Ein neues Regime in den USA?

Die "Republik der Gruppenanerkennung": Abschied vom liberalen Individualismus?

Lew Hinchman

Die 213-jährige Geschichte der amerikanischen Verfassung vermittelt manchmal den Eindruck, als ob sich nichts Wesentliches in den dazwischenliegenden Epochen verändert hätte. Man könnte meinen, dass sich die politisch-rechtlichen Grundsätze und sozialen Zusammenhänge von ehedem noch immer ohne weiteres auf die zeitgenössichen Verhältnisse übertragen ließen. Die Kontinuität springt ins Auge, während der Wandel unterschwellig bleibt. Aber auch die Vereinigten Staaten haben einen politischen Wandel erlebt. Wird nun der liberale Individualismus infrage gestellt, entsteht eine "Republik der Gruppenanerkennung"?

 

Theodore Lowi, ein renommierter Politikwissenschaftler, vertritt die These, die USA hätten in ihrer Geschichte zwei oder sogar drei verschiedene Republiken (vergleichbar den französischen) gehabt, jede mit ihrer eigenen Verfassungsordnung, politischen Praxis und Zielorientierung. (1) Da die US-Verfassung nur in außerordentlichen Fällen und im weit reichenden Konsens geändert werden kann, treten Veränderungen bruchstückhaft und eher unspektakulär als häufige Folge von Gerichtsurteilen und manchmal auch aufgrund politischer Reformen (z. B. der New Deal) ein. Der Übergang von einer Republik in die nächste vollzieht sich so eher im Hintergrund. Ist so still und heimlich in den USA nunmehr fast unbemerkt von den Bürgern eine neue Republik gegründet worden? Es spricht vieles für eine solche These. Seit kurzem werden die Konturen eines neuen Systems sichtbar, das ich als "die Republik der Gruppenanerkennung" bezeichne. Ein solches System ist in Europa und anderswo zwar schon lange bekannt (etwa in Belgien, der Schweiz, Kanada) – in den USA aber unterscheidet es sich von allen vorhergehenden Regimetypen in dem Sinne, dass es die unanfechtbarste Voraussetzung der amerikanischen politischen Geschichte, den liberalen Individualismus, infrage stellt. Dieser liberale Individualismus (von Louis Hartz auch als "irrationaler Lockeanismus" bezeichnet) lässt sich verkürzt so charakterisieren: Die Amerikaner haben ihre Gesellschaft stets als Ergebnis eines impliziten Vertrages zwischen unabhängigen Individuen betrachtet. Das Individuum galt schlechterdings als Leidenschafts- und Vernunftträger, das nach Vorstellungen des eigenen Interesses handelt, und nicht als Mitglied einer bestehenden Gruppe. Gründerväter wie James Madison haben zwar den politischen Einfluss von so genannten "factions" (Interessenverbände) erkannt und verworfen; sie haben diese aber nicht im Sinne einer identitätsstiftenden, ontologisch ursprünglichen Vereinigung, die dann als solche auch Rechtsansprüche erheben dürfte, gedeutet, sondern lediglich als Instrumente des Selbstinteresses. Dieser liberale Individualismus prägte die ideologischen Rahmenbedingungen der amerikanischen Republik von Anfang an.

Erst jüngst und zaghaft setzt sich in der Rechtsprechung und politischen Praxis eine Anschauung durch, die dem liberalen Individualismus den Rang streitig macht und in der Gruppenzugehörigkeit nicht nur eine äußerliche, oberflächliche Bestimmung, die sich leicht auf individuelle Zielsetzungen reduzieren lässt, sondern einen unverzichtbaren Kern der Identität des Einzelnen sieht. (2) Für die einzelnen Mitglieder dieser – ethnischen, rassischen, religiösen oder geschlechtlich orientierten – Gruppen geht es dabei um eine offizielle Anerkennung ihrer kollektiven Geschichten und Interessen, die sich nicht in bloße individuelle Ansprüche auflösen lassen. Dieser innovative Gehalt einer solchen kommunitaristischen Denkweise wurde bislang in den USA nicht zuletzt auch deswegen unterschätzt, weil diese Anschauungen aus älteren, eher individualistisch gefärbten Bewegungen hervorgegangen sind und auch weil ihre Fürsprecher sich noch immer der Sprache der individuellen Gleichberechtigung bedienen. Ob dieser Aufbruch eines neuen politischen Selbstverständnisses in den USA bereits Anlass sein kann, ein sich herausbildendes neues System zu verkünden, hängt in erster Linie von empirischen Entwicklungen ab und der Antwort auf die zentrale Frage, ob sich die Anerkennung von Gruppenrechten im öffentlichen Bewusstsein und Recht so weit verfestigen konnte, dass sie in manchen Bereichen neben dem traditionalen Liberalismus neue Rechte und Ansprüche hervorgerufen hat? Um dies beurteilen zu können, ist es notwendig, sich die Entstehung und Anziehungskraft des liberalen Individualismus zu vergegenwärtigen: Diejenigen ethnischen Gruppen, die eine Anerkennung ihrer kollektiven Interessen hätten beanspruchen können, also die eingeborenen Völker, afrikanischen Sklaven, Polynesier in Hawaii, Latinos und Inuit, wurden fast vollständig aus dem politischen Leben der Vereinigten Staaten ausgeschlossen. Dies erweckte lange Zeit den Eindruck, die USA seien eine homogene und auf Grundlage individueller Zustimmung zustande gekommene Republik. Der spätere Zustrom neuer Einwanderer erfolgte zumeist freiwillig und aus individueller Entscheidung und diente als Beleg, dass ihre Integration in die US-amerikanische Gesellschaft freiwillig und auf rechtlicher Basis geschehe (etwa durch den Eid der Staatsbürgerschaft).

Der Weg zu Gleichheitspolitik und Bürgerrechten

Im zwanzigsten Jahrhundert haben vor allem ethnische Gruppen und Völker die öffentliche Anerkennung ihrer Rechte verlangt. Zunächst schien es, als ob sie, wie die Einwanderer vor ihnen, auf herkömmliche, individuelle Weise integriert werden könnten. Die Integrationsversuche aber stießen auf Hindernisse und Widerstände, die allmählich die Anwendbarkeit des althergebrachten individualistischen Gesellschafts-Vertragsmodells selber in Frage stellten. Das wohl bekannteste Beispiel dafür verkörperte die Geschichte der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Im weichenstellenden Rechtsstreit Brown vs. Board of Education (1954) hat das Oberste Gericht seinerzeit die offizielle Rassentrennung in allen öffentlichen Schulen für verfassungswidrig erklärt. (3) Es begründete das Urteil damit, dass getrennte Schulsysteme für schwarze und weiße Kinder zwangsläufig das schwarze als minderwertig erscheinen lassen, selbst wenn beide Systeme im gleichen Umfang finanziert würden. Dieses Urteil und andere Gerichtsbeschlüsse, Bundesgesetze und -verordnungen, die Brown folgten, ließen das Grundprinzip des liberalen Individualismus unangetastet. Man ging davon aus, dass in dem Maße, wie Afro-Amerikaner und die Mitglieder anderer zuvor ausgegrenzter Gesellschaftsgruppen die gleichen Bürgerrechte erkämpften, sie allmählich auch ihre gesellschaftliche Sonderstellung und ihr Dasein in einer geschlossenen Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaft aufgeben und sich zunehmend als gleichberechtigte Individuen fühlen und im Rahmen der herkömmlichen Interessenpolitik handeln würden. Wenn dies erreicht wäre, könnte die amerikanische Justiz endlich farbenblind werden, wie schon der Richter des Obersten Gerichtes Harlan 1896 verlangt hatte. (4)

Doch nach der rechtlichen Aufhebung der Rassentrennung im Schulwesen und anderen öffentlichen Bereichen traten die Schwächen einer rein liberal-individualistischen Lösung der Rassenungleichheit offen zutage: Zum einen erwiesen sich die Benachteiligungen der Afro-Amerikaner im Bildungs- und Arbeitsbereich als unerwartet hartnäckig. Selbst in den integrierten Schulen fielen die Leistungen afroamerikanischer Schüler deutlich gegenüber denen der restlichen Bevölkerung ab. Armut und Arbeitslosigkeit trübten die Aussichten auf eine Gleichstellung der Rassen immer stärker. Zudem rückten auch für die Afro-Amerikaner allmählich die unerwünschten Aspekte der liberalen Gleichheitspolitik ins Bewusstsein: die Gefährdung ihrer historisch schwarzen Universitäten; den oft unvermittelten und psychologisch belastenden Übergang in weiße Institutionen; Lehrpläne, die Erfahrungen und Geschichte der afroamerikanischen Studierenden kaum beachteten; ein erbarmungsloser Wettbewerb in der Wirtschaft. Solche Erfahrungen verdeutlichten, dass sie als Gemeinschaft, das heißt in ihrer kollektiven Existenz, Anerkennung und Unterstützung brauchten. Diese erhielten sie in Form von "affirmative action" – ein Sammelbegriff für zahlreiche Maßnahmen im öffentlichen und privaten Bereich, die allesamt auf die Bekämpfung der langen Diskriminierung und ihrer Folgen für Afro-Amerikaner (und später auch anderer benachteiligter Gruppen wie Frauen, Hispanier usw.) abzielten und diese ausdrücklich zum Maßstab bei Einstellungen, Ausschreibungen, Beförderungen, Universitätszulassungen und so fort machten. Ein bekanntes und noch gültiges Beispiel dafür ist die Verpflichtung der US-Bundesregierung durch eine Verordnung des damaligen Präsidenten Johnson von 1965, die vorsah, dass der Staat sich darum bemühen sollte, den Anteil der Afro-Amerikaner und anderer Minderheiten in der Beamtenschaft und in all denjenigen Firmen zu erhöhen, die Geschäftsverbindungen mit dem Staat unterhielten. Gleichfalls verabschiedete der Kongress Gesetze, die bei Ausschreibungen für Bundesbauvorhaben wenigstens 10 Prozent der Ausgaben für die Bauunternehmen reservierten, die von Rassenminderheiten betrieben wurden. Obwohl solche Förderungsmaßnahmen als Ausgleich für die Jahrhunderte der Benachteiligung gerechtfertigt werden konnten (und wurden), hatten sie längerfristige Auswirkungen auf die Erwartungen und Ansprüche nicht nur der betroffenen Minderheiten, sondern auch der restlichen Gesellschaft. Zum ersten Mal wurden Gruppen öffentlich anerkannt und als solche in der Politik und Wirtschaft behandelt. Afro-Amerikaner (sowie andere Minderheiten) konnten nun plausible Ansprüche auf gesonderte Institutionen erheben: Rundfunklizensen, Fachbereiche für das Studium ihrer eigenen Geschichte und Literatur, getrennte Wohnheime, kurz alles, was ihre kollektive Zusammengehörigkeit verstärkte. Im Recht und noch mehr im Bewusstsein herrschte so bereits die Republik der Gruppenanerkennung.

Die zahlreichen "affirmative action"-Maßnahmen stießen allerdings zunehmend auf den Widerstand der weißen Bevölkerung und deren politischer Vertreter, insbesondere der politischen Rechten, die nun eine erneute Diskriminierung, diesmal gegen Weiße, geltend machten. Gerichtsurteile, Beschlüsse der gesetzgebenden Versammlungen in den einzelnen Staaten und Volksabstimmungen haben die Reichweite von "affirmative action" eingeengt. Zum Beispiel dürfen die University of California und die Jura-Fakultät der University of Texas die Rasse der Universitätsbewerber nicht mehr in Erwägung ziehen, wenn sie Plätze an den staatlichen Elite-Unis vergeben. Seit drei Jahren ist in Kalifornien die (ehemals weit verbreitete) zweisprachige Erziehung für Schüler, deren Muttersprache nicht Englisch ist, durch Volksabstimmung verboten. Und wenn die Bundesstaaten jetzt Wahlbezirksgrenzen bestimmen, dürfen sie nicht mehr absichtlich versuchen, so genannte Minderheit-Mehrheit-Wahlbezirke zu schaffen .(5) Trotz dieser Entwicklung, besteht die öffentliche Anerkennung der Gruppenzughörigkeit: Die Gerichte haben nicht ausgeschlossen, dass die Rasse ein Faktor bei der Bestimmung der Wahlbezirksgrenzen sein darf. Und die University of California at Berkeley will auf das Verbot von "affirmative action" dadurch reagieren, dass sie nun mit 150 Millionen US-Dollar zweimal so viel als zuvor ausgeben will, um den Anteil der rassischen Minderheiten wieder auf den Stand vor dem Verbot anheben zu können. (6) Obgleich "affirmative action" kein Allheilmittel ist, konnte sich dadurch ein Gespür für die besonderen Bedürfnisse, Probleme und Identität der ethnischen und rassischen Minderheiten entwickeln und festsetzen.

Renaissance der Indianer ?

Die Beharrlichkeit solcher Ansprüche zeigt sich noch deutlicher im Falle einer anderen ausgegrenzten Gruppe: der Indianer. Das Oberste Gericht hat schon früh deren eigentümliche Stellung innerhalb der US-amerikanischen Republik im Fall Worcester vs. Georgia (1832) (7) zum Ausdruck gebracht. Dort heißt es, dass die Indianer als "domestic dependent nations" gelten (einheimische, abhängige Völker), die eine gewisse Autonomie und sogar Souveränität über ihre verbleibenden Territorien ausüben und in mancher Hinsicht sich auch der Autorität der einzelnen Bundesstaaten, in denen ihre Reservate liegen, entziehen können. Dennoch müssen sie durch die Bundesregierung in Schutz genommen werden, die als Treuhänder auftritt. Das implizite Versprechen des "measured separatism" (so der Rechtsgelehrte Charles Wilkinson) wurde vorerst nicht eingelöst (8). Die eingeborenen Völker waren vielmehr im neunzehnten Jahrhundert den Machenschaften weißer Politiker und Bürokraten ausgeliefert, die ihre Länder und Ressourcen begehrten und sich diese aneigneten. Den Tiefpunkt der Ausbeutung und Entrechtung bildete gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Verabschiedung des "General Allotment Act" (auch als "Dawes Act" bekannt) im Kongress anno 1887. Das Gesetz sollte die Sonderstellung der Stämme ein für alle Mal aufheben, indem deren Reservate in Parzellen aufgeteilt und individuell als Privatbesitz zuerkannt wurden. Dies diente dem unmittelbaren Zweck, große Gebiete der Reservate für weiße Siedler freizumachen, denn alles "überflüssige" Land (d. h. alle über die spezifischen Landzuweisungen an die Indianer hinausgehenden Gebiete) sollte verschachert werden. Insgesamt haben die Indianerstämme zwischen 1887 und 1934 so ungefähr 40 Millionen Hektar, mehr als 60 Prozent ihrer Reservate, durch den Abtritt ihrer "überflüssigen" Flächen an die Weißen verloren. Aber das Gesetz hatte auch einen tieferen, liberal-individualistischen Sinn als bloße Habgier, wie der spätere Präsident Theodore Roosevelt seinerzeit genau erkannte: "Der General Allotment Act ist eine mächtige Maschine, die die Masse der Stämme zerschlägt. Er wirkt unmittelbar auf die Familie und das Individuum." (9) Der "Dawes Act" sollte die Solidarität und kollektive Identität der Indianerstämme untergraben, indem diese in ihre Bestandteile, in individuelle Eigentümer, aufgelöst wurden.

Der "General Allotment Act" fügte zwar den Indianern unsägliche Ungerechtigkeiten und Leiden zu, aber es gelang ihm nie ganz, die kollektive Identität der Stämme auszulöschen. Diese haben sogar eine zweite Ära des liberalen Individualismus, die so genannte "termination policy" der 1950er-Jahre (Aberkennung der Stämme und Beendigung des Treuhandverhältnisses) überstanden. Seit dem bahnbrechenden Urteil vom Obersten Gericht in der Sache Williams vs. Lee (1959), hat der amerikanische Staat angefangen, das alte Versprechen kultureller und zum Teil politischer Autonomie für die Stämme einzulösen. (10) Diese Renaissance der Indianer ist im Vergleich zum eklatanten Sieg der Afro-Amerikaner im Fall Brown vs. Board of Education fast unbemerkt vonstatten gegangen. Die eingeborenen Völker haben allmählich vielerorts die Eigenschaften ihrer Souveränität und kulturellen Identität zurückgewonnen. Die Gerichte und Behörden haben etwa beschlossen, dass sie Schulen und Colleges einrichten dürfen, in denen ihre eigenen Sprachen gewahrt und gepflegt werden; dass ihre Wasserrechte im trockenen Westen und ihre Gerichtsbarkeit in den meisten zivilen und strafrechtlichen Angelegenheiten innerhalb der Reservate von den Gerichten (die Streitfrage bei Williams vs. Lee) anerkannt wird. Ein Beobachter beschrieb diese Entwicklung mit den Worten: "Diese Inseln [die Reservate, L. H.] entwickeln sich ... ständig auf die Erfüllung ihres impliziten Versprechens, dass sie zu Heimatländern werden, zu." (11)

Religion und Nicht-Religion

Eine dritte Ausformung der Anerkennung von Gruppenrechten betrifft vor allem religiöse Gemeinden. In der Jurisprudenz des neunzehnten Jahrhunderts haben die Verfassungssätze über Bekenntnisfreiheit und das Verbot gegen eine Institution im Umgang mit Religionen keine Berücksichtigung bei der Gesetzgebung der einzelnen Bundesstaaten gefunden, da – laut Präzedenzfällen – die Bundesverfassung lediglich die Bundesgesetzgebung und nicht die der Staaten beschränke. Entsprechend sind diese und die örtlichen Behörden den kommunitaristischen Ansprüchen der Gemeinden entgegengekommen, indem sie beispielsweise Gebete in den Schulen, Weihnachtssymbole an öffentlichen Plätzen et cetera tolerierten oder gar förderten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat das Oberste Gericht versucht, die relevanten Bestimmungen des ersten Verfassungszusatzes auch auf die Rechte der Bundesstaaten und deren Bürger auszudehnen, zum Beispiel durch das Verbot aller obligatorischen Gebete in den öffentlichen Schulen und das Verbit bundesstaatlicher Subventionen für bekenntnisorientierte Privatschulen. Das Oberste Gericht rechtfertigte viele dieser Eingriffe mit einer neuen Rechtslehre, wonach die Verfassungsväter (und hier besonders Jefferson) einen Wall zwischen Religion und Staat (the wall of separation) errichten wollten, um die Religion – im liberalen Verständnis – als Gewissenssache dem Einzelnen zu überlassen. (12)

Diese "Einmischung" der Bundesgerichte in den traditionalen Bereich der einzelnen Staaten, Städte und Schulbehörden löste einen politischen Streit aus, der bis heute anhält. Die fünf von Reagan und Bush sen. ernannten Bundesrichter wurden zum Teil gerade wegen ihrer Ablehnung eines solchen "richterlichen Aktivismus" auserkoren. Sie haben inzwischen einen Block im Obersten Gericht gebildet, der das Prinzip einer "Trennungsmauer" zwischen Staat und Religion verwirft und eine quasi-öffentliche Anerkennung religiöser Gemeinden dulden könnte. Für Justice Rehnquist und seine Bundesgenossen im Gericht wollten die Gründerväter der Etablierung einer spezifischen Religion vorbeugen, aber keineswegs eine neutrale Einstellung des Staates in Bezug auf Religion und Nicht-Religion verordnen. Rehnquist und seine rechtsgesinnten Kollegen haben dafür noch keine Mehrheit im Obersten Gericht, aber die Ernennung von einem oder zwei neuen Richtern durch den republikanischen Präsidenten würde wahrscheinlich in solchen Urteilen den Ausschlag geben und auf die faktische Anerkennung der Kirchen und Sekten als Mitgestalter des öffentlichen Lebens hinauslaufen. Ironie am Rande: Ausgerechnet die rechtsgesinnten Richter, die entschiedenste Gegner aller "affirmative action"- Maßnahmen waren, wollen nun aber dasselbe Prinzip (Anerkennung von Gruppen als politische Akteure und Rechtsträger) im Bereich der Religion dulden.

Ausblick

Die "Republik der Gruppenanerkennung" wird derzeit noch nicht als neuer Regimetypus erkannt, teils weil deren Bestimmungen noch umstritten sind, teils wegen des oben beschriebenen Anscheins der Kontinuität, die der amerikanischen Politik anhaftet. Aber sicher ist, dass der liberale Individualismus alter Prägung nunmehr durch ein zweites kommunitaristisches politisches Prinzip überlagert worden ist. Jener wird – und sollte – nicht verdrängt werden, da auf einer gewissen Ebene die amerikanische Gesellschaft – so wie alle modernen Demokratien – doch aus individuellen Rechtsträgern besteht. Aber in vielen Zusammenhängen muss den geschichtlichen Bindungen und den Zusammengehörigkeitsgefühlen der Bürger Rechnung getragen werden. Nur so kann in vielen Fällen Gerechtigkeit hergestellt werden. Die politische Aufgabe des neuen Jahrhunderts ist es, diese zwei Ebenen des Rechts aufeinander abzustimmen.

 

Anmerkungen:

1 Theodore J. Lowi, The End of the Republican Era (Norman and London: University of Oklahoma Press, 1995), p. 17. – Vgl. auch "The State in Political Science: How We Become What We Study"; American Political Science Review, vol. 86, no. 1 (März, 1992), p. 2.

2 Vernon Van Dyke, "The Individual, the State, and Ethnic Communities in Political Theory"; World Politics, vol. 29 (1977), p. 343-64.

3 Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U. S. 483 (1954).

4 Abweichende Meinung von Justice Harlan im Fall Plessy v. Ferguson, 163 U. S. 573 (1896).

5 Shaw v. Reno, 509 U. S. 630 (1993).

6 Newsweek, Sept. 18, 2000, p. 61.

7 Worcester v. Georgia, 31 U. S. (6 Pet.) 515 (1832). Vgl. auch Morton v. Mancari, 417 U. S. 535 (1974).

8 Charles Wilkinson, American Indians, Time, and the Law (New Haven and London: Yale University Press, 1987).

9 Zitiert in Wilkinson, a. a. O., p. 19.

10 Williams v. Lee, 358 U. S. 217 (1959).

11 Wilkinson, a. a. O., s. 121.

12 Everson v. Board of Education, 330 U. S. 1 (1947).

 

Siehe zum Thema in der Kommune auch:

Winfried Thaa: "Biologisierung". Der Fall Simpson und die amerikanische Öffentlichkeit, 11/95

Reed Stillwater: Town meeting, Chautauqua & Common ground. Demokratie ist ein Spiel, 11/95

Dick Howard: Die Politik der zivilen Gesellschaft, 4/96

Lothar Probst: Globalilsierung, Fragmentierung und Fundamentalismus. Das Huntington-Paradigma und der Kampf um kulturelle Anerkennung, 7/96

Dick Howard: Politischer Fundamentalismus und fundamentalistische Politik in den USA, 11/96

 

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Ausgabe Februar 2001 (19. Jg., Heft 2/2001)