Coolness als politischer Beruf

Die grün-rote Politikdarstellung

Eike Hennig

Die Bundesregierung praktiziert mit ihren jüngsten Personalentscheidungen eine postmoderne Berufspolitik, angelehnt an den "universal soldier", der mit den von Max Weber formulierten Ansprüchen von verantwortlicher "Politik als Beruf" nicht mehr viel zu tun hat. Ist die vermutete Wende der Berufspolitik letztlich ein Trauerspiel über die grün-rote Politikdarstellung?

Renate Künast (geb. 1955), "Bürgerin der freien Republik Wendland" (www.gruene.de/index2.htm), hat Sozialarbeit und Jura studiert. Neben Fritz Kuhn ist sie seit dem 24.6.00 Bundesvorsitzende der Grünen. Aus diesem Amt plädiert sie für einen kontrollierten Volksentscheid, gegen Rechtsextremismus und das "Diktat der Gen-Industrie." Vermutlich, Genaues weiß man nicht, schreibt letztgenannter Akzent Geschichte: Am 9.1.01 treten A. Fischer und K.-H. Funke wg. der schwammartigen Hirnkrankheit des Rindes, Bovine Spongiforme Enzephalopathie (BSE), als Gesundheits- beziehungsweise LandwirtschaftsministerIn zurück (Randnote: Die böse BSE stört im Rahmen der globalen, kapitalistischen Landwirtschaft die lange Zeit zur BSE-freien Zone erklärten BRD. BSE ist seit Mitte der Achtzigerjahre in Großbritannien bekannt, dort gibt es rund 180 Tausend Fälle. In Deutschland wird BSE zum mit Tschernobyl vergleichbaren Menetekel, als am 24. November und nahezu täglich ab Dezember 2000 BSE-Fälle in der BRD auftauchen.) Schon am 10.1. schlägt der führungsstarke Kanzler neue Ministerinnen vor. Am 12.1.2001 wird Künast zur Ministerin ernannt für das neu zugeschnittene Ministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. – Kurzfristig: Difficile est satiram non scribere! Mittel- und längerfristig ergibt sich ein Trauerspiel über die grün-rote Politikdarstellung.

Die erste Erzählung dient, zugegeben hämisch, dem Dampfablassen: (1.) "Setzen Sie sich, bitte, in die Zeit Anfang Dezember 2000 zurück. Haben Sie damals nur eine Sekunde bedacht, R. K. würde (a) überhaupt und (b) wenn dann für XY und Z Ministerin?" (Die Frage lässt sich ausweiten auf parlamentarische Staatssekretäre wie M. B. usw.) (2.) Die Frage wird auf einen Nahbereich mit augenfälliger Konsequenz projiziert: "Stellen Sie sich, bitte, vor, Sie wären Bäuerin oder Bauer und hätten, hart rechnend, einen Ökohof, keine Agrofabrik, zu bewirtschaften. Würden Sie R. K. und M. B. als Teilzeitkräfte flexibel auf Ihrem Hof einstellen?" – Die Überschrift dieses mokanten Vorspiels lautet: AZuMis, auszubildende Minister aller Länder vereinigt euch – im Bundeskabinett! Nach der Satire wird es trauriger, ernst, politisch eben. Heroisch, naturmetaphorisch heißt dies bei Weber: "Nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns, sondern ... eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte."

Nun wird gefragt, ob die grün-rote Bundesregierung Schröder/Fischer, quasi angelehnt an eine schlimme Abstraktion wie den "universal soldier", mit dem Typ schlecht-allgemeiner UniversalpolitikerInnen postmoderne Berufspolitik sans phrase praktiziert. Leidenschaft, edelste Absichtserklärungen, eine leer laufende Romantik und undistanzierte Eitelkeit gehen gegen Augenmaß und Sachlichkeit eine neue Verbindung ein. Zu fragen ist: Wie "unfachlich" soll ein Fachministerium gegenüber seiner Verwaltung politisch geleitet werden? Wie wenig fachlich, aber wissenschaftlich allgemein und nicht nur interessant sollte politische Kompetenz sein? Mit Sympathie für eine wissenschaftlich-methodische Form der Abstraktion werden Typen wie etwa der "Vertreter der Wahrheit", der "ergebnisfixierte Missionar" und der "kommunikativ-umfragenorientierte Generalist" verworfen. Die Orientierung am allgemeinen Medium Macht und nur an verfahrensorientierten Prozessregeln sollen, als "schlecht allgemein" gelten. Angesichts solcher Fakten wie der postmodernen Beliebigkeit von Werten und Akzeptanzgeboten, diversen Unbekannten in der "black box" und wissenschaftlich offenen Fragen prädestiniert die Paarung schlechter Allgemeinheit mit edlen Absichten zum eklektischen Themensprung und zur Dezision, wenn denn (immer überraschend zur Unzeit) ein Thema plötzlich "da" ist. Kosovo und BSE sind treffende Beispiele, um vom langen Übersehen "eigentlich" bekannter Probleme zum hektisch apokalyptischen Theater und schließlich zur Wahl von "Zauberworten" das Wirken schlechter Allgemeinheit zu illustrieren. Ambivalenz aushalten (Ambiguitätstoleranz laut "Autoritärer Persönlichkeit") ist die Schwachstelle. Schlechte allgemeine Politik bringt in Webers Worten das "Opfer des Intellekts", flüchtet vor Entzauberungen in die geöffneten Arme der Kirche als Wert- und Beschwörungsgemeinschaft. "Vorbeugender Verbraucherschutz ist das Zauberwort", erklärt R. K. in ihrer ersten BT-Rede – ein Mythos wird gegen unfassbare zukünftige Risiken beschworen. Schamanentum? Im weltweiten Netz liest man: "VerbraucherInnenpolitik soll nicht mehr von der Scholle, sondern von der Ladentheke her definiert werden" (www.gruene.de/index2.htm). Immer schon zog’s Dichter und Denker zur Theke.

Die Welt dürfte weder besser noch schlechter, die Politik weder leichter noch schwieriger geworden sein, aber Globalisierung mag in Zeit und Raum die Unübersichtlichkeiten, die Gleichzeitigkeit von Orientierungsbedarf und Orientierungsverlust potenzieren. Kohl hing stärker noch vorglobalen Mustern an, die Regierung Schröder/Fischer entspricht eher globalen Profilen. Die hier vermutete Wende der Berufspolitik findet daher unter Schröder/Fischer mehr Ausdruck und mehr DarstellerInnen etwa im Wechsel von A. Fischer zu R. Künast.

R. K.s schnellster Querdurchstieg aus der grünen Spitze, vorbei an grünen Agrar- und Umweltpolitikern der Länder (Höhn, NRW) und des Europaparlaments (Graefe zu Baringdorf), signalisiert eine Wende, vergleichbar der Ernennung des jetzigen Außenministers im Ressort Umwelt und Energie in Hessen (12.12.85). Auch J. F. hatte fachlich keine Qualifikation. Seine gern neben Tonnen mit dem Strahlenschutzpiktogramm gehaltenen Reden knüpfen an keinen vorherigen Schwerpunkt an. Wissen ist Ballast, analytisches Denken behindert machtpolitische Dezisionen: Grün ist die Umwelt, die Umwelt ist eine Sonnenblume, gemalt von Vorschulkindern. Gegenüber Macht und Symbolen, Koalitionspapieren, Kommunikation und – Ulrich Beck grüßt (1986) – einem umfassenden Risikobegriff, vorgetragen am Rand der Apokalypse im Geiste reflexiver Reflexivität ("ich denke, dass ..."), ist das spröde Kapital Sachverstand verzichtbar. So oder so sind Sachverständige und Gutachten käuflich, alimentiert die gute, eigene Klientel oder eben die gewissenlose "Scientology" etwa der Klone und Genmanipulateure. Dunkle Bilder und (neurotische) Ängste überwiegen gegenüber Teillösungen mit kleiner Effizienz und einem wissenschaftlichen Relativismus, wie er den Kreislauf empirisch-analytischer Forschungen von alten Theorien über Methoden, Forschungen, Interpretationen zu neuen Theorien und so fort ausmacht. Wenn Pragmatismus gepredigt wird (im Atomkonsens, jetzt in Sachen Kosovo etwa) dann werden aktionistisch Folgekosten/-probleme ausgeblendet und ein nationaler Alleingang propagiert (irgendjemand müsse irgendwo, irgendwie mal anfangen).

Seltsam, widersprüchlich: Das "Zeitalter der Ideologien" gilt als beendet, es gibt die "Wissensgesellschaft", "Datenautobahnen" realisieren global die "time-space-compression", die Grünen beziehen sich auf postmaterialistische, formal hoch gebildete Wählergruppen, avancieren in Universitäts- und Dienstleistungsstädten, die SPD verliert alte Milieubindungen, öffnet sich für Lehrer und Dienstleister et cetera: Solche Zeichen der "Verwissenschaftlichung" der Deutungsmuster, Organisationen und Handlungsweisen schlagen aber auch um in "wildes" (unmethodisches, nicht-analytisches) Denken, gemischt unter anderem aus anklagend-mahnender (Sozial-)Wissenschaft, Skepsis gegen Technik und Naturwissenschaft, Partikularismus (gegenüber Universalismus) und neuen, esoterischen und fundamentalistischen Verzauberungen der Welt. Aufklärung, der Aufstieg aus selbst verschuldeter Unmündigkeit, verkommt in neuen, durchaus wissenschaftsförmig dargestellten Angstbildern (etwa "Ozonloch", "Klimakatastrophe", "Genmanipulation"), findet gesinnungsethische Grenzen im postmodernen Pluralismus. In Szenarien zwischen postmodernen, je besonderen Beliebigkeiten einerseits und andererseits neokonservativer Interessen- und Wertpolitik bis zu fundamentalistischer Rigidität werden Wissenschaftlichkeit, Distanz und Offenheit zerschlissen, finden kaum Anwälte und öffentliche Räume, um als "public philosophy" zu wirken. Charakteristisch durchdringen sich zulasten von Wissenschaftlichkeit und analytischen Denkformen posttotalitäre Freiheitshymnen mit neoetatistischen Machtfantasien, postmoderne Anerkennungen mit Geboten der Korrektheit: "Wir geben der Modernisierung eine Richtung", versichern die Grünen (www.gruene.de) und betonen so die regulative Lenkung gegenüber offenen Entwicklungen. Schlechte Allgemeinheit wird als Ausdruck dieser Paradoxie verstanden. R. K.s Ernennung im Konsens mit der Bundesregierung, den Lenkungsorganen und der BT-Fraktion der Grünen spitzt dies – nach J. F.s erstem Amtsantritt 1985 – zu (dass parallel eine wissenschaftsferne Moralistin, C. Roth, "wahnsinnig gern" den Bundesvorsitz antreten will, rundet das dilemmatische Bild ab). Noch 1998 erklärt eine grüne Frankfurter Stadträtin (FR, 3.12.98, S. 20): "Frauen wagen sich erst vor, wenn sie eine Sache hundertprozentig beherrschen". R. K. zeigt, dass dieser Satz nurmehr politisch gilt. Politik wird zur "coolen" Geste der Verantwortung gegenüber dem so genannten rot-grünen Projekt und einer zur Maxime erstarrten Handlungsfähigkeit. Politik und Macht taumeln von Plan zu Plan, köcheln dutzendweise Reformen vor sich hin, kehren bloß Interessantes hervor. Macht obsiegt gegenüber Lernen: "Macht ... bedeutet die Möglichkeit, zu reden anstatt zuzuhören", klärt K. W. Deutsch auf und fährt fort: "Macht hat in gewissem Sinne derjenige, der es sich leisten kann, nichts lernen zu müssen." Diese Haltung führt zur schlechten Allgemeinheit, die den methodischen Umgang mit der Offenheit einer alles verwirbelnden Modernität abbricht. Marx und Weber gehen gleichermaßen von diesem Verlust an Sicherheit aus: Der eine flüchtet in die Konstruktion letztendlicher, an sich gültiger historischer Gesetze, der andere beschreibt die permanent voranschreitende Entzauberung und Ausdifferenzierung und fordert das Aushalten politischer Kontingenz. Schon beim ersten Blick auf moderne Politik stellt Machiavelli Politik(er) in ein Wechselbad von Glück (fortuna), Kraft beziehungsweise Können (virtù) und Struktur beziehungsweise Sachgesetzen (necessità). Modern ist die Sichtweise, es gibt keine Wunder, für sein Glück muss man viel tun, Politik im Umgang mit Gesetzmäßigkeiten verbessert sich, je "klüger" die "Häupter" sind, "je klarer sie natürliche Dinge durchschauen". Altbackene Maximen, die weiterhin bedenkenswert erscheinen. Für Max Weber macht die Beachtung von Folgekosten, so weit diese analytisch wahrscheinlich sind (hier setzt wissenschaftliche Beratung an), den Wert verantwortlicher Politik gegenüber der Gesinnungsethik aus.

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Februar 2001 (19. Jg., Heft 2/2001)