Ereignisse & Meinungen:

Bundesregierung: Und immer wieder ein Anfang

Nach O. Lafontaine, B. Hombach, F. Müntefering, R. Klimmt, M. Naumann sind mit Andrea Fischer und Karl-Heinz Funke am 9. Januar 2001 dem Kabinett Schröder/Fischer nunmehr nach etwas mehr als zwei Jahren insgesamt sieben MinisterInnen abhanden gekommen. Sind die Abgangsmotive von Schröders Verflossenen im jeweiligen Einzelfall auch noch so unterschiedlich, handelt es sich gleichwohl um eine Rücktrittswelle, die in so kurzer Zeit noch kein anderes Bundeskabinett erfasst hat. Ist sie auch ein Indiz für eine Verstätigung einer Regierungskrise oder eher ein Hinweis auf die Normalisierung einer entpolitisierten Politik?

"‚Jedem Anfang‘, so sagt der Dichter Hermann Hesse, ‚wohnt ein Zauber inne.‘ Der Bundeskanzler würde auf solchen Zauber gerne verzichten. Es gibt viel zu viele Anfänge in seinem Kabinett, so viele wie noch in keinem bundesdeutschen Kabinett in einem so kurzen Zeitraum. Und mit jedem Rücktritt und mit jedem Revirement werden die Fragen an Gerhard Schröder lauter: Wo bleibt die Führung, wo bleibt die Autorität? Wo bleiben Solidität, Kontinuität und Reife des rot-grünen Regierungshandelns? Wo bleiben Verlässlichkeit und Vertrauen in eine Politik, wenn deren Beständigkeit die Unbeständigkeit ist?

Der Kanzler spürt das Unbehagen – und sein Bekenntnis zur Fortsetzung der rot-grünen Koalition über das Jahr 2002 hinaus war der Versuch, Beständigkeit zu verheißen", urteilt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung (11.1.01).

Sein Kollege Christoph Schwennicke macht, ebenfalls in der SZ (10.1.01), im Verhalten des Regierungschefs durchaus ein System aus: "Es gibt auch weniger wohlmeinende Interpretationen für Schröders nur vordergründig schützendes Verhalten. Sein Herrschaftsinstrument ist die Distanz. ... Und diese vorbeugende ironische Distanz lässt ihm jederzeit die Möglichkeit, einen Schritt zur Seite zu machen, wenn es für ihn gefährlich würde. Die Schwäche der Seinen als Preis der eigenen Macht – auch das ist eine Erklärung für den Zustand des Kabinetts, wie er sich im Augenblick darstellt."

Dieses System Schröder hat im vergangenen Jahr durchaus aber auch zum Zwischenhoch der Regierung beigetragen. Gunter Hofmann notiert dazu in der ZEIT (11.1.01.): "Schröder hatte viele der großen Herausforderungen – von der Zukunft der Arbeitsgesellschaft bis zur neuen Rolle der Bundeswehr, von der Zwangsarbeiter-Entschädigung bis zur notwendigen Einwanderung – in Kommissionen außerhalb von Kabinett und Parlament verlagert. ... Den zweiten Schritt, ein neues Zusammenspiel zwischen dieser informellen Demokratie und ihren klassischen Institutionen, den hat er nicht geschafft ... Ausgerechnet die rot-grüne Koalition begann 1998 mit beinahe leeren Händen. Der neue Kanzler wollte so viel nicht anders machen als Helmut Kohl. Er wollte die Mitte besetzen, fallweise entscheiden. Schließlich wollte er moderieren, hauptsächlich im Sinne von Standortpolitik. ... Die Koalition hat ein vages Einverständnis darüber erzielt, den Staat allmählich aus vielen Bereichen zurückzuziehen."

Wenn bei diesem Rückzug allerdings elementarste Aufgaben der Politik wie die Sicherheit der BürgerInnen in den Mittelpunkt rücken, wie dies mit BSE der Fall ist, hilft das Konsensmodell der von demokratischem Pathos und autokratischen Manövern geleiteten, auf kurzfristige Zustimmungsquoten angelegten Ad-hoc-Entscheidungen nicht mehr weiter – im Gegenteil, die Regierung scheint in einer dramatischen Situation gefangen, die manchen Kommentatoren an das wahre Theater erinnert: "Im klassischen Drama gibt es die hilfreiche Einrichtung des Deus ex Machina. Am Kulminationspunkt der dramatischen Verwicklung, wenn keiner der Akteure mehr weiter weiß, wird mit Hilfe der Maschinerie des Theaterhimmels ein Gott herabgelassen und führt die ausweglos erscheinende Situation einem glücklichen Ende zu. Einen höheren Helfer aus der Kulisse mag sich die rot-grüne Schauspielerschar um Gerhard Schröder im Moment auch wünschen. Stattdessen aber machen er und sein Kabinett täglich neue Bekanntschaft mit einem Diabolus ex Machina – einem Teufel, der selbst dort Unheil stiftet, wo die Dinge bislang in geregelten Bahnen verliefen. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Regierungspolitik stellt sich daher nicht mehr nur an den Rändern, sondern nun auch im Kern des Kabinetts", meint der bereits zitierte Schwennicke.

Diese Glaubwürdigkeitskrise ist so neu nicht und darf auch für andere Bundesregierungen attestiert werden – und sie erfasst auch die Parteien selbst immer schneller. Günter Bannas schreibt im allgemeinen Mediengewitter zur Rücktrittswelle in der FAZ (17.1.01), dass seit 1999 mit Ausnahme von E. Stoiber alle Parteivorsitzenden gewechselt haben. Ein Phänomen, das sich parallel zu den Abgängen im Bundeskabinett vollzieht: "Die Geschwindigkeit dieses Personalaustausches ist in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands einmalig, und diese Besonderheit wird auch nicht dadurch gemindert, dass die Einzelfälle unterschiedlich gelagert sind. ... Zur Jahrhundertwende hat sich die Politik geändert, und die Parteien haben es auch. ... Mehr als früher sind  sie Zweckgemeinschaften zur Durchsetzung politischer und auch persönlicher Interessen. ... Die Debatten über neue Grundsatzprogramme, die in fast allen Parteien geführt werden, belegen, wie schwierig es diesen fällt, sich in den Grundwerten voneinander zu unterscheiden. ... Die Parteiführer sind damit in die Rolle von Vorstandsvorsitzenden geraten, deren Wohl und Wehe allein vom Umsatz – in der Politik: vom Wahlerfolg ... – abhängt."

Überraschend ist das allerdings nicht: In der Politik und insbesondere in den Parteien geht es seit jeher um die Generierung von Zustimmung; der Wahlerfolg ist der Maßstab nach dem Politik als sanktioniert gilt. Mit dem Zerfall der Öffentlichkeit und deren Sektorierung gibt es heute keine repräsentative Öffentlichkeit mehr, an die sich Politik im Allgemeinen wenden könnte. Der Ökonomie gilt das als ökonomische Rationalität des ausdifferenzierten Konsumenten, die Ad-hoc-Politik nach Quote hat mit dem Regierungswechsel 1998 ihren Aufschwung erfahren. In dem Maße, in dem Rot-Grün in der Mediokratie auf ein eigenes identifizierbares Programm verzichtet, schreitet die "Entpolitisierung der Politik und die Einführung betriebswirtschaftlichen Rechnungswesens in den politischen Raum" (Bannas) beschleunigt voran, "ihre Aufgaben als Integratoren der öffentlichen Debatten und der interessengeleiteten Auseinandersetzung", Grundlage der herausgehobenen Stellung der Parteien im System der Bundesrepublik, werden sie aber so nicht erfüllen können. (Ob Rot-Grün dabei gar einen neuen Politikertypus, den "Universal Soldier", hervorbringt, untersucht Eike Hennig in diesem Heft; siehe S. 24/25.)

Herbert Riehl-Heyse hat in seinem erhellenden Leitartikel (SZ 13.1.01) die Glaubwürdigkeitskrise untersucht: "Ganz gewiss ist Politik schwieriger geworden in einer Welt, die fast täglich Risiken produziert, von denen man – Stichwort Uran-Munition – noch vor kurzem nicht einmal den Namen gekannt hatte. Als Reaktion darauf haben sich ein paar Reflexe herausgebildet; und paradoxerweise sind es nun genau diese Reflexe, die das Vertrauen des Publikums noch heftiger erschüttern.

Da ist erst einmal der Beschwichtigungs-Reflex, der schon eine ehrwürdige Tradition hat. Das Muster ist immer das selbe, egal, ob ein Kernkraftwerk in der Ukraine explodiert oder eine schreckliche Tier-Krankheit in Großbritannien: Immer findet sich ein Innenminister, der einfach keine Angst empfinden kann, oder es treten ein paar Bauernminister auf, die uns erklären, dass und warum gewisse Infektionen an Landesgrenzen halt machen und dann umdrehen. Leider haben solche Lügen, ob fahrlässige oder vorsätzliche, extrem kurze Beinchen und kommen ins Stolpern, wenn im Gegenzug die zuvor eingelullte Bevölkerung hysterisch wird. ...

Der zweite Reflex besteht in dem Zwang, den Mund zu voll zu nehmen. Aus irgendeinem Grund fühlen sich Politiker ständig zu Versprechungen gezwungen, die kaum zu erfüllen sind. An diesem Irrtum, unter anderem, ist schon Helmut Kohl gescheitert, der mitten in seiner letzten Kanzlerschaft plötzlich behauptet hat, er werde die Zahl der Arbeitslosen halbieren. Sein Nachfolger ist in der Gefahr, ihm dieses sinnlose Aufplustern nachzumachen. ...

Bleibt drittens der beliebteste Reflex, zu dem der Politiker in Brüssel und London, in Berlin und in München nur einen Finger braucht: den Zeigefinger, der auf den Gegner weisen muss, welcher an allem schuld ist. ...

Was also sollen die Politiker tun? Ständig die Wahrheit sagen? Das wäre ein ziemlich naiver Appell. Es ist sogar, hat Erhard Eppler einmal geschrieben, die Politik für "die Wahrheit gar nicht zuständig" – insofern es in den meisten Fällen die eine Wahrheit nicht gibt. Politik, so heißt diese These, sei nicht dazu da, ewige Wahrheiten zu verkünden, sondern über unterschiedliche Teilwahrheiten, die viel mit unterschiedlichen Interessen zu tun haben, zu streiten und sie zu gewichten. Was dazu benötigt würde, wäre freilich Ehrlichkeit. Und das Vertrauen auf ein Wahlvolk, das es womöglich honorieren würde, nicht für dumm verkauft zu werden."

Jenes "Wahlvolk" aber müsste in der sektorierten Öffentlichkeit erst wieder rekonstruiert werden. Gleichwohl gibt es hierzulande noch immer etwas wie einen Grundkonsens über die zentralen Probleme und die wichtigsten politischen Aufgaben, der kollektive Thekenboykott in Sachen BSE gehört dazu und "die verdrängte Jobkrise" ohnehin. Peter Ziller lenkt in der FR (25.1.01) den Blick darauf: "Auf der politischen Bühne mangelt es derzeit nicht an überraschend hochschlagenden Themen. Leider gerät im Schlachtgetümmel der offizielle Spielplan aus dem Blick. Wochenlang lähmte ein verschleppter Tierseuchenskandal die rot-grüne Koalition. Nun arbeiten sich Opposition und Regierung an der Vergangenheit von zwei Ministern ab, die vor zweieinhalb Jahrzehnten ein politisches System bekämpften, das sie heute repräsentieren. Gewiss, dies ist Stoff von gehobenem Unterhaltungswert. Zur Lösung der drängenden Probleme der Gegenwart gibt er freilich nichts her. Alle reden von der Vergangenheit, keiner von der andauernden Massenarbeitslosigkeit. Das kann nicht gut gehen. Dabei hatte Gerhard Schröder den Beitrag der Koalition zum Abbau der Erwerbslosigkeit bei seinem Amtsantritt zur Messlatte für den Erfolg seiner Koalition auserkoren. ... Im Bündnis für Arbeit wollte Schröder mit Arbeitgebern und -nehmern einen Pakt gegen die Jobkrise schmieden. Spektakuläre Ergebnisse kann er freilich bislang nicht vorweisen."

Bislang konnte Schröder alle Rücktritte seiner Kabinettsmitglieder weitgehend unbeschadet überstehen, wie Meinungsforschungsinstitute belegen und die CDU/CSU-Opposition und ihre Verfasstheit tragen das ihrige zur Stabilisierung der Bundesregierung bei. Ob die Inszenierung einer entpolitisierten Politik aber auch beim Thema Massenarbeitslosigkeit dauerhaft trägt und fehlende Festlegung auf politische Konzepte und daraus abgeleitete Handlungsstrategien erübrigt, erscheint zumindest fragwürdig.

Redaktion: Michael Blum

 

COPYRIGHT:

Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Februar 2001 (19. Jg., Heft 2/2001)