Ein Symbol der Selbstbefreiung

Joschka Fischer, 68 und grüne Abstinenz

Herbert Hönigsberger

Demokratiegeschichte ist immer auch Gewaltgeschichte. Joschka Fischer ist deshalb auch zum Symbol der Selbstbefreiung eines großen Teils der radikalen Linken der Sechziger und Siebziger aus ihren Gewaltfantasien geworden. Aber warum eine merkwürdige grüne Abstinenz, während sich die SPD vor den Außenminister stellt? Wächst der Wille, wie unser Autor vermutet, mit dieser öffentlichen Abstinenz gleich auch einen Teil der grünen Parteigeschichte zu entsorgen?

Fischer auf allen Titelseiten und in allen Kanälen. Und bei den Grünen? Weiter hilft, wie so oft, das Internet. Ein Blick auf die Websites der Fischer-Partei lohnt dieser Tage (zuletzt am 21.1.01). Ökosteuer ("Was springt für mich raus?"), BSE, vegetarische Rezepte, ein virtuelles Kochbuch. Glückwünsche für eine Ministerin und eine Kandidatin. Aber nicht ein Hinweis auf die Attacke auf die grüne Schlüsselfigur! Bei den Westgrünen nicht, bei den Ostgrünen nicht, beim Bundesvorstand und bei der Fraktion nicht, in Hessen und beim KV Frankfurt auch nicht, nichts auf den Seiten der Grünen im Frankfurter Nord- und Westend. Fehlanzeige auch beim Jugendverband, dafür eine Pressemitteilung "Daumen hoch für Christoph Daum". Bedarf an Symbolfiguren mit Identifikationswert haben sie also, die jungen Grünen. Im Forum der NRW-Grünen nimmt den meisten Raum ein Text von Frau Röhl ein, in dem sie ein defizitäres Charakterbild Fischers nach Art der republikanischen Kampagne gegen Clinton zeichnet und sich müht, strafrechtliche Tatbestände zu konstruieren.

Bundestagsdebatte am 17. Januar: Während die Opposition ihre "jungen Wilden" von der Leine lässt, überlassen die Grünen die Verteidigung den alten Veteranen: Lippelt, Vollmer, Buntenbach, Schlauch. Keine Frage, keine Rede, kein Zwischenruf dagegen von den Jungstars der Grünen. Dasselbe Bild in den Fernsehdebatten: Ströbele und der alte Landsponti Metzger in Phoenix, von Plottnitz bei Böhme, Vollmer bei Christiansen. Das liegt auch an den Sendern. Aber gedrängelt wie sonst hat sich niemand. Geschäftsführer Bütikofer hat – so Phoenix – abgesagt. Die Opposition greift den Außenminister, die Grünen, die Koalition an – es antwortet eine politische Generation.

Ohne 68 sind die Grünen nicht denkbar, die SPD wohl. Sie sähe als Ganzes aus wie der Ortsverein Castrop-Rauxel, aber sie wäre die SPD. Die Grünen gäbe es nicht ohne 68. Und doch hat im Bundestag vor allem die SPD 68 öffentlich und demonstrativ angenommen wie kaum vorher, engagiert, leidenschaftlich, vom Kanzler bis zum Abgeordneten Stiegler. Wenn die Grünen je Fischer an die SPD verloren haben, dann in dieser Debatte. Auf den Fluren der grünen Fraktion und in ihren Flüsterkneipen dagegen Verzagtheit hinter vorgehaltener Hand, Wegducken vor der eigenen Geschichte, die sich nicht wegdrücken lässt. Hat er nicht, hat er vielleicht doch? Und er hätte doch aber, und schon längst ...

Mag sein, dass die Abstinenz auf den Websites der Einsicht geschuldet ist, besser nichts als das Falsche zu sagen. Aber Geschichtspolitik und Leitkulturdebatte ist so wenig Sache des Großteils der ins operative Geschäft verstrickten Berliner Funktionsträger der Grünen wie politische Sinnstiftung und Symbolhandeln jenseits Autofenster putzen oder öffentliches Trinken grüner Limonade. Weswegen auch noch so dröhnende Erfolgsmeldungen kaum aus dem Sechs-Prozent-Getto helfen. Strategisch ist unstrittig, dass man allein mit der Gründergeneration und dem Potenzial "sozialer Bewegungen" keine Regierungspartei kreieren kann. Das ist seit Jahren Kern des fischerschen Programms. Aber ohne und gegen den realpolitischen und pragmatischen Teil der Gründergeneration, von sozialen Bewegungen und des Dritten Sektors? Hier irrt der gehätschelte Nachwuchs der Partei bei seiner hektischen Suche nach Wählerpotenzialen statt nach politischen Subjekten.

Die Person Fischer ist das letzte Bindeglied zwischen der Partei von heute und der politischen Generation, die die Vor- und Gründungsgeschichte der Grünen im Westen geschrieben hat. Diese merkwürdige Abstinenz, diese verhaltenen Reaktionen, diese partielle Sprachlosigkeit offenbaren den wachsenden Willen der Parteigranden neuen Typs, die Geschichte der Grünen zu entsorgen. Fischer muss diese Partei fremd geworden sein, samt all ihren Amtsinhabern und Mandatsträgern, die ihm den Wahlsieg verdanken und damit das, was sie sind.

Dieses Flüchtlingskind, dieser Arbeitersohn personifiziert den Unterschied zwischen Biografie und Karriere, zwischen Leben als Erzählung und Fußnote. Die historisch-kritische Biografie ist noch nicht verfasst und für künftige Romanciers gibt die Figur mehr her als nur den Bruder Josef in Ortheils Schwerenöter. Fischer schlägt wohl auch deshalb der Hass jener Masse von Randfiguren der politischen Klasse entgegen, die mangelnde Substanz durch Medienrummel ersetzen muss. Ob er 68er ist oder Kind von 68, ob die Frankfurter Spontis genuine Erben oder eine bösartige Mutation der Bewegung waren: Fischer ist zur Personifizierung dieses Lebensweges und Biografiemusters geworden. Dafür sind Joscha Schmierer, Christian Semmler, Gerd Koenen, Wolfgang Kraushaar und andere kritisch-solidarisch in die Bresche gesprungen. Und damit ein Juso einen Streetfighter verteidigen kann, musste der eine Kanzler und der andere Vize werden, müssen beide gemeinsam in einer Koalition sitzen. Die Attacke der Opposition klärt darüber auf, dass rot-grün die Regierung ist, die mehr noch als die von Willy Brandt aus 68 folgt – und dass diese Generation keine andere und keine bessere Regierung mehr zuwege bringen wird als eben diese. Solidarität funktioniert, die Kohorte handelt ohne Seilschaft. Das unterscheidet eine politische Generation von Klüngel und Connections.

Fischers Vergangenheit ist kein Testfall für seine demokratische Zuverlässigkeit, sondern für die Festigkeit der Demokratie. Wenn diese Gesellschaft sich tatsächlich der Gallionsfigur jener politischen Generation entledigen will und kann, die ihre so grandiosen wie gefährlichen Irrtümer in einen substanziellen Modernisierungsschub der alten Bundesrepublik umgewandelt hat, dann ist das der Rücktrittsgrund. Dann wäre es so weit, sich gelassen mit Vermögen, Pensionen und Erbschaften irgendwohin in den Süden aufzumachen, um mit alten Bauern in der Sonne zu sitzen, die noch wissen, was eine Harke ist und wer Malatesta war. Dazu Wein keltern und Oliven pressen.

Aber das hat Zeit. Denn die deutsche Gesellschaft hat mit den 68ern heute jene Nachsicht, die sie früher nicht aufbrachte. Und es scheint, als habe sie auch jene Nachsicht gelernt, die sich die revoltierenden jungen Leute 68 nicht leisten konnten. Sympathie und Verständnis für die Revolte sind heute größer als irgendwann zu ihren Hochzeiten. Das Klassenfeier-Phänomen ist so gegenwärtig wie die Kombattanten-Aussöhnung. Auf Abiturjubiläen outen sich mehr, die "auch dabei" waren, als die Akteure je ahnten. Und die auf der anderen Seite in vorderster Linie standen – Peter Böhnisch, Heiner Geißler, Horst Herold – respektieren heute ihre Konfliktpartner, weil sie auch um die eignen Fehler wissen. In einer Welt, in der sich Erbfeinde, D-Day-Soldaten, GIs und Vietcong in den Armen liegen wollen, haben die Scharfmacher an der geschichtspolitischen Front wenig Chancen. Der Geist der Emanzipation, des Hedonismus, des Individualismus, des aufrechten Gangs und des zivilen Umgangs, der Gleichheit und der Freiheit, der den Konflikten der letzten 25 Jahre entsprungen ist, ist in homöopathischen Dosen bis in die letzten Verzweigungen der Gesellschaft gesickert. Diesem Erbe gilt die dumpfe Wut der Opposition, die gegen den gesellschaftlichen Bedarf an Zusammenhalt und Versöhnung trommelt. "Sie wollen vor 68 zurück", donnert Heiner Geißler bei Christiansen Professor Wolfsohn an. Und Antje Vollmer warnt vor einer Hypermoralisierung der Politik. Flüchtig scheint eine große republikanisch-demokratische Koalition jenseits enger Parteigrenzen auf, wird Mitte sichtbar. Deshalb wird Fischer nur gehen müssen, wenn er substanziell und im Parlament gelogen hat.

Demokratiegeschichte ist Gewaltgeschichte. 1989 wurden in Paris gewalttätige Ereignisse gefeiert, die die französische Nation konstituiert haben. Jede demokratische Republik kennt ihre Gewaltphasen, in denen sie ihre Antagonismen erst ausgelotet hat, um sie später durch Strukturen zu domestizieren und in Institutionen einzufangen. Die Grünen sind Teil dieser Geschichte, und diese Funktion ist Teil ihrer Geschichte. Sie haben Revolutionären, Rebellen und Gewalttätern eine Plattform geboten, sich in einem windungsreichen Prozess in ein gewaltloses Innovations- und Modernisierungspotenzial zu transformieren. Diese Partei ist auch ein gelungenes Sozialisationsprojekt – auch deshalb ist Fischer ihre Integrations- und Repräsentationsfigur.

Die Selbstkonstituierung der Republik als Demokratie konnte erst beginnen, nachdem uns alliierte Soldaten durch Gewaltanwendung beträchtlichen Ausmaßes und gegen erbitterten Widerstand die Startchance geschenkt haben. Sie wurde und wird genutzt, seit der parlamentarische Rat das Grundgesetz entworfen hat. Der Selbsterzeugungsprozess der Demokratie ist geglückt, aber er ist nie fertig. 68 war eine Etappe. Es ist gut zu wissen, dass Akteure und Träger der gewalttätigen Auseinandersetzungen auf Staats- wie Gesellschaftsseite aus den Sechziger- und Siebzigerjahren lernen konnten. Das Gewaltmonopol in Händen des Staates ist für den Funktionszusammenhang der Gesellschaft unausweichlich und unverzichtbar. Trotzdem ist es von allen gesellschaftlichen Gewaltquellen die potenziell gefährlichste – weil es Monopol ist und der Staat schwerer bewaffnet ist als alle, die sich ihm in den Weg stellen wollten. Es hat sich seine Legitimität gegenüber dem Bürger durch legal begründeten, wohl dosierten Einsatz ständig neu zu erwerben. Und das staatliche Gewaltmonopol in Aktion hat Leben und körperliche Unversehrtheit auch jener Bürger zu schützen, die es angreifen. Eben das legitimiert es. Diese Lehre haben erkennbar auch diverse Innenminister und Polizeiführungen aus Häuserkampf, Startbahn West und Anti-AKW-Bewegung ebenso gezogen wie aus der Terrorismusabwehr.

Die irrende radikale Linke der Sechziger- und Siebzigerjahre hat sich selbst aus ihren Gewaltfantasien befreit. Während die einen von Politik und politischen Ämtern Abstand nahmen, haben sich andere an Projekten beteiligt, die das Gewaltpotenzial, das sich in den Auseinandersetzungen zwischen 65 und 77 aufgebaut hatte, in Reformenergie transformiert haben. Die Republik wäre ohne diesen Selbstaufklärungsprozess nicht die, die sie ist. Wer auf dem Umweg über die weit ausholende Linkskurve schließlich auf dem Verfassungsboden landet, steht dort fester verankert als derjenige, der seine dünnen Überzeugungen allein aus dem Gemeinschaftskundelehrbuch bezieht. Dass maßgebliche Teile der Medien und der politischen Klasse ein archaisches Reinigungsritual mittels öffentlicher Entschuldungsformeln in einer Beicht-Show für wichtiger halten als die 25-jährige praktische Abarbeitungs- und Wiedergutmachungsgeschichte Fischers und anderer, zeugt allerdings von fortdauerndem Modernisierungsbedarf. Würden sich alle jungen Rechten den jungen Fischer zum Vorbild nehmen, würden sie weder Ausländer prügeln noch Juden verfolgen. Und ob ein junger Rechter von heute Außenminister werden kann, müssen in 25 Jahren die CDU und ihre Wähler bei ihrer Suche nach einem Koalitionspartner entscheiden.

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Februar 2001 (19. Jg., Heft 2/2001)