Henkersmahlzeit – für wen?

Von BSE zur Agrarwende

Ulrich Häpke

Seit dem "Ausbruch" des Rinderwahns in der Bundesrepublik ist die Kategorie des "Verbrauchers" in nur wenigen Wochen zu einer regierungsoffiziellen Größe geworden. So viel "Verbraucherschutz"-Euphemismus war nie. Aber der Rinderwahn ist kein tiefer Fall aus heiterem Himmel. Er ist Teil eines fragilen industriellen Versorgungszusammenhangs in hoch arbeitsteilig organisierten kapitalistischen Gesellschaften, die Subsistenzwirtschaft faktisch kaum noch kennen. Unser Autor schlägt den Bogen vom Ressourcenschutz bis hin zur Frage, wie denn eine Agrarwende überhaupt aussehen könnte.

Ein diskreter Charme geht vom Rinderwahnsinn aus. Politikern und Medien zufolge bedeutet die "Bovine Spongiforme Enzephalopathie" immer weniger Krise und immer mehr Chance, immer weniger Angst, Erschrecken, Entsetzen und Mitleid und immer mehr Hoffnung und Erleichterung. Endlich, so scheint es, geschieht etwas: Nachdem der Wahnsinn jahrelang nur in der Agrarpolitik und in den Köpfen der Politiker gewütet hat, verspricht der Kanzler jetzt, die Agrarfabriken abzuschaffen. Krise und Katastrophe sollen zur Katharsis führen, zur Agrarwende – die Tragödie fände ihr Happyend. So gesehen, wäre der Rinderwahnsinn ein reiner Glücksfall. Nicht die neuen BSE-Fälle wären dann das Problem, viel schlimmer wäre es, wenn die Seuche wieder abebben würde. Was würde dann aus unserer Agrarwende? Keine Angst – aber sollten wir und allen voran die BSE-Ministerin den EngländerInnen dafür nicht endlich einmal danke sagen? Oder ist der Rinderwahn doch der GAU für die Landwirtschaft, die Verbraucher und die Agrarpolitik?

Verweist der Rinderwahn so oder so auf paradoxe Verhältnisse: auf einen Ressourcenschutz, der nicht ökologisch ist, auf Gesundheitsgefahren, die in der BSE-Vermeidung stecken, aber nur wenige interessieren, und letztlich gar auf politische Ablenkungsversuche?

Uralter Ressourcenschutz

Als wichtigste BSE-Ursache gilt die Verfütterung von Tiermehlen und -fetten, die aus Schlachtabfällen und Tierkadavern hergestellt werden. Hintergrund hierfür ist nicht etwa ein kurzsichtiges Profitdenken, sondern eine alte Ressoucen schonende Handlungsweise, die bis vor kurzem eine breite gesellschaftliche Akzeptanz genoss. Seit langem wurden verendete Tiere nicht einfach vernichtet, sondern so weit wie möglich weiterverwendet, trotz aller Strafen, mit denen die Kirche seit dem Mittelalter drohte.

Damals entstand der Beruf des Abdeckers, der häufig auch Scharfrichter war. Der Abdecker sollte "gefallene" Tiere abhäuten und anschließend vergraben, in Flüsse werfen oder an bestimmten Orten abladen, damit sie dort verfaulen konnten. Im Laufe der Zeit allerdings mussten die Abdecker immer mehr handwerkliche und industrielle Rohstoffe gewinnen. Wie Wehmer 1893 im Handbuch der Hygiene schreibt, wurde jedes gefallene Tier "abgeledert und die Haut getrocknet. Das Fett wird weggenommen und ausgeschmolzen, das Fleisch wie die Sehnen in Streifen geschnitten, an der Luft getrocknet und als Leimleder an Leimfabriken verkauft. Von den ausgelösten Knochen werden die Röhrenknochen zuweilen an Beinarbeiter abgesetzt und die übrigen Knochen klein zerhackt als Dünger verwendet, oder es werden die Knochen insgesamt zur Leimfabrik verkauft", während die Überreste zerkocht, verbrannt oder auf dem Schindanger verscharrt wurden.

Häufig genug wurde auch das Fleisch von Kadavern in den Verkehr gebracht. Als Täter nennt Wehmer die so genannten "Kaltschlächter" bzw. "Katzen- oder Polkaschlächter" sowie "unreelle" Pferdeschlächter. Sie haben kranke Tiere kurz vor dem Verenden abgestochen, eventuell auch erst nachher abgeschlachtet, an Ort und Stelle zerlegt und – "meist zur Nachtzeit" – in die nächste Stadt gebracht, wo sie "zumal unter den ärmeren Leuten ... willige Abnehmer" fanden. Ähnlich ließen sich auch "rotzige Pferde verkaufen, deren Fleisch dann wegen seines schönen, dunkelroten Aussehens noch besonders gern von unerfahrenen Leuten aufgekauft wird". Verschiedentlich waren Abdecker im Nebenberuf selbst Rossschlächter. Auch das Personal größerer Abdeckereien beteiligte sich an diesem Handel und verkaufte die "oft höchst appetitlich aussehenden Fleischstücke von Schlachttieren, denen, etwa wenn sie Trichinen, wenige Finnen, ja Tuberkeln enthalten, äußerlich fast nichts anzusehen ist". Schließlich kam es sogar vor, dass "die verscharrten Kadaver ... wieder ausgegraben und in den Verkehr gebracht" wurden. Zudem haben die Abdecker Fleisch auch als Futtermittel vertrieben sowie an ihre eigenen Hunde und Schweine verfüttert.

Auffällig wurde diese Praxis nur dann, wenn sie Krankheiten oder Todesfälle verursachte. So zählt Wehmer für ein halbes Jahrhundert etwas mehr als zwanzig Volksfeste auf, bei denen sich jeweils einige hundert Menschen an Wurst- oder Fleischwaren vergiftet haben. Betroffen waren weiterhin einige Löwen in deutschen Menagerien sowie einige Tiere im Jardin des plantes in Paris. Sicherlich bilden diese Vorfälle nur die berühmte Spitze des Eisberges, sodass Kadaverfleisch in weitaus größerem Umfang genutzt wurde und von Teilen der Gesellschaft anscheinend auch akzeptiert war. Gegen diese Praxis wurde allerdings von Staats wegen vorgegangen und den Abdeckern – jedoch nur in Preußen und Österreich – die Schweinehaltung verboten.

Eiweiß, Eiweiß über alles

Mit der Industrialisierung der Abdeckerei wurde die Nutzung von Kadaverfleisch auch legalisiert. Am Ende des 19. Jahrhunderts führten großstädtische Abdeckereien die Dampfsterilisation ein. Nachdem Häute und Haare, Hufe und Hörner entfernt waren, wurden die Kadaver in großen Dampfkesseln, teilweise schon mit drei Atmosphären Druck, behandelt, um Fette und Leim als Industrierohstoffe zu gewinnen. Die "ausgezogene" Fleischmasse nebst Knochen wurde anschließend gedörrt und zermahlen. Dieses beispielsweise "Leipziger Fleischmehl" genannte Pulver diente als Düngemittel.

Schon damals wollte, wie Wehmer berichtet, ein Herr Liebe in Spandau diese Stoffe "als Viehfutter zulassen. Hierfür hält er sich für berechtigt, da Impfversuche mit diesem Materiale an Tieren bisher stets negative Erfolge hatten". Allerdings forderte Wehmer für diesen "vom ökonomischen Standpunkte gewiss sehr dankenswerten" Vorschlag weitere Prüfungen.

Im Ersten Weltkrieg war es dann so weit: Wie der damalige Regierungsrat Freiherr von Freyberg schreibt, hat der "Kriegsausschuß für Ersatzfutter" Abdeckereien und Schlachthöfe verpflichtet, aus Tierkadavern und Schlachtabfällen eiweißhaltige Futtermittel und Fette herzustellen. Durch staatliche Darlehen wurden sie beim Ausbau ihrer Anlagen unterstützt und erhielten durch eine drastische Preiserhöhung für Tiermehl weitere ökonomische Anreize.

Zunächst sträubten sich jedoch die Tiere, bis es "gelang, Futter mit Fleischmehl- oder Leimgallertezusatz so herzustellen, daß es auch von Pferden genommen wurde." Ebenso traf die Fütterung mit Tiermehl auf Vorbehalte bei den Verbrauchern, "denen durch genaue Angaben über die Zusammensetzung und den Nährgehalt bei der Abgabe der Futtermittel entgegengewirkt wurde".

Jetzt waren die Kadaver in der Form von industriell produziertem Tiermehl ein völlig legales Kraftfutter. Tiermehl machte die Schindanger überflüssig und trug dazu bei, dass Landwirte die Tierhaltung über ihre betriebliche Futterpflanzenbasis hinaus ausdehnten und über kurz oder lang Mastfabriken aufbauen konnten. Zugleich ist das Ressourcen schonende Recycling von Eiweiß vorbildlich für jede Kreislaufwirtschaft.

Frappierend ist, dass es selbst bis in die Reihen von agrarpolitischen Kritikern bis in die 1990er-Jahre hinein keine Bedenken gegen die Verfütterung von Kadavermehlen gab. Sie kritisierten die Futtermittelimporte aus der Dritten Welt und die überhöhten Kraftfuttermengen für Milchkühe. Aber ein Stichwort wie Tiermehl sucht man etwa in dem Buch Die subventionierte Unvernunft von Hermann Priebe vergebens. Sogar im Kritischen Agrarbericht 1997 wurde ein Verfütterungsverbot für Tiermehl noch abgelehnt und nur die technische Verbesserung der Tiermehlproduktion gefordert. Eine Grundlage hierfür ist das (Miss-)Verständnis, dass sich der Futterbedarf auf eine Kombination von Inhaltsstoffen wie Eiweiß, Kohlehydrate et cetera reduzieren ließe – auch Prionen sind nichts anderes als Eiweiß.

Rinderwahn und Rudolf Steiner

Die einzigen, die diese Ressourcen sparende Praxis bereits früh ablehnten, waren die Bio-Bauern. Auch Nicht-Anthroposophen mussten in den letzten Wochen des Öfteren Rudolf Steiner zitieren: "... der Ochse würde verrückt werden", so Steiner am 13.1.1923, "wenn er anfangen würde, plötzlich ein Fleischfresser zu werden". Steiner war kein Prophet und auch kein Tiermediziner, er verstand sich als Geisteswissenschaftler. Zwischen Pflanzlichem und Tierischem sah er einen grundsätzlichen Unterschied. Ihm zufolge verfügen beispielsweise Rinder in ihrem Körper über eine bestimmte Kraft, um aus Pflanzen Fleisch zu machen, eine Umwandlung, die mit technischen Verfahren unmöglich ist. Steiner fragt, was geschehe, wenn ein Rind unmittelbar Fleisch frisst, und vermutet, dass die besagte Kraft nunmehr überschüssig ist und "allerlei Unrat" erzeugt. Und da Körper und Geist zusammenhängen, muss sich dieser Unrat auch im Geisteszustand des Tieres ausdrücken.

Man mag zu Steiners Assoziationen stehen, wie man will: Er hat dem biologisch-dynamischen Landbau wichtige Anregungen gegeben, und nach seinen Vorträgen begründeten einige Pioniere Mitte der 1920er-Jahre die biodynamische Wirtschaftsweise. Damit begann die Entwicklung des bewussten ökologischen Landbaus, zu dem neben dem Demeterbund inzwischen auch mehrere organisch-biologische Anbauverbände gehören. Seit damals werden auf Bio-Höfen keine betriebsfremden tierischen Eiweiß- und Fettprodukte verfüttert, und bis heute ist in ganz Europa meines Wissens noch kein einziger BSE-Fall in einem Bio-Betrieb aufgetreten. Auch das vor kurzem geoutete Rind "Alex" wurde zwar auf einem Biohof in Mecklenburg-Vorpommern geboren, aber schon einige Wochen später verkauft und hat die letzten vier Jahre konventionell gelebt.

Agrarfabriken als BSE-Nutznießer

Obwohl die Bio-Bauern in den letzten Wochen ihre Umsätze steigern konnten, bleiben die Agrarfabriken die größten BSE-Gewinner. Konventionelle Agrarier betonen, dass bisher nur mittlere Betriebe von BSE betroffen sind. Kein Wunder, denn die Milchviehhaltung und die Kälberaufzucht sind die am wenigsten industrialisierten Zweige der Landwirtschaft. Die Versorgung von Kühen, die Aufzucht ihrer Kälber und das Melken im Zwölf-Stunden-Rhythmus machen viel Arbeit, die nur noch bäuerliche Familienbetriebe auf sich nehmen. Während Kühe fünf, sechs oder mehr Jahre alt werden und so in ein BSE-Test-kritisches Alter kommen, werden Fleischrinder in spezialisierten Mastbetrieben mit 18–22 Monaten geschlachtet, rechtzeitig bevor BSE nachweisbar ist. Insofern erscheinen Bullenmäster als BSE-frei – ob aber ihr Fleisch wirklich weniger infektiös ist?

Am meisten profitieren die Mastfabriken für Schweine und Geflügel. Doch Verbraucher, die den Rinderbraten durch Schweine- und Geflügelfleisch ersetzen, könnten den Teufel mit dem Beelzebub austreiben und so die tierquälerische Massentierhaltung ebenso fördern wie schwere menschliche Erkrankungen aufgrund von Antibiotikaresistenzen.

Neben illegalen Medikamenten, wie Hustensaft mit Clenbuterol, sind vier Antibiotika als Futterzusätze für Rinder und Schweine offiziell zugelassen, hinzu kommen 18 Arzneimittel im Geflügelfutter. Ihre geringen Dosierungen können keine Bakterien töten, fördern aber die Gewichtszunahme der Masttiere, vor allem unter ungünstigen Haltungsverhältnissen. Als Nebenwirkung werden Bakterien wie Erreger von Lungenentzündungen und Darmerkrankungen angeregt, resistente Stämme zu bilden. (1) So warnt etwa die Landesregierung von NRW davor, dass in Zukunft "lebensbedrohende Infektionskrankheiten nicht mehr mit Antibiotika behandelt werden können".

Während genau registriert wird, dass bisher fast 90 Menschen an der neuen Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gestorben sind, liegt die Zahl derer, die vor resistenten Keimen nicht mehr gerettet werden konnten, im Dunkeln – wahrscheinlich ist sie größer. So erkranken in den USA jährlich 5000 Menschen an einem Bakterienstamm, der gegen ein Antibiotikum im Hühnerfutter resistent ist. Die meisten Patienten haben sich sogar unmittelbar beim Verzehr von Hühnerfleisch infiziert.

Ignoranz statt Aufregung

Merkwürdig ist nun, dass die deutliche Mehrheit der Verbraucher antibiotisch gedopte Schweine, Hähnchen und Puten nicht genauso verschmäht wie das BSE-verdächtige Rindfleisch, sondern sogar zunehmend konsumiert. Ursache ist nicht etwa das Preisbewusstsein der Konsumenten, sondern eine allgemeine Ignoranz gegenüber den Entstehungsbedingungen und der Qualität der Lebensmittel. Dies erklärt auch die geringe Nachfrage nach ökologisch erzeugten Nahrungsmitteln. Die Ursache hierfür liegt weder in den Preisen noch in der Vielzahl der Bio-Markenzeichen. Denn: Die allermeisten Menschen in der Bundesrepublik könnten sich Bioprodukte leisten, wenn sie bereit wären, etwa ihren Freizeitkonsum geringfügig zu drosseln. Und: Auch die Öko-Labels sind unterscheidbar.

Medien machen und steuern Skandalinszenierungen und die Bedeutungen, die sie erlangen können. So bleiben die aktuellen Hinweise auf Nematoden und Organozinnverbindungen in Rollmöpsen unbeachtet – vor wenigen Jahren haben die Konsumenten darauf noch mit einem Heringsboykott reagiert. Auch der real schon längst existierende Putenskandal – Puten und anderes Geflügel werden derart widerlich gemästet, dass sie etwa unter ihrem eigenem Gewicht zusammenbrechen – scheint viele Medien derzeit völlig zu überfordern. Solche Tierquälereien durch die industrialisierte Landwirtschaft werden wohl erst dann wieder Ekel erregend präsentiert, wenn BSE niemanden mehr aufregt.

Die Gleichzeitigkeit der skandalösen Zustände, die in der Agrarindustrie herrschen, wird medial in eine Kette von einzelnen Skandalen umgewandelt, die punktuelle Verbraucherreaktionen auslösen: mal einen Herings-, ein andermal den Rindfleischboykott. Hierauf wiederum antworten die PolitikerInnen mit Lösungsversprechen für diese jeweils vermeintlichen Einzelprobleme.

Vorgetäuschter Verbraucherschutz

Dass diese Praxis am Rinderwahn gescheitert ist, zeigen die Rücktritte der MinisterInnen Fischer und Funke. Es ist allzu offensichtlich, dass das Verfütterungsverbot für Tiermehl und -fett politische Handlungsfähigkeit bestenfalls andeuten kann, da BSE vielleicht auch auf anderen Wegen übertragen wird. Auch die BSE-Schnelltests sind bekanntlich nur eine Vortäuschung von Verbraucherschutz. Bisher kann niemand ausschließen, dass das Fleisch von jüngeren und anderen Tieren, in denen noch keine Prionen feststellbar sind, nicht auch schon infiziert und infizierend ist.

Hinzu kommt, dass alle angeblichen Schutzvorschriften wie BSE-befallene Rinderhirne von Ausnahmen durchlöchert sind. So kann das Separatorenfleisch von Schweinen weiterhin verwurstet werden, weil nur das Separatorenfleisch von Wiederkäuern verboten ist. Und auch Hirn, Rückenmark, Augen, Tonsillen und Darm von jüngeren Tieren dürfen ebenfalls weiter in die Wurst gesteckt werden, weil nur die Risikomaterialien älterer Tiere nicht mehr verwendet werden dürfen? Bisher ist es nur die Landwirtschaftsministerin von Nordrhein-Westfalen, Bärbel Höhn, die diese Stoffe vollständig verbieten möchte.

Es ist die objektive Unwissenheit,– dass die Prionen als Erreger durchaus noch umstritten sind,– dass sie – sei es als Erreger oder als Folgeerscheinung anderer Erreger, auf jeden Fall als Indikator – erst in hohen Konzentrationen messbar sind und– dass die Verbreitungswege von BSE vermutlich noch nicht vollständig aufgedeckt sind,die jede rein sachliche Reaktion unmöglich macht. Auch ein radikales Verbraucherverhalten – Fleisch, pfui Teufel! – kann daher gar nicht hysterisch sein. Eher muss man einräumen, dass sich die Konsumenten – gemessen an der tagtäglichen Vergiftung – viel zu wenig aufregen. Demgegenüber stehen die PolitikerInnen vor dem Dilemma, dass sie das BSE-Problem nicht – wenn überhaupt – kurzfristig lösen können, trotzdem aber Handlungskompetenz beweisen wollen. Hier setzt der Slogan von der Agrarwende an.

Agrarwende – wohin?

Der Kanzler will die Agrarfabriken abschaffen, und die Agrar- und Umweltstaatssekretäre Wille und Baake denken laut über zwanzig Prozent ökologischen Landbau nach. Hinzu kommen 18 Seiten mit "Eckpunkten", die die NRW-Umweltministerin, Bärbel Höhn, vorgelegt hat und die am meisten Substanz enthalten.

Dabei fordern alle Regierungsvertreter einmütig, antibiotische Futtermittelzusätze zu verbieten. Mit BSE hat das überhaupt nichts zu tun. Noch vor einem halben Jahr kam ein derart generelles Verbot für die Bundesregierung und die EU nicht infrage, weil "die wissenschaftlichen Prüfungen auf europäischer Ebene noch nicht abgeschlossen" waren. Die größten Leidtragenden wären nicht etwa die Bauern, die sich nur vorschicken lassen, sondern die Pharmakonzerne, die nach Recherchen von Mimkes weltweit die Hälfte ihrer Antibiotika und allein in der EU 10000 Tonnen jährlich den Bauern verkaufen. Sollte ein Verbotsantrag in der EU scheitern, trüge das dazu bei, den europaweiten gemeinsamen Agrarmarkt infrage zu stellen.

Darüber hinaus fordert etwa Umweltministerin Höhn, dass "die landwirtschaftliche Tierhaltung ... konsequent an die Fläche gebunden" wird. Tiere als "Mitgeschöpfe" müssten artgerecht gefüttert und gehalten werden. Und alles in allem "werden in Zukunft auch die Belange der Tiere, die in den letzten Jahrzehnten überwiegend als betriebswirtschaftlicher Produktionsfaktor angesehen wurden, eine übergeordnete Rolle spielen". Zur Umsetzung ihrer Überlegungen schlägt die Ministerin ein umfangreiches Maßnahmenbündel vor. Es reicht vom Futtermittelrecht über den Tierschutz, Baurecht und Immissionsschutz bis zur Umgestaltung der Agrarförderung und zur Änderung europäischer Rechtsvorschriften.

Auch diese Maßnahmen haben natürlich ihre Schwächen: So bedeutet die Änderung des Futtermittelrechtes nicht etwa die Abschaffung, sondern die Optimierung der Futtermittelindustrie. Sie wäre völlig überflüssig, wenn alle Landwirte das Futter für ihre Tiere selbst anbauen und nicht mehr Tiere halten würden, wie sie von ihren eigenen Flächen her ernähren können. Indirekt werden durch die Optimierung der Futtermittelwirtschaft gerade die Mastfabriken gesichert. Auch geänderte Verordnungen zur Haltung von Kälbern, Schweinen und Geflügel können bestehende Massentierhalter kaum erschüttern, solange sie ihren Bestandsschutz genießen. Demgegenüber würde eine zeitliche Verkürzung von Tiertransporten einige der übelsten Tierquälereien beenden.

Demokratische Defizite

Bisher ist die Agrarwende ein leerer Begriff. Zunächst einmal soll er darüber hinwegtäuschen, dass die Agrarpolitiker den Rinderwahn nicht aus der Welt schaffen können. Als Ersatz verspricht er, dass weit über das BSE-Problem hinaus alles verändert wird, was einen schon immer an der Agrarpolitik gestört hat. In diesem Sinne versucht auch Umweltministerin Höhn, im Windschatten des Wahnsinns ihre agrarpolitischen Vorstellungen durchzusetzen und eine entsprechende Wende einzuleiten. Das Problem dabei ist aber der vordemokratische und zentralistische Charakter der Agrarpolitik. So werden viele agrarpolitische Entscheidungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne parlamentarische Kontrolle getroffen: vor allem in den nicht-öffentlichen und vertraulichen Sitzungen des "PLANAK"-Ausschusses, dem Vertreter der Bundes- und Länderagrarministerien angehören, und in vergleichbaren europäischen Gremien. Es ist also noch nicht ausgemacht, ob die Agrarwende mehr ist als ein gelungener PR-Gag. Hat nicht schon Karl Marx gesagt, es komme nicht darauf an, die Welt zu verändern, man müsse sie nur neu interpretieren ?

 

 

Anmerkungen:

1 Auch das Fungizid Natamycin, das nicht nur in Arzneimitteln, sondern auch in der Rinde von konventionellem Käse enthalten ist, um sein Schimmeln zu verhindern, kann zu Resistenzen und sogar zu Kreuz-Resistenzen mit anderen Medikamenten wie Nystatin führen und dadurch beim Menschen die Heilung von Pilzinfektionen etwa der Haut oder der Verdauungsorgane erschweren.

 

Literatur

Antibiotikaresistenzen. Bericht einer interministeriellen Arbeitsgruppe unter Beteiligung des Bundesministeriums für Gesundheit und anderer, Juni 2000, www.bmgesundheit.de/themen/verbr/antibio

Freyberg, Freiherr Karl von (1919): Die Futtermittelwirtschaft im Kriege, Berlin

Grünewald, Klaus (1993): Das Tierkörperbeseitigungsrecht, Diss., Münster

Höhn, Bärbel, Ministerin für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen (2001): Eckpunkte für eine zukunftsweisende Landwirtschafts- und Verbraucherpolitik vom 9.1.2001

Landesregierung Nordrhein-Westfalen (2000): Verbraucherschutz und Lebensmittelüberwachung, Landtags-Drucksache 12/4684 vom 14.2.00, Düsseldorf

Mimkes, Philipp (2000): Antibiotika-Verbot in der Tierzucht, in: taz, 3.11.00

Priebe, Hermann (1985): Die subventionierte Unvernunft, Berlin

Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (1985): Umweltprobleme der Landwirtschaft, Bundestags-Drucksache 10/3613 vom 3.7.1985, Bonn

Schön, Wolfram (1997): Tierkörperbeseitigung nach BSE, in: Der kritische Agrarbericht 97, Kassel, S. 286-290

Steiner, Rudolf (1994): Über Gesundheit und Krankheit, Dornach, insb. S. 256 ff

Wehmer, R. (1893): Abdeckereiwesen, in: Weyl, Theodor (Hg.): Handbuch der Hygiene, 2. Bd. 2. Abt., Jena, S. 103-148

 

 

COPYRIGHT:

Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Februar 2001 (19. Jg., Heft 2/2001)