Michael Ackermann

 

Editorial

 

 

 

Es sind weniger die Gemetzel, die einen in Yasmina Khadras Kriminalromanen erschrecken. Es sind die Abgründe aus Korruption und Bereicherung und gewaltversessener algerischer Eliten, die einen etwa in der Algier-Trilogie so schwer mitnehmen. Durch einen brutalisierten Alltag stapft der melancholische Kommissar Llob und sieht in den metzelnden, meist jungen Tätern ebenso wie in fanatisierten Islamisten missbrauchte Marionetten der Mächtigen. Für Mohammed Moulessehoul (geb. 1954) alias Yasmina Khadra sind sie in den späten 1990er-Jahren die Symbole eines verrotteten diktatorischen Regimes. Aber auch Widergänger enttäuschter Hoffnungen durch westliche Stillhalteabkommen mit den Machthabern. Wenn nun im Maghreb die Regime ins Wanken kommen, kann man nicht mit leichten Übergängen in die Demokratie rechnen.

Diese Annahme soll kein Vorbehalt gegen die Bewegungen und den Kampf um Demokratie und Freiheit sein, sondern sie folgt einer Einsicht aus der Lektüre von Amartya Sens Die Idee der Gerechtigkeit (C. H. Beck Verlag 2010). Binäres Denken, wie es in Diktaturen üblich ist, zerstört eine Gesellschaft. Wo es keine demokratische Öffentlichkeit und freie Medien gibt, fällt auch der öffentliche Vernunftgebrauch aus. Er muss gelernt werden. Das heißt mehr als freie Wahlen.

Mit Sen gedacht, haben wir ein »verlorenes Jahrzehnt« hinter uns, in dem mit einem monokausalen Freiheitsbegriff gewaltsam Demokratie eingeführt werden sollte und dabei nicht nur Bush scheiterte. Und in der Bundesrepublik schauen wir auf zwei Jahrzehnte, in denen das kooperative Element unter den Generalverdacht der »Entmündigung« durch Staat und Sozialstaat stand. Die Verabsolutierung der Individualisierung von Verantwortung oder die Verschiebung der Verantwortung nach außen, etwa auf die Politik, folgen Mustern der Entmündigung und Selbstentmündigung, nicht der Freiheit.

Dabei gehört zur Freiheit des Individuums die Befähigung, den Blick über die unmittelbaren eigenen Interessen hinaus auf andere richten zu können. Von wegen »Gutmenschen«. Man lese Michael Tomasellos Erkenntnisse aus der vergleichenden Baby- und Primaten-Forschung (Warum wir kooperieren, Suhrkamp 2010). Kooperationsbereitschaft und Empathie für andere entwickeln Menschenkinder bereits mit eineinhalb Jahren. Verdorben werden diese Empfindungen erst durch eine Erziehung, die auf Konkurrenz abstellt. Wer das Strahlen im Gesicht eines Kindes gesehen hat, welches einem anderen helfen konnte, müsste von der Theorie des Eigennutzes geheilt sein. Aber auch da weiß der Nobelpreisträger Sen besser, warum diese Einsicht in einer Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft nicht leicht fällt.

Eigennützige Marktkräfte erzeugen manchen Dreck, und der laute Ruf nach Staatskontrollen will in Sachen Dioxin so gar nicht zur Ideologie schlanker Verwaltungen passen. Die Folgen eines jahrelangen Kaputtsparens führen seit Monaten die Berliner Verkehrsbetriebe und die DB vor: Zustände wie in einem Schwellenland. Das zeigt, dass sich unsere Hochmobilitätsgesellschaft der öffentlichen Erörterung der Gemeinschaftsmittel widmen muss – und dabei nichts »alternativlos« ist.

Es ist noch etwas anderes, was uns Amartya Sen verstehen lässt: Es gibt kaum noch geschlossene Gemeinschaften, in denen ein »Urzustand« der Gerechtigkeit existiert. In einer globalisierten Welt treffen unterschiedliche Gerechtigkeits- und Freiheitsanforderungen aufeinander und müssen dialogisch in Beziehung gebracht werden. Für selbstgerechte Kämpfer westlicher Freiheit ist Sen damit ein Irrlicht, welches Freiheit und Gerechtigkeit nicht allein dem Tatendrang des Individuums und den Märkten überlassen will. Für die Mitglieder des Vereins zur Zerschlagung gordischer Knoten ist Sen dagegen durch komplexe Gerechtigkeits- und Freiheitserwägungen eine Gefahr für die richtige Sache.

Wie aber ist den globalen Problemen beizukommen? »Mobilität im globalen Norden frisst Menschlichkeit im globalen Süden« schreibt Hartwig Berger in unserem Schwerpunkt, der die Ressourcen- und Energie-Politik mit übergreifenden Gerechtigkeitsaspekten verknüpft. Den Stimmen aus der Ferne zuhören heißt auch, einem Provinzialismus entgehen, in dem die Interessen anderer sonst nur als Angstmacher für das Eigene vorkommen. Sen zeigt die Standortabhängigkeit von Beobachtungsergebnissen und das Urteilen unter Ungewissheitsaspekten. Dabei lässt er in einer breitflächigen und anspruchsvollen Auseinandersetzung um das Pro und Contra von John Rawls »Gerechtigkeit als Fairness« auch die »Rational Choice Theorie« alt aussehen. So alt wie die Annahme, »asiatische Werte« seien per se autoritär. Sen fügt der Debatte um Demokratietheorien Aspekte hinzu, wie sie auch in der intensiven Diskussion des europäischen Denkens beim »Umweg über China« des französischen Philosophen und Sinologen François Jullien deutlich werden (siehe die Dokumentation des Hannah- Arendt-Preises für Politisches Denken 2010). Dabei kommt es offensichtlich nicht nur auf die verfügbare Masse an Informationen an. Vielmehr darauf, wie Informationen aufgenommen, gewichtet und beurteilt werden (siehe Thema). Auch den digitalen und sozialen Netzwerken täte Amartya Sens Befähigungsansatz gut. Dann würden sie ihre Freiheiten weniger missbrauchen lassen.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 1/2011