft.
Schrape weist auch
auf die Bedeutung der unterschiedlichen Zeitbudgets der verschiedenen
Altersgruppen im Netz hin. Je jünger die Personen, desto mehr Zeit wird für das
Internet aufgewendet, je älter die Personen, umso weniger sind sie im Netz
aktiv. Nicht weil sie medial gesehen konservativ sind (die Älteren holen bei
der Netzaktivität deutlich auf), sondern weil sie mehr Zeit für Arbeit und
andere Lebensbereiche aufwenden müssen. Für eine alternde Gesellschaft ist das
ein wichtiger Befund. Auch die Sicht auf die sozialen Milieus bestätigten die
Annahmen über die bisherige Marginalität des Web 2.0.
Jenseits wissenschaftlicher und intellektueller Foren, alltäglicher Minimalkommunikation
und der Aufmerksamkeit erheischenden Blogs ist das Web 2.0 vornehmlich ein
Medium für Spiel und Unterhaltung.
Diese Hinweise auf
die bedingte Wirkmächtigkeit des Webs in Sachen Demokratie und Beteiligung
ändern jedoch nichts an der Tendenz zur Ausdehnung einer hektischen
Selbstoffenbarung und Allgegenwärtigkeit in der neumedialen Präsenz(-pflicht). Ein schönes Beispiel für das Hamsterrad der
Informationsjunkies liefert Alex Rühle in Ohne Netz. Als der Journalist
der SZ für einige Zeit offline geht, stellt sich nach ersten heftigen
Entzugserscheinungen keine »soziale Katastrophe« ein, sondern eine sinnliche
Neuentdeckung der Welt. So eröffnet uns Rühle auch den Blick auf die schwarzen
Löcher der Medienwelt und die neuen Hierarchien, die die Tendenz zur Aufgabe
von Bindungen und Stetigkeit begünstigen: »Schwache Bindungen sind für die
Erfolgschancen von Individuen und ihre Integration in Gemeinschaften
unverzichtbar«, resümiert Schrape! Es heißt, ständig variabel und flexibel zu
sein. Hinzu kommt: Je mehr Preisgabe der Persönlichkeit, desto relevanter ist
sie im Netz. So entsteht die Tyrannei der Intimität auch auf den Klowänden des
Internet. Und umso kontrollierbarer wird potenziell der Einzelne im Transfer
seiner Daten und Bilder.
Der Hintergrund dieser
Entwicklung beruht nicht nur auf der Beschleunigung der Medien und der sozialen
Netzwerke. Sie verstärken nur die Tendenzen einer Gesellschaftsentwicklung
voller Mobilität und Höchstgeschwindigkeit. Deren Dynamik besteht grundsätzlich
in einer Wechselwirkung aus erhöhter Aktivität und sich ausweitender
Passivität/Erschöpfung. Wie und warum das?
Depression und Aufmerksamkeitsfalle
In seiner kleinen
Schrift Müdigkeitsgesellschaft überschreitet der in Karlsruhe lehrende
koreanische Philosoph und Medientheoretiker Byung-Chul
Han die Grenze der rein medialen Sphäre und unterbreitet in ein paar
zusammenhängenden Essays über das »neuronale Zeitalter« eine Theorie der
postmodernen Gesellschaft. Zunächst einmal unterscheidet er das »bakterielle
Zeitalter«, das mit der Erfindung der Antibiotika endete, vom vergangenen
Jahrhundert, das er das »immunologische Zeitalter« nennt. Warum? Weil dieses
Jahrhundert mit Kriegen und Kaltem Krieg real und in seinen Metaphern von
Angriff und Abwehr bestimmt wurde und auch der Abwehr des Fremden verschrieben
blieb. »Der Gegenstand der Immunabwehr ist die Fremdheit als solche. Selbst
wenn der Fremde keine feindliche Absicht hat, selbst wenn von ihm keine Gefahr
ausgeht, wird er aufgrund seiner Andersheit eliminiert.«
Nun würde man denken,
dass diese Beschreibung exakt auf unsere Gegenwart und die Versuche von
Grenzziehungen und Feinddiskursen passt. Das jedoch sieht Byung-Chul
Han ganz anders. Das neue Zeitalter ist für ihn wesentlich eines der Entgrenzung. Entgegen aller Versuche, die Grenze zu
fixieren oder zu verstärken – ob nun nationalstaatlich-geografisch oder als ein
System lokaler Werte –, vollzieht sich fast unbemerkt ein Paradigmenwechsel.
»Heutzutage tritt an die Stelle der Andersheit die Differenz, die keine
Immunreaktionen hervorruft. … Das Fremde weicht dem Exotischen. Der Tourist
bereist es. Der Tourist oder der Konsument ist kein immunologisches Subjekt
mehr.« Das neue Subjekt unterliegt einer Art von Hybridisierung und allgemeiner
Promiskuität in allen Lebensbereichen. War einst eine Dialektik der Negativität
der Grundzug der Immunität, so tritt nun an ihre Stelle eine Dialektik der
Positivität. In den neuronalen Erkrankungen sieht der Autor die »pathologischen
Zustände, die auf ein Übermaß an Positivität zurückzuführen sind«.
Was heißt das? Ein
Zuviel an Gleichem, eine gigantische Ansammlung von Überproduktion,
Überleistung oder Überkommunikation. Aus diesem Über, Zuviel und Dauernd
erwächst der Terror der Immanenz – und treibt die neuronalen Krankheiten wie
Depression, ADHS und Burnout-Syndrom hervor. Es sind Reaktionen einer
Gesellschaft, die längst von der foucaultschen
Disziplinar- zur Leistungsgesellschaft übergegangen ist. »An die Stelle von
Verbot, Gebot oder Gesetz treten Projekt, Initiative und Motivation. Die
Disziplinargesellschaft ist noch vom Nein beherrscht. Ihre Negativität
erzeugt Verrückte und Verbrecher. Die Leistungsgesellschaft bringt dagegen
Depressive und Versager hervor.«
Die Positivität des
Könnens ist also weitaus effizienter als die Negativität des Sollens. Nicht die
allseitige Kontrolle stellt das Wesentliche in der Leistungsgesellschaft dar,
sondern das ständige Wollen des Einzelnen und seine Erschöpfung von der
Anstrengung, er selbst werden zu müssen. Der Exzess der Arbeit und Leistung verschärft
sich zur Selbstausbeutung und -optimierung. In diesem Prozess verflacht auch im
Multitasking die einmal vorhandene tiefe Aufmerksamkeit und wird von einer
Kultur der Hektik abgelöst. Alle sind ständig und immerzu beschäftigt.
Hyperaktivität ist aber ein Symptom der Erschöpfung. »Statt Freiheit bringt sie
neue Zwänge hervor. Es ist eine Illusion zu glauben, je aktiver man werde,
desto freier sei man.« Das Gegenteil ist der Fall. »Die zunehmende Positivierung der Welt macht sie arm an Ausnahmezuständen.
… Im Zuge jener allgemeinen Positivierung der Welt
verwandeln sich sowohl der Mensch als auch die Gesellschaft in eine autistische
Leistungsmaschine.« Der Exzess der Leistungssteigerung führt zum Infarkt
der Seele.
Die Überlegungen von Byung-Chul Han sind, zumal unter Berücksichtigung der neuen
Dauerbeanspruchung im Internet und Web 2.0, nicht leicht von der Hand zu
weisen. Zwar mag ein Grundgefühl der Gegenwart ein Ausgeliefertsein an die
Umstände sein, doch ist diese zumindest mit einer Selbstauslieferung und
Selbstoptimierung verbunden. Der »Zwang-zu« und die »Lust-an« werden
symbiotisch, sind schwer voneinander zu trennen. Das stete Ringen um
Aufmerksamkeit und Anerkennung ist das Signum einer individualisierten
Leistungsgesellschaft. Dass diese Anerkennung im gewünschten Maßstab erfolgt,
wird jedoch proportional unwahrscheinlicher, je mehr TeilnehmerInnen
sich an diesem Ringen beteiligen. Die Exklusivität wird zu einem immer rareren
Gut, je mehr Exklusivtätstüchtigkeit abgerufen werden
soll oder kann. Der Hang zum Mitmachen hängt dabei weniger von einem äußeren
Zwang als von der Sehnsucht nach Teilnahme und Auszeichnung ab. Je mehr
Plattformen zur Äußerung und Entäußerung in den »sozialen Netzwerken«
existieren, umso geringer wird die Tiefe der Aufmerksamkeit ausfallen können.
Über die Beschleunigung und die Folgen dieser Entwicklung können wir bislang
allerdings wenig sagen, weil wir uns mitten in dieser Beschleunigungsbewegung
befinden.
Kulturpessimismus oder Nullmedium?
Als das
Privatfernsehen ab 1986 so richtig ins Rollen kam, nahmen die kulturkritischen
Stimmen zu. Gegen den vermeintlichen Hang zur kulturpessimistischen
Übertreibung warf sich Hans Magnus Enzensberger 1988 in seinem Essay »Das
Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind« in
die optimistische Brust des Verteidigers eines allseits souveränen
Medienteilnehmers: »In der Nullstellung liegt … nicht die Schwäche, sondern die
Stärke des Fernsehens. … Man schaltet das Gerät ein, um abzuschalten. … Das
Fernsehen wird primär als eine wohldefinierte Methode zur genussreichen
Gehirnwäsche eingesetzt; es dient der individuellen Hygiene, der
Selbstmedikation. Das Nullmedium ist die einzig universelle und massenhaft
verbreitete Form der Psychotherapie.«
Enzensberger ging davon
aus, dass auch mittels des Zappens die »extremste Zerstreuung« in »hypnotische
Versenkung umschlägt« und damit der »Transzendalen
Meditation recht nahe« kommt. Der Fernseher erschien ihm als »buddhistische
Maschine« und der »Zuschauer als ein Säugling, dem der Zustand völliger
Selbstvergessenheit vergönnt ist«. Enzensberger ortet die Fernsehteilnehmer
hier noch zwischen Alltagsschlau und Bewusstlose. Vielleicht konnte er so wenig
wie andere ahnen, wie sich das Medium Fernsehen zu einem »Mitmachmedium«
entwickeln würde. Sein Irrtum lag wie der vieler anderer jedoch darin, dass er
Brechts Medientheorie von der möglichen Emanzipation des Empfängers zum Sender
als leitenden Gedanken übernommen hatte. Schon die alternative Radiobewegung
musste dann bitter lernen, dass ihre Ressourcen ein knappes und nur kurzeitiges
Gut waren. Mit der ökonomischen Macht von Medienkonzernen und der Entwicklung
des Quotensystems bekamen allerdings jene »recht«, die der Quote nach wissen,
was die Zuschauer sehen und sehen wollen.
Weiter als
Enzensberger war damals schon Luhmann. Er konstatierte, dass das Reich der
Massenmedien letztlich kein autonomer Bezirk ist, sondern seine
Eigengesetzlichkeiten in Abhängigkeit von ökonomischen und politischen
Einflüssen und Variablen entwickelt. Somit ist auch das »Gesetz der Quote«, wie
wir es heute kennen, kein inneres mediales Gesetz, sondern ein wirtschaftlicher
Messrahmen mit Einwerbungsmöglichkeiten, der politisch hervorgerufen und
kulturell überformt ist. Dieser Exzess der ökonomischen Überformung ist auch in
den medialen und sozialen Netzwerken längst angekommen. Ob diese Macht und diese Hierarchien von
einer Gemeinschaft der User durchbrochen werden kann, das ist die offene Frage.
Jaron Lanier: Gadget. Warum
die Zukunft uns noch braucht. Aus dem Amerikanischen von Michael
Bischoff, Berlin (Suhrkamp Verlag) 2010 (250 S., 19,90 €)
Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin (Matthes
& Seitz) 2010 (70 S., 10,00 €)
Pravu Mazumdar:
Das Niemandsland der Kulturen. Über
Migration, Tourismus und die Logik kultureller Nichtverständigung, Berlin
(Matthes & Seitz) 2011 (140 S., 12,80 €)
Stefan Münker: Emergenz
digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im
Web 2.0., Frankfurt am Main (edition unseld 26) 2009 (144 S., 10,00 €)
Manfred Faßler: Nach der
Gesellschaft. Infogene Welten – anthropologische Zukünfte, Paderborn (Wilhelm Fink Verlag) 2010 (307 S.,
32,90 €)
Jan-Felix Schrape: Neue Demokratie im Netz? Eine Kritik an den
Visionen der Informationsgesellschaft, Bielefeld (transcript
Verlag) 2010 (245 S., Abb., 27,80 €)
Literatur:
Der digitale Wahn. Herausgegeben von Bernhard E. Bürdek, edition suhrkamp 2146, Frankfurt am Main 2001
Hans Magnus
Enzensberger: Mittelmaß und Wahn.
Gesammelte Zerstreuungen, suhrkamp taschenbuch 1800, Frankfurt am Main 1991
Rainer Fischbach: Mythos Netz. Kommunikation jenseits von Raum
und Zeit?, Rotpunktverlag, Zürich 2005
Alex Rühle: Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline,
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010
Thoma Schindl: Räume des
Medialen. Zum »spatial turn« in Kulturwissenschaften
und Medientheorien, Verlag Werner Hülsbusch, Boizenburg
2007
Frank Schirrmacher: Payback, Blessing
Verlag, München 2009
Tino Seeber: Weblogs – die 5. Gewalt? Eine empirische
Untersuchung zum emanzipatorischen Mediengebrauch von Weblogs, Verlag
Werner Hülsbusch, Boizenburg 2007
Roger Silverstone: Mediapolis.
Die Moral der Massenmedien. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008