Ach, Achtundsechzig

Fischer, das "Rote Jahrzehnt" und wir

Gerd Koenen

Das dreißigjährige Jubiläum 1998 verlief fast geräuschlos, um so plötzlicher ist die Generation 68 jetzt wieder ins Blickfeld gerückt. Was mit der hektischen "Fischer-Debatte" begann, nur als Strategie eines Zurück in die Vergangenheit "vor 1968" zu begreifen und zurückzuweisen, wäre, so unser Autor, ein schwerer Fehler. Denn die Neigung zu narzisstischer Selbststilisierung gehöre zu den Versuchungen und Prägungen "der" 68er. Sich dem in einer Selbstreflexion zu stellen, sei nicht die schlechteste, weil lange versäumte Aufgabe dieser Generation. Zu erzählen und zu rekonstruieren wäre dabei ein ganzer Spannungsbogen, ein zusammenhängender Zyklus der Zeit von 1967 bis 1977. Von Einsichten, Rücksichten und Aussichten – ein erster Versuch über das "Rote Jahrzehnt".

Wenn Joschka Fischer – und mit ihm die rot-grüne Regierung – über diese "Affäre" stürzen sollte, wäre es jedenfalls nicht das Werk der Opposition oder der Medien. Sondern das wäre eine hausgemachte kleine Apokalypse, und Fischers Griff nach dem Amt des Vizekanzlers hätte sich dann als ein Akt persönlicher Hybris erwiesen. Dazu müssten statt vager, generalisierender Unterstellungen allerdings harte, justiziable Fakten her, die es offensichtlich nicht gibt; denn gäbe es sie, wären sie mittlerweile auf dem Tisch. Die Kopfgeldsummen der Medien sind hoch genug. Was also bleibt, ist der Versuch der jungen Senioren von der Frei- und Christdemokratie, mit einer Rhetorik des universellen Verdachts ihren Weg des entschiedenen Konformismus als den einzig möglichen Weg der Sozialisation ex post noch zu etablieren.

Nun sind die Attacken der Opposition gegen Fischer, Trittin und wer weiß, wen noch alles (die Liste der politischen Amtsträger "mit radikaler Vergangenheit" lässt sich mühelos verlängern), nicht per se illegitim. Aber die übereifrigen Verfolger müssen aufpassen, dass sich die Stimmung nicht gegen sie wendet. Nicht nur prominente Meinungsführer wie Geißler, Dahrendorf oder Ex-Bild-Chef Boenisch, auch die auffällig schweigenden Altvorderen von Union und FDP scheinen kaum daran interessiert, den endlich erzielten Ausgleich der politischen Generationen leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Und auch die "Generation Golf" des Florian Illies, die in vielfältiger Spannung mit den 68ern aufgewachsen ist, zeigt wenig Neigung, dem historischen Kontinuitätswahn ihrer Eltern und Lehrer – von Preußen zu Hitler bis Adenauer oder Kohl – nun auch noch revanchehalber den Namen Joseph Fischer anzufügen.

Fast möchte man annehmen, dass die Damen und Herren von der Union und den Freidemokraten sich die Verve selbst nicht glauben, mit der sie binnen zwei, drei Sätzen vom Terrorismus der Siebzigerjahre über die "Häuserkämpfe" bei den Castor-Transporten der Neunzigerjahre angelangt sind und von dort wieder beim Nationalsozialismus, nach dem einfältigen Motto: Gewalt ist Gewalt ist Gewalt. Nähme man das ganz ernst, wäre es nach der einen Seite krasse Verharmlosung und nach der anderen Seite schiere Weltfremdheit. Fast möchte man sagen: Wem es hier bei uns in EU-Europa nicht passt, wo immer wieder mal Traktoren und Trucker quer gestellt, verseuchte Fische vor Amtstüren gekippt, Schienen blockiert und Giftschiffe geentert werden, der soll doch nach "drüben" gehen! (Nach Singapur zum Beispiel oder Saudi-Arabien.)

Aber im Ernst: Ist nun ein "Kulturkampf um ‘68" entbrannt, wie Wolfgang Kraushaar ihn drohend an die Wand gemalt hat? (FR, 20.1.2001) Handelt es sich um den Versuch eines großen Roll-back in die Zeit "vor 1968"? Diese Vorstellung unterliegt demselben Missverständnis, das auch die Opposition umtreibt: Nämlich dass die "68er" – wer immer sich dazurechnet – tatsächlich die Autoren und Demiurgen jenes überfälligen sozialkulturellen Umbruchs gewesen seien, der sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren auf breiter gesellschaftlicher Front abgespielt hat; sodass mit dem Sturz ihres Repräsentanten Fischer irgendein "Geist" oder eben "Ungeist" zurück in die Flasche gestopft werden könnte.

Darin lebt die Magie aller bundesdeutschen "Geschichtsdebatten", die von Zeit zu Zeit wie heißer Wind durch das Land fegen und Teil einer stets erneuerten, rituellen deutschen Selbstbeschwörung sind, eines nicht enden wollenden inventing of traditions. Die Bundesrepublik ist nun einmal nach allen historischen Brüchen ein Gebilde aus Ideologie und Pragmatik, das dem Boden ihrer positiven Erfahrungen und ihrer selbst erworbenen, in den "sozialen Habitus" eingegangenen Traditionen noch immer nicht wirklich traut.

Im allgemeinen Stimmengewirr der "Fischer-Debatte", schrieb Martin Altmeyer, sei mittlerweile "ein Gespräch herauszuhören, das die 68er unter sich führen", eine Generationendebatte, die der Selbstverständigung diene (FR, 23.1.01). Noch wage ich diese Erwartung nicht zu bestätigen. Eine solche Debatte wäre allerdings sehr zu wünschen und dringend überfällig – spätestens jetzt, wo "die 68er an der Macht" sind oder jedenfalls in der Regierung. Es ginge bei einer solchen Selbstverständigung nicht um irgendwelche neuen, eifrigen "Distanzierungen" – die sowieso das Allerbilligste im politischen Geschäft sind und im Zweifelsfall, wie Jürgen Trittin soeben vorgemacht hat, zwanzig Minuten und ein paar warme Worte kosten. Sondern einfach um ein Stück Selbstaufklärung, mit dem zugleich ein Stück Mentalitätengeschichte dieser Gesellschaft rekonstruiert würde.

Die reflexhaft geschlossenen Abwehrfronten gegen die ungezielten Attacken der parlamentarischen Konkurrenz und der nach Stoff lechzenden Medien sind dafür eher kontraproduktiv – auch praktisch-taktisch übrigens. Man wäre in einer ungleich besseren Position, hätte man früher und souveräner über sich selbst und die eigenen Anteile am Wahn jener Zeiten nachgedacht. Joschka Fischer, der seine Texte von 1976/77 in Thomas Schmids Autonomie nicht als anonymer Sponti-Mescalero, sondern mit eigenem Namen unterzeichnet hat und insoweit schon immer "dazu stehen" musste, ist in dieser Hinsicht noch einer der Avanciertesten. Freilich konnte Fischer der Versuchung nicht widerstehen, alle diesbezüglichen Auskünfte in seine jeweiligen, allerneuesten narzisstischen Selbststilisierungen und Verwandlungsspiele einzubauen. Für diese mediale Interessantheit und diesen überhöhten Gestus eines ex profundis Erretteten und Erleuchteten zahlt er jetzt einen hohen Preis: in der Polarisierung des Publikums, im Neid etlicher "Jungtürken" und "Hinterbänkler" oder im abgründigen Hass der Gebrannten und Enttäuschten dieser Jahre – bis hin zu ihren traumatisierten Kindern, wie der Meinhof-Tochter Bettina Röhl. Immerhin: Bei seinem Auftritt als Zeuge im Prozess gegen Hans-Joachim Klein, der ihm wie ein Gespenst seiner Frankfurter Geschichte gegenübersaß, war Fischer (zumindest am Ende, im Dialog mit Kleins Verteidiger Eberhard Kempf) von einer respektablen, für einen Politiker durchaus riskanten Offenheit, die sich von der opportunistischen Glätte eines Jürgen Trittin angenehm abhebt.

Die Neigung zu narzisstischen Selbststilisierungen ist ohnehin keine bloße persönliche Schwäche des Ministers, sondern gehört zu den Versuchungen und Prägungen der Generation im Ganzen. Die Schrumpfform unserer einstigen revolutionären Selbstüberhebungen ist ein Geschichtsbild, worin wir, die Wunderkinder des annus mirabilis 1968, zumindest als die Heroen einer regelrechten "Umgründung" der Bundesrepublik (M. Görtemaker) oder "sozio-kulturellen Neugründung" (W. Kraushaar) erscheinen. Wenn wir schon nicht Weltrevolutionäre sein konnten, dann wenigstens eine Art Staatsgründer! Dieser selbst gebastelte, mittlerweile in etlichen Standardwerken festgeschriebene Generationsmythos steht allerdings zur Debatte.

Dass es darin einen Realitätskern gibt, ist sicherlich unbestreitbar. Es war ja ein Vorgang von stiller staatspolitischer Bedeutung, als Bundespräsident von Weizsäcker am ersten Tag der deutschen Einheit, dem 3. Oktober 1990, in offizieller Weise die "Jugendrevolte am Ende der Sechzigerjahre" zu einem Baustein der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik erhob, da sie "allen Verwundungen zum Trotz zu einer Vertiefung des demokratischen Engagements in der Gesellschaft" beigetragen habe. Fast könnte man von einer zweiten, innergesellschaftlichen Wiedervereinigung West sprechen. Die Herausforderung der Republik mit ihrer allenfalls verächtlich zitierten "FdGO" durch ein beträchtliches Segment einer weit nach links abgewanderten politischen Generation war beendet.

Nur, wie ist das zugegangen, dass die Bundesrepublik nach einem mittlerweile weithin geteilten Urteil liberaler, ziviler, demokratischer und westlicher geworden ist, dazu auch noch hedonistischer, während die Hauptvertreter der jugendlichen Protestbewegung, die das bewirkt haben sollen, in ihren Texten und Äußerungen doch weitgehend antiliberale, antizivile, antidemokratische und antiwestliche Positionen vertreten haben – und Rudi Dutschke, die Leitfigur, ein Puritaner reinsten Wassers war? Das ist eine Paradoxie, die man zumindest nicht abschwächen darf.

Thomas Schmid hat seine Antwort auf die krasse Formel gebracht, die Republik habe einen "Ansturm der neuen Barbaren überlebt" und sei daran gewachsen, indem sie ihre Fähigkeiten erprobte, mit Konflikten umzugehen und die Abtrünnigen zu ihren Werten zu bekehren (FAZ, 3.1.01). Die Formulierung hat den Vorteil, wenigstens etwas von der Härte der Konfrontationen zu vermitteln (und Schmid weiß ja, wovon er redet). Sie hat allerdings den schweren Mangel, dass von einer solch hohen, überdistanzierten Perspektive aus "die Republik" das eigentliche Subjekt des Wandels ist, nicht eine vielgestaltige Gesellschaft, in der es polare Teilungen und dramatische Spannungen gab. Von welchem fremden Kontinent oder Stern sollen sie gekommen sein, diese "neuen Barbaren", wenn es nicht die Mitte unserer eigenen Gesellschaft war?

Wolfgang Kraushaar hat in seinem jüngsten Buch 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur und in dem bereits zitierten FR-Beitrag eine andere Perspektive aufgemacht: Mit Blick auf die internationalen Jugendbewegungen dieses Zeitalters sieht er die westlichen Gesellschaften im großzügigen soziokulturellen Wandel, angestoßen und vorangetrieben von minoritären "Katalysatorgruppen", deren Sprecher vielfach der von Max Weber und Hannah Arendt gezeichneten Figur des "Paria" entsprochen hätten, also Abkömmlingen gesellschaftlicher Außenseitergruppen. Kraushaar hat als Beleg die prominente Rolle junger jüdischer Intellektueller in Frankreich, den USA oder Polen 1968 angeführt oder auf eine Figur wie den Pakistani Tariq Ali als charismatischen Sprecher der britischen Studentenbewegung verwiesen.

Das Modell hat etwas Bestechendes. Auch ich sehe eine Art Katalysatorwirkung der linksradikalen Jugendbewegungen dieser Zeit. Nur muss man sich die genaue Bedeutung des Begriffs vor Augen halten: Katalysatoren sind Stoffe, die chemische Prozesse auslösen und beschleunigen, aber in diese Umwandlungen selbst nicht mit eingehen, sondern am Ende zurückbleiben. Keine sehr freundliche Metapher also. Die von Kraushaar eingeführte Figur des "Paria" soll diesen Widerspruch vermitteln und gibt dem Modell einige soziologische Eleganz. Für die genannten Länder hat es auch sicher einige Triftigkeit. Aber für die Bundesrepublik?! Von Dutschke über Krahl bis Fischer sieht man keine "Parias", nur oberen oder unteren Mittelstand, soziale Aufsteiger oder bürgerliche Aussteiger, mehr Provinz als Metropole. Allein Dany Cohn-Bendit passt in dieses Schema. Aber er kam als der vertriebene Held des Pariser Mai und Geschöpf der Medien und blieb innerhalb der früh von Theoriefanatismus und Organisationswut geprägten deutschen Bewegung rund um den SDS selbst noch lange ein "Paria", ein Außenseiter. (Er hat diese intensiven Erfahrungen von Misstrauen und Fremdheit klar genug beschrieben.) Nur in Frankfurt, niemals in Berlin, Hamburg oder München, hätte er Fuß fassen können; und auch hier nur in einem ganz eigenen, von ihm mitgeprägten Sondermilieu. Selbst bei den Grünen konnte oder wollte er nie etwas werden.

Nein, von Dany kann sich die bundesdeutsche Linke nicht die hedonistischen und libertären Züge borgen, die sie von Haus aus nicht hatte. Und gerade die Matadore der "Kommune 1" oder "Kommune 2", die nach allgemeiner Erinnerung dem deutschen Achtundsechzig einen Zug von Leichtigkeit und Eulenspiegelei gegeben haben sollen, belegen das am schlagendsten. Wie kam es, dass die angeblich so fröhlichen Kommunarden fast alle binnen ein, zwei Jahren entweder im organisierten Terrorismus oder in der KPD/ML gelandet waren? Dass dies einer repressiven, sexualfeindlichen Öffentlichkeit oder einem exzessiven Polizei- und Justizterror geschuldet gewesen sein soll, ist glatter Humbug. Die "K 1" war ein reines Medienprodukt und lebte auch großteils davon; der Polittourismus nahm "fast den Charakter einer Belagerung an" (Kunzelmann); und die Maobiter Prozesse und Kudamm-Provokationen waren erst recht Sternstunden der eigenen Prominenz. Der Trip in den Terror, auf den die Kommunarden 1969 gingen, oder (alternativ) die drakonische Selbstdisziplinierung in einer marxistisch-leninistischen Organisation folgten einer Dynamik, die im Wesentlichen nicht außen-, sondern innengesteuert war, einer Psychodynamik also. Genau das gilt auch für das Gros der politischen Bewegung. Hier fangen die wirklichen Schwierigkeiten einer historischen Interpretation an.

Joscha Schmierer (in der FAZ, 18.1.01) und Christian Semler (in der taz, 11.1.01) haben unabhängig voneinander versucht zu beschreiben, "Wer wir waren", und darauf beharrt, dass es der Protestbewegung ursprünglich um so reelle und legitime Dinge wie radikale Demokratie gegangen sei. Lassen wir beiseite, dass sie beide in ihren Artikeln als reine Aktivisten der 68er-Bewegung auftreten und nicht auch als Führer marxistisch-leninistischer Gruppen der Siebzigerjahre – was ja doch ein gewisses Dementi der eigenen Aussage enthält oder zumindest Fragen aufwirft, die sie sich selbst und anderen bisher nicht beantwortet haben.

Der ganze Duktus der Argumentationen ist auf verblüffende Weise historistisch. Rekonstruiert wird, "wie es denn eigentlich gewesen ist" – damals eben. Weil "die bestehende Demokratie eine Neigung zur Diktatur entwickelt zu haben schien", etwa in Gestalt der Großen Koalition und der "Notstandsgesetze als Instrumente eines diktatorischen Ausnahmezustands", heißt es bei Joscha Schmierer, "musste Demokratie offensichtlich eine neue Basis erhalten, eine Basis wirklicher Gleichheit durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel". Weil uns etwas so "schien", "musste" unsere Schlussfolgerung diese und keine andere sein? Auf diese Weise kann man gewisse Plausibilitäten noch einmal evozieren oder wie Christian Semler schreibt, "einsehbare Beweggründe", also eine Möglichkeit, die Dinge so zu sehen. Aber da ist kein Muss, nirgends.

Es gab keinen Ausnahmezustand, er drohte auch nicht. Es gab auch keine gesellschaftliche und politische Gleichschaltung. Die "Große Koalition" war die erste Reformregierung, die eine "neue Ostpolitik" und eine Reihe weit reichender Ausbauten des Sozialstaates in Angriff nahm. Es gab sicherlich gute Gründe und genügend Stoff für eine "außerparlamentarische Opposition". Aber was sich zur APO formierte, war eben keine Assoziation von Bürgerinitiativen und NGOs, sondern eine Fundamentalopposition gegen diese Gesellschaft und gegen diese Republik. Alles andere hätten wir doch wohl auch damals als Beleidigung empfunden.

Christian Semler besteht auf der Legitimität der damaligen radikal "anti-autoritären" und räte-demokratischen Vorstellungen. Aber die Räterepublik in einem "befreiten Westberlin", wie sie im "Gespräch über die Zukunft" näher ausgemalt wird, das Enzensberger 1967 mit Dutschke, Rabehl und Semler führte, ist geradezu ein Albtraum einer total organisierten Gesellschaft. Das war die Crux aller doktrinär anti-autoritären Gesellschafts- und Organisationsmodelle: je großartiger sie die universelle Selbsttätigkeit der Menschen ausmalten, umso totaler ihr Anspruch an die Einzelnen. In der Praxis der antiautoritären Bewegung mit ihren zahllosen Teach-ins und Meetings herrschte denn auch, wie in jeder anomischen Situation, das sozialdarwinistische Durchsetzungsvermögen der informellen Führer und ihrer Gefolge. Die Tomate, die die SDS-Frauen auf Krahl als den Exponenten der "Machtstammhalter" in der Bewegung abfeuerten, brachte das schlagartig zum Vorschein.

Auch die großen Krisen, die wir heraufziehen sahen, waren völlig anderer Natur als wir annahmen – es würde zu weit führen, das hier auszuführen. Man kann das sozialgeschichtliche Paradox ja kaum überzeichnen: Nach allen Parametern (Vollbeschäftigung, Expansion des Bildungswesens, der sozialen Einrichtungen, der kulturellen Innovationen) waren die Jahre 1965 bis 1975 die "glücklichen zehn Jahre" (Heinz Bude), nicht nur in der Geschichte der Bundesrepublik, sondern der meisten europäischen Länder. Objektiv gesehen waren wir – genau wir, die Rebellen, Militanten, Kader, Mitläufer oder wenigstens Sympathisanten einer phantasmagorischen Weltrevolution – die eigentliche jeunesse dorée dieser Nachkriegsjahrzehnte, und wahrscheinlich des ganzen 20. Jahrhunderts.

Wie passt das zusammen? Wenn es überhaupt eine sinnvolle historische Analogie gibt, dann am ehesten mit der "Jugend von 1914". Auch damals reagierte ein Großteil der Jüngeren auf einen sozialökonomischen und lebenskulturellen Umbruch von nie da gewesener Durchschlagskraft nicht etwa mit frischfröhlichem Optimismus, sondern mit apokalyptischen Weltgefühlen, worin sich Heils- und Unheilserwartungen intim mischten. Wie die Bürger von Mahagonny wünschte man sich einen Hurricane, der die Atmosphäre reinigte – und machte ihn notfalls selbst.

In unserem Falle blieb das, zum Glück, weithin eine Phantasmagorie. Aber es ist mit Händen zu greifen, dass es bei Vietnam sehr schnell schon um etwas ganz anderes ging als nur den Widerstand gegen einen ungerechten Krieg. Wenn man sich die Rhetorik des im Geiste Che Guevaras veranstalteten Vietnam-Kongresses im Februar 1968 anschaut, schwelgte man in den Perspektiven eines Weltrevolutionskrieges gegen den Weltimperialismus, einem wahren Armageddon. Eine Art negativer Hegelianismus wurde zum vorherrschenden Lebensgefühl. Das Wesen musste erscheinen. Und dieses Wesen der "herrschenden Gesellschaft" war ein Unwesen.

Wenn wir unsere damaligen Halluzinationen, Bedrohungsgefühle, Größenfantasien und so fort aus heutiger Sicht und Kenntnis beschreiben und interpretieren, ist das keine Selbstdenunziation, sondern bedeutet im Gegenteil, dass man sich selbst und seine Zeit ernst nimmt. Es geht überhaupt nicht um "Fehler", "Irrtümer" et cetera – danach kräht kein Hahn mehr –, sondern es geht um zeittypische Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster, in diesem Sinne um wesentliche Elemente einer Generationen- und Mentalitätengeschichte.

Wozu haben wir jemals Marx’ Operationen der Ideologiekritik studiert, von Freuds "Unbewusstem" gar nicht zu reden, wenn uns die Frage nicht einmal streift, ob sich in unserem Handeln nicht "hinter unserem Rücken" Interessen und Motive geltend gemacht haben, von denen wir selbst damals kein Bewusstsein hatten.

In der Bundesrepublik hat sich, entgegen einem fast allgemeinen Eindruck, die (vermeintlich breite und einheitliche) 68er-Bewegung an ihrem Ausgang nicht "aufgesplittert", sondern im Gegenteil unablässig verbreitert. Der Zenith dieses jugendlichen Radikalismus und Neokommunismus liegt zahlenmäßig um die Mitte der Siebzigerjahre. Und die ganze Bewegung kulminiert von den einfließenden psychischen Energien her in den Jahren 1976/77. Dabei geht es nicht allein um die ungefähr hunderttausend organisierten Linksradikalen jeglicher Couleur, die – erst recht, wenn man die Fluktuationen und ausfransenden Sympathisantenmilieus mitrechnet – ein beträchtliches Segment dieser Generation insgesamt gestellt haben. (Man kann an eine Personengruppe von etwa 150000 denken, die im strikteren Sinne und für kürzere oder längere Zeit involviert war.)

Darüber hinaus geht es um ein Zeitklima, um Abschnitte der intellektuellen Biographie der Republik, die bis weit in die linksliberale Mitte hineinreichten. Es geht um Berge von Literatur, die damals in Riesenauflagen verschlungen wurde und heute nahezu unlesbar geworden sind.

Ein (fast) beliebiges Beispiel: 1973 erschien das Kursbuch über Isolationshaft, Auflage rund 100000 Exemplare, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger und Karl Markus Michel. Im Mittelpunkt stand die Behauptung, dass in der Bundesrepublik mittels wissenschaftlicher Forschungen über "sensorische Deprivation" neue, lautlose Methoden einer "weißen Folter" und Menschenvernichtung entwickelt würden, zunächst an den politischen Gefangenen, später an allen Abweichlern und Renitenten – staatliche Aktivitäten, die auf einen "tendenziellen Massenmord à la Auschwitz" hinausliefen. An solchen Tiefpunkten des Obskurantismus und einer kategorischen Realitätsverweigerung waren auch sehr intelligente Leute damals angekommen. Wahrlich, man lebte in finsteren Zeiten. Wer das glaubte und selbst aufs Papier brachte – wie konnte der auf anderes setzen als auf Ulrike Meinhofs Lösung: "knarre, bewusstsein und kollektiv"?

Man konnte. Die Kluft zwischen den Zwangsgedanken, von denen "alle" (viele) irgendwie obsidiert waren, und dem realen Leben, das sie führten, war zum Glück unüberbrückbar. So radikal, wie gedacht wurde, konnte kein Mensch leben – außer eben die Terroristen. Sie waren deshalb auch die, die ausagierten, was sehr viele andere "eigentlich" auch für politisch geboten oder moralisch überfällig hielten, aber sich nicht in der Lage sahen es zu tun.

Dass die (meist völlig sprunghafte) Entwicklung radikaler Jugendbewegungen um das Jahr 1968 herum in Ländern völlig unterschiedlicher Systeme und Weltzonen wenig oder gar nichts mit sozialrevolutionären Bewegungen traditionellen Stils gemein hatte, liegt wohl auf der Hand. Man findet dafür keine andere plausible Erklärung, als dass ein jeweiliger tiefer Konflikt zwischen den Kriegs- und Nachkriegsgenerationen als die eigentliche Klimamaschine dieser Turbulenzen und Radikalisierungen des Zeitalters gewirkt hat – nicht im Sinne der ewigen und notwendigen Reibungen zwischen Eltern und Kindern natürlich, sondern im Sinne eines Konflikts gesellschaftlicher und politischer Generationen, also Alterskohorten.

Solche Generationskonflikte führen, vor allem im Zeitalter der Kriege, Revolutionen und Bürgerkriege der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu tiefen Erschütterungen der "Wir-Schicht" einer gegebenen Gesellschaft und zu radikalen Um- und Neubildungen des "sozialen Habitus" – um es in der Terminologie von Norbert Elias zu sagen. Dabei handelt es sich nicht um rein symbolische, ideelle Konflikte, sondern um gesellschaftliche Konflikte eigenen Typs, deren Rolle und Bedeutung im Rahmen der modernen Massenbewegungen – und gerade auch der totalitären Bewegungen des Jahrhunderts – noch kaum recht erfasst ist. (Es mag der aperçuhafte Hinweis genügen, dass die stalinistischen wie die nationalsozialistischen Eliten die jüngsten ihrer Zeit gewesen sein dürften.)

Dass diese Erschütterungen und Umbrüche in Deutschland eine ganz besondere Tiefe und Virulenz hatten, muss kaum betont werden. Dabei war die Adaption der Weltsprache des Marxismus und die Kostümierung dieser generationellen Konflikte als Klassenkämpfe womöglich eher ein Element der Entschärfung als der Verschärfung. Die Auflösung der Erfahrung des deutschen Nationalsozialismus in einen universellen, weltweit anwendbaren Begriff des Faschismus, der wiederum auf den Kapitalismus als die Hauptquelle aller Übel zurückgeführt wurde, war ein erster (misslungener) Versuch der "Entsorgung" einer unerträglichen geschichtlichen Erbschaft. So frenetisch versucht wurde, das Bild der "Generation von Auschwitz" mit dem Bild der Reichen und Mächtigen, der Ausbeuter und Imperialisten zu amalgamieren – es blieb als ein treibender Faktor gesellschaftlicher Entbindung immer wirksam.

Das war eine kollektive Phantasie von beklemmender Intensität und Intimität. Ihr Mythologe, der berserkerhafte Psycho-Apokalyptiker Klaus Theweleit, hat das in so erstickende Zwangsvorstellungen gebracht wie die, dass schon in "der Sexualität der Alten (diesem unvorstellbar faschistischen Dunkel, aus dem man irgendwie ,kam‘) ... eine Art Mord" brütete. Und wenn die internen Verfeindungen der linksradikalen Gruppen sich zu einer (wie er glaubte) Atmosphäre von Genickschüssen verdichtete, dann "wird das eine Gegenübertragung gewesen sein zu den Körpern der Eltern, deren Töterfleisch nach analytischer Rettung durch die Kinder schrie".

Man muss das nicht verstehen wollen. Es ist selbst noch ein hoch verdichteter literarisch-theoretischer Reflex der Affekte dieser Zeit – und eine ferne Erinnerung daran, dass noch in den Postulaten einer "sexuellen Revolution" oder vieler der ersten "anti-autoritären" Erziehungsexperimente Elemente fanatischer Selbstreinigung und einer narzisstischen Selbsterfindung mit am Werk waren, Motive einer radikalen Sezession vom kontaminierten Eltern- und Volkskörper. Diese rasende Psychodynamik – hinter der alle konkreten Anlässe und Gründe des Protestes und der Unzufriedenheit völlig zurücktreten – explodierte schließlich im ungeheuren Geschehen des "deutschen Herbstes". Der Mord an Hanns-Martin Schleyer, dem ehemaligen SS-Mann und imaginären "Boss der Bosse", kann wohl als eine Art symbolischer Vatermord gedeutet werden – während das "Töterfleisch der Eltern" nach dem Opfer seiner Kinder in Stammheim "schrie".

Danach setzte eine kathartische Ernüchterung auf allen Seiten ein. Und wenn diese Ereignisse um den (nach Wagner-Oper klingenden) Unort "Stammheim" eine Art negativer Nationalmythos und tief eingelagertes Stück kollektiver Erinnerung geworden sind, dann ist das allerdings nur eine Deckerinnerung vor dem Gesamtbild des Generationsradikalismus dieser Zeit, der die sozialliberale Reformperiode antithetisch begleitet hat und in all seinen sektiererischen und finster-kuriosen Ausprägungen so tief vergessen war. Bis vor kurzem. Jetzt wird das Thema mit allen Borniertheiten und Gehässigkeiten des politischen Graben- und Tageskampfes stückchenweise ans Licht gezerrt.

Ich habe – gegen große innere Widerstände – in den letzten anderthalb Jahren versucht, dieses ganze "Rote Jahrzehnt" von 1967 bis 1977 als einen zusammenhängenden Zyklus oder Spannungsbogen zu rekonstruieren und zu erzählen. Das ist ein Versuch, die radikalen Bewegungen dieser Jahre in ihren diversen organisatorischen und lebenskulturellen Ausformungen und Verzweigungen noch einmal zu vergegenwärtigen – nicht politologisch oder eng Ideologie-kritisch (da würden einem die Füße einschlafen), sondern eher sozialpsychologisch und "ethnologisch".

Der Aufschrei Enzensbergers in der FAZ (25.1.01) gegen die Art und Weise, wie das Thema in Parlamentsdebatten, Leitartikeln und Talkshows zur "Gespensterdiskussion" wird, die als Paravent für allerhand trübe Manöver dienen solle, deutet schon an, worauf es hinauslaufen wird: alsbaldiger Überdruss und erneute milde Amnesie. Das mag für einen wie Enzensberger angehen, der – immer der "fliegende Robert" – einige der radikalsten Positionen und Vorstellungen der Zeit in Verse und Texte gebannt hat, um sie (und sich selbst) wenig später schon wieder im Fluge zu überholen. Sein Gedicht "Andenken" (von 1980!) hat mir als Motto gedient: "Also was die siebziger Jahre betrifft / kann ich mich kurz fassen .../ Widerstandslos, im großen und ganzen, / haben sie sich selbst verschluckt .../ Daß irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte, / wäre zuviel verlangt."

So darf man als Dichter schreiben, dessen mitleidlose Lakonik selbst von großer Aussagekraft ist. Als Historiker seiner eigenen, Geschichte gewordenen Lebenszeit, die weitgehend mit der dieses Gemeinwesens zusammenfällt, kann man so lakonisch kein Jahrzehnt einfach streichen – und die Siebziger schon gar nicht. Richtig ist: "Nachsicht", wie Brecht sie in seinem Gedicht an die Nachgeborenen für die aus der Flut des dunklen Zeitalters Auftauchenden seiner Generation reklamiert hat, wäre in unserem Falle wirklich zu viel verlangt.

Von Gerd Koenen erscheint demnächst:

Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977

(Kiepenheuer & Witsch, April 2001)

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Februar 2001 (19. Jg., Heft 2/2001)