Fischer contra Westerwelle

Der Generationenwahlkampf hat schon begonnen

Albrecht von Lucke

Ein Jahresauftakt und zwei Ereignisse: Zum gleichen Zeitpunkt, da die interessierte Öffentlichkeit sich wieder einmal mit der Straßenkämpfervergangenheit Joseph Joschka Fischers herumschlägt, kürt die FDP auf ihrem Dreikönigstreffen den smarten Guido Westerwelle zum designierten Parteivorsitzenden. Zufall? Keineswegs. Längst hat der Wahlkampf 2002 begonnen.

Nicht ohne Grund bemüht Westerwelle das Wort vom Generationswechsel. Wieder ist es der Auftakt zu einem Wahlkampf der Generationen. Wie 1998 zur Auseinandersetzung der Babyboomer mit dem letzten Flakhelfer Helmut Kohl wurde, fordert heute die Generation Merz, Merkel, Westerwelle die 68er heraus. In Zeiten schrumpfender parteipolitischer Unterschiede steht das vermeintlich Authentische der Generation für größtes symbolisches Kapital. Wer eine Generation erfolgreich für sich reklamiert, indem er als ihr unangefochtener Stellvertreter auftritt, ist politisch beglaubigt. Gleichzeitig werden die Legenden für den Wahlkampf 2002 mobil gemacht. Schließlich kommt keine Generation ohne gelebte Biografien aus. Und keiner wusste die symbolische Macht des Biografischen bisher besser in politischen Mehrwert umzumünzen als Joschka Fischer. In Treue fest steht der einstige Streetfighter zu seiner Biografie. "Das bin ich, Joschka Fischer. Ohne meine Biografie wäre ich heute ein anderer, und das fände ich gar nicht gut." Fischers politisches Kapital war immer seine Generation. Sein Charisma lebt von seiner Arbeit am Mythos 68, jenem "magischen Jahr"(Fischer). Am Mythos wohlgemerkt, denn 68 war Fischer lediglich eine Randfigur am Rocksaum der Krahl und Co. Seine eigentliche "revolutionäre Zeit" datiert bekanntlich erst mit den Siebzigerjahren. Doch spätestens 1985, mit dem Kauf jener legendären Nike-Turnschuhe am Tag vor seiner ersten Ministervereidigung bewies Fischer seine eigentliche, seine inszenatorische Meisterschaft. Er steht zu seiner Geschichte, "vor allem auch der Brüche wegen" (Fischer). Kein Wunder: Wenn etwas Joschka Fischer neben seiner Schlagfertigkeit auszeichnet, dann die Gabe, gerade seinen Konversionen einen geschichtlichen Sinn zu verleihen. Gerade aus der Interpretation jener Wendemarken – von Entebbe bis Srebrenica – verstand der einstige Politrocker höchstes symbolisches Kapital zu schlagen. Ganz nach Belieben blättert er in seiner Vita wie in einem offenen Buch und inszeniert sein Leben als einzigen Bildungsroman: Auf Sturm und Drang der Jugendzeit folgte Reifung und Läuterung. Der Bruch und dessen Deutung wurden ihm zum interpretatorischen Prinzip seiner Biografie. Damit gelang es Fischer, die Häutungen seiner Generationsgenossen wie kein anderer zu verkörpern. Er verlieh der politischen Generation eine Stimme, mehr noch: eine historische Mission. Auf seinem langen Lauf zu sich selbst und ins Außenministerium nahm er den Großteil seiner abgedrifteten Generationsgenossen mit. Sein Marsch in die Institutionen erschien als der einer ganzen Generation. Einer kam durch – stellvertretend für alle.

Das erklärt aber noch nicht, wie Joschka Fischer zum mit Abstand beliebtesten Politiker wurde, den sich jeder dritte Deutsche zum Urlaubsbegleiter wünscht. Von der Omi bis zum Enkel: Joschka ist "everybodys darling". Längst geht die Zustimmung zu Fischer weit über seine Generation hinaus. Die Dialektik seiner Geschichtspolitik bestand stets im virtuosen Spiel von Identifikation und Absetzung von seiner Generation und ihren historischen Irrtümern. Immer mehr inszenierte er sich als den seherischen Einäugigen unter den vielen Blinden und Verblendeten in seiner Generation und Partei. Annäherung an die herrschende Meinung durch Wandel der einstigen Überzeugungen wurde zu seiner Devise. So gelang ihm die Versöhnung der Republik mit ihren einstigen Feinden. Fischer steht für die Resozialisierung der verlorenen Söhne und Töchter von 68. Die fischerschen Verfehlungen sind damit längst eingespeist in eine große Erzählung, einen großen Sinnzusammenhang. Fischer wurde zur Inkarnation einer ganzen bundesrepublikanischen Ära, seine Biografie zum Bildungsroman der alten Bundesrepublik und ihres langen Weges nach Westen. Nichts könnte dies deutlicher zum Ausdruck bringen als die Tatsache, dass selbst alte Fischergegner wie Bild-Bonn-Boenisch lediglich von Jugendsünden sprechen wollen. Polizistenkloppe? Schwamm drüber!

"Leiden an Deutschland"

Und nach zwei Jahren Regierungsverantwortung haben die Schröders und Fischers längst den nächsten Schritt getan. Derweil des Bastakanzlers neue Unverkrampftheit die Berliner Republik prägt, gibt Joschka Fischer den Lordsiegelbewahrer der zivilen Errungenschaften der Bonner Republik. Und usurpiert obendrein die letzte konkrete Utopie, die Vereinigten Staaten von Europa. In seiner staatsmännischen Pose kaum zu überbieten, mit stets gramvoll zerknittertem Gesicht wie eine Ausgeburt übernatürlicher Weisheit über den politischen Tagesgeschäften thronend, demonstriert er jeden Tag aufs Neue, dass er sich in seinem heroischen Selbstverständnis längst von seiner eigenen Lebensspanne gelöst hat. Sein "faustischer Pakt mit der Politik" wird durch einen förmlich übergeschichtlichen Auftrag motiviert, das "Leiden an Deutschland" (Fischer über Fischer). Joschka Fischer ist zum ideellen Gesamtdeutschen geworden, dessen penetrante Leidensmiene das Leiden am deutschen Wesen verkörpert. Welch enormes symbolisches Kapital aus Gesinnung und Verantwortung, Bekenntnis und Tragik, Zerrissenheit und Autorität! Joschka Fischers: "Hier stehe ich, ich konnte nicht anders" – das ist die letzte deutsche Generations-Erzählung, das letzte historische Projekt.

Was aber bleibt da noch den Jungen?

Wenig, um nicht zu sagen nichts. Noch immer verfügen die 68er-Nachgeburten nicht über das symbolische Kapital einer Generation. Ihr Trauma besteht seit Jahren darin, den Nachweis der eigenen Generationstauglichkeit nicht erbracht zu haben. Zu jeder richtigen Generation soll schließlich der Gestus der Rebellion oder doch zumindest der Aufsässigkeit gehören. Wie wusste schon Willy Brandt: Wer nicht mit achtzehn Anarchist war, gibt in reifen Jahren keinen ordentlichen Politiker ab. Nicht ohne Grund hängt der Altkanzler über des Außenministers Schreibtisch. Belanglos der Politiker ohne Vergangenheit, die zu bewältigen wäre. Keine Karriere ohne Biografie. Geschichtslosigkeit führt zu Gesichtslosigkeit.

Doch hier beginnt das Dilemma der Merz’ und Westerwelles. Wie wollen sich jene biografisch häuten, deren Leben von Anfang an so glatt war wie ein Babypopo? Was macht jene Ministranten-Generation, deren Rebellion nie darüber hinauskam, den Till Eulenspiegel im Laienspiel des Briloner Jugendkreises zu geben? Im Zweifellsfall leidet sie klamm und heimlich am Generationsneid oder frisiert sich gar eine eigene Revoluzzer-Vergangenheit. Das Phänomen der "Bastelbiografie" treibt ungeahnte Blüten. Ganze Borderline-Generationen und -Biografien entstehen. Wer spräche noch von jener ominösen "Generation Berlin"? Wer noch von jenen "jungen Wilden", von denen doch nur eines bekannt ist: Dass sie weder jung noch wild sind.

Besonders fulminant ging jetzt der Schuss im Fall des Friedrich Merz nach hinten los. Sein Eigentor war symptomatisch. Sein hilfloser Versuch, sich aus einer Fahrt auf Opas DKW eine knackige Rebellen-Vita zu zimmern, musste schief gehen. Was zählt schon das merzsche "Ja, ich bin mit Opas Moped gefahren" gegen Joschka Fischers "Ja, ich war militant"? Den Friedrich im Sinn mag Fischer im Brustton der Überzeugung gesagt haben: "Ein Lämmerschwänzchen war ich nie". Auch in puncto Jugendsünden haben die 68er "Maßstäbe" gesetzt.

Eines ist klar: Bis heute sind die Merz’ und Westerwelles nicht über den Status der "Zaungäste" (Reinhard Mohr) hinweggekommen, jener so genannten 77er, die allenfalls mit großen Augen und aus einiger Distanz die Revolte der großen Brüder begafften. Zuschauen allein schweißt jedoch noch keine Generation zusammen. So ist den 68ern das Wasser nicht abzugraben. Wer wollte ernsthaft glauben, dass das symbolische Kapital der Merz’ und Westerwelles echte Chancen gegen Fischer und Konsorten hat, zumal die 68er-Deutungseliten von Süddeutsche bis Zeit, von Prantl bis Naumann, ihrem Generationsgenossen bei aller Kritik en détail im Ernstfall doch gebührend sekundieren. Schließlich geht es um die Existenzberechtigung der eigenen Generation. Da heißt es: die Reihen dicht geschlossen.

Außerdem wissen sich Fischer und die 68er mit der symbolischen Macht des vergangenen tragisch-deutschen Jahrhunderts im Bunde. Welche Generationsbezeichnung wird die Merz’ und Westerwelles einst zieren? 00 und 01 für die Übernahme ihrer Parteiämter? Nicht dran zu denken. Der Versuch, die "deutsche Leitkultur" gegen die Leidkultur der 68er in Stellung zu bringen, erscheint ebenso hilflos wie das Ansinnen Angela Merkels, als Trümmerfrau der CDU jetzt an Adenauersche Traditionen anzuknüpfen. Wer zum Teufel ist Adenauer? So weit reicht das kommunikative Gedächtnis der heutigen Spaß-Generationen ohnehin nicht mehr. Ernsthaft dürfte die generationelle Auseinandersetzung somit erst 2006 entbranden. Wer weiß, ob die Herren Fischer und Schröder dann noch die erforderliche Sponti-Lust zu ihrer historischen Mission haben? Dann dürfte auch der erste ernsthafte Herausforderer aus der CDU zur Verfügung stehen. Mit seinem brutalstmöglichen Aussitzen der eigenen Verfehlungen hat Roland Koch den Nachweis der Kanzlertauglichkeit allemal erbracht. Und auch die erforderlichen "Jugendsünden" hat der Hesse auf der Habenseite, sodass einer zukünftigen Vergangenheitsbewältigung nichts mehr im Wege steht.

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Februar 2001 (19. Jg., Heft 2/2001)