Der Preis der Zugehörigkeit

Anmerkungen zum Klein-Prozess in Frankfurt am Main – Teil 4

Eva Horn

Seit 17. Oktober 2000 wird vor dem Frankfurter Landgericht gegen Rudolf Schindler und Hans-Joachim Klein verhandelt. Sie sind wegen mehrfachen Mordes und schwerer Geiselnahme im Zusammenhang mit dem Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien am 21. Dezember 1975 angeklagt. Klein selbst wurde beim Schusswechsel mit der österreichischen Polizei schwer verletzt, nach kurzer Behandlung im Krankenhaus aber am nächsten Tag zusammen mit den als Geiseln genommenen Erdölministern und den anderen Entführern, darunter "Carlos" und Gabriele Kröcher-Tiedemann alias Nada, nach Algier ausgeflogen. Er sagte sich 1977 in diversen Artikeln und einem Buch vom Terrorismus los und lebte ab 1978 illegal in Frankreich. 1999 wurde er an die Bundesrepublik ausgeliefert. – Die vorangegangenen Berichte finden sich in den Kommune-Ausgaben 11/00, 12/00 und 1/01.

Es gehört zu den erfreulichen, manchmal auch schmerzhaften, letztendlich aber entwaffnenden Erkenntnissen im Leben, dass die eigene Glaubwürdigkeit nur beschränkt steuer- und einstudierbar ist, und dass man darüber, wie andere einen wahrnehmen, nur wenig Macht hat. Im Grunde laufen wir alle nackend durchs Leben, schutzlos den Wahrnehmungen anderer, ihren Erinnerungen an Wahrgenommenes und deren Interpretationen preisgegeben.

Und weil das so ist, sind Wahrnehmungen, ebenso wie Gefühle und Einstellungen (im Gegensatz zu Handlungen), nur beschränkt einklagbar. – Wobei das Verlangen, die "richtige" Wahrnehmung, das "richtige" Gefühl, die "richtige" Einstellung einzufordern oder zu erzwingen, in der Regel zum Gegenteil des Gewünschten und nur selten zum "Richtigen", führt.

Der Auftrieb von Presse und Publikum war am 22. Verhandlungstag des Klein-Prozesses gewaltig. Verglichen mit der aufgeladenen Atmosphäre zu Beginn des Solingen-Prozesses ging es in Frankfurt aber eher ruhig zu, wenn auch in großer Anspannung.

Wäre der Außenminister an jenem 16. Januar 2001 ein gewöhnlicher Zeuge namens Fischer gewesen, so hätte ihn der Vorsitzende vermutlich nach einer kurzen Begrüßung und Belehrung erst einmal wieder nach draußen geschickt, um mit dem Angeklagten die neuen Fragen durchzugehen, die mit den in der Presse veröffentlichten Fotografien aufgeworfen worden waren. Zwischen der Veröffentlichung dieser Bilder aus dem Jahre 1973 und dem 22. Verhandlungstag hatte es wegen der Weihnachtsunterbrechung keine Gelegenheit dazu gegeben.

Der Vorsitzende hätte Klein dann, wie das so üblich ist, gefragt, ob er die Fotos kennt, hätte sie ihm noch mal einzeln vorgelegt, hätte wissen wollen, ob er sich selbst darauf erkennt, ob er Fischer erkennt und die anderen abgebildeten Personen und ob er sich an die Situation erinnert, und wenn ja, ihn gebeten, die Sache in seinen eigenen Worten zu schildern.

Anschließend hätte er Fischer im Laufe seiner Vernehmung die gleichen Fragen gestellt, so dass es dann – sofern sich Klein erinnert und geäußert hätte – zwei Versionen der abgebildeten Szene gegeben hätte und die Schilderungen Fischers vor dem Hintergrund der Äußerungen Kleins zu sehen gewesen wären.

Das alles hätte der Vorsitzende getan, um dem Zweck der Vernehmung näher zu kommen, nämlich sich ein Bild von der damaligen Zeit zu machen und die Frage zu klären, wie Klein aus der Frankfurter Spontiszene in die Revolutionären Zellen geraten konnte und wie sich die damalige Bekanntschaft zwischen Klein und Fischer vorzustellen sei, wo heute der eine von "mein Freund Joschka" spricht, während der andere die Eindeutigkeit einer Definition vermeidet.

Bedauerlicherweise hat der Vorsitzende das alles aber nicht getan. Klein wurde nicht angehört, und so haftete der zeugenschaftlichen Vernehmung des Außenministers etwas ähnlich künstlich Isoliertes an wie schon der Vernehmung von Matthias Beltz: Die Aussagen wurden sozusagen ohne Klein gemacht, der "verschwand", so wie er schon 23 Jahre lang (in der Illegalität) verschwunden war.

Auch als Fischer im Laufe seiner Aussage von mehreren gemeinsam mit Klein durchgestandenen Situationen berichtete, wurde dieses Schema der Einseitigkeit nicht durchbrochen, Klein nicht einbezogen, auch im Nachhinein nicht, fast so, als sei seine eigene Sicht auf die von Fischer geschilderten Geschehnisse nichts wert, und das Einzige, was gilt, seien die Angaben des Zeugen. Recht bewegt und mit gut funktionierender Erinnerung erzählte Fischer von einer Demonstration, in deren Verlauf er zusammen mit Klein den später von einem Wasserwerfer überrollten Günther Sare, der bei einer heftigen Konfrontation mit der Polizei am Bein schwer verletzt worden war, in Sicherheit gebracht hatte.

Von der Bindekraft, die eine so erregende gemeinsame Erfahrung haben kann, auch aus Kleins Mund zu hören, hätte möglicherweise nicht nur Aufklärung über die ganz unterschiedlichen Konsequenzen für das Zusammengehörigkeitsgefühl der beiden an der Rettungsaktion Beteiligten gebracht, sondern vielleicht auch Stoff für eine Erklärung dafür abgegeben, warum Klein sich in der Folgezeit von den Revolutionären Zellen einfangen ließ.

Die Bindung, die terroristische Gruppen boten, war sozusagen bombensicher.

"Qualitativ hochwertig" nannte der Zeuge Schnepel den Umgang innerhalb der Revolutionären Zellen und beschrieb, wie man sich um Klein "kümmerte und ihn betreute". Und auch wenn das in diesem Stadium des Geschehens – nämlich als Klein bereits aussteigen wollte – für ihn, wie er sagt, mit Todesgefahr und -angst verbunden war, so war man doch ihm, als RZ-Mitglied (nicht unbedingt als Mensch), gegenüber auf keinen Fall gleichgültig. Man ging nach getaner Tat nicht auseinander und jeder musste schauen, wo er blieb, sondern war auch danach eingebunden, wenn auch in ein terroristisches System. – Aus Fischers Darstellung ließ sich herauslesen, dass er Klein eine solche "feste" Bindung nicht zu bieten hatte.

Beide, Zeuge wie Angeklagter, blieben also gewissermaßen erwiderungslos und unerlöst auf ihren Erinnerungen sitzen. Und so gab es auch keinen Übergang in die Lebendigkeit von gemeinsamen Erfahrungen, eine Lebendigkeit, die ja aus dem Austausch und der Konfrontation mit der jeweils anderen Sichtweise auf vergangene Ereignisse überhaupt erst entsteht.

Es bleibt der Eindruck, Zuschauer einer eher überflüssigen Inszenierung geworden zu sein, deren Handlung man bereits zuvor mehr oder weniger ausführlich im Stern hatte lesen können.

Eins allerdings bleibt, und das ist die Frage nach der Glaubwürdigkeit. An Klein verblüfft und überrascht, dass er selbst da glaubwürdig wirkt, wo er Vorgänge in einander widersprechenden Versionen darstellt. Er macht nicht den Eindruck, dass er lügt – obwohl das nicht auszuschließen ist –, sondern dass er, um der Unerträglichkeit seiner Situation und eines langen Knastaufenthaltes zu entrinnen, sich um Kopf und Kragen redet. So wenig einleuchtend seine Angaben im Detail oft sind, so überzeugen sie doch im Großen und Ganzen. Seine Zerfahrenheit, sein bisweilen großsprecherisches Bemühen, als Herr seiner Erinnerungen zu erscheinen, und sein trotziger Rückzug in die Untiefen seiner schwarzen wattierten Jacke lassen ihn auf verblüffende Weise authentisch erscheinen. Er macht etwas her, indem er nichts hermacht. Der Eindruck von Bescheidenheit kommt dabei aber nicht auf. Ihn anwaltlich zu vertreten, dürfte sicher kein Honigschlecken sein.

Über Fischer dagegen schwebt das Damoklesschwert des "Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden", und das Niedermachen bereitet ja, wie (außerhalb des Gerichtssaales) zu sehen ist, genauso viel Spaß wie das Sich-selbst-Erhöhen. Und weil das so ist, ist es im Augenblick schwer, über ihn und den Eindruck, den er hinterlässt, viel zu sagen.

Er repräsentiert mit seiner Person und in seiner Art sich zu äußern aber etwas, das bei Menschen, die aus der Linken kommen, häufig anzutreffen ist. Es ist ein Bruch, der zu einem Mangel an Überzeugungskraft führt. Dabei handelt es sich aber aus meiner Sicht nicht um einen Bruch mit den düsteren Ecken einer linken Vergangenheit, sondern um den, der vorher, mit dem eigenen Elternhaus, der eigenen Herkunft und der eigenen Zugehörigkeit, vollzogen wurde.

Es war ja ein Bruch, ein Wechsel von der "Ordentlichkeit" in eine geradezu stilisierte Unordnung. Das Problem war und ist es zum Teil auch noch, dass es nicht gelang, das Geordnete und Ordentliche in den Bedingungen des eigenen Heranwachsens vom Undurchsichtigen und Misstrauenswürdigen zu trennen, sondern das im Rahmen einer Generalabrechnung das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde.

"Ordentliche" Herkünfte waren ab den späten Frankfurter Sechzigern eher peinlich. "Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren" wurde auch persönlich genommen und der Muff der eigenen Herkunft für ebenso abschaffbar gehalten. Da das aber nicht geht, man sich aber lange der Illusion hingab, es ginge doch, führten die eigene Herkunft und die dort erlernten Verhaltensweisen eine Art Untergrundexistenz, immer auf der Lauer, endlich in Erscheinung zu treten.

Sobald man dann das Alter erreicht hat, in dem die eigenen Eltern damals waren und man sich ähnlich positioniert hat, taucht (meist unausgesprochen) die Frage auf, nach welchem Persönlichkeitsmodell man sich denn nun verhält. Und an dieser Stelle kann es passieren, dass sich das alte und einst abgeschobene Modell durch die Hintertüre einschleicht und seine Wirkung entfaltet. Zum bisher Gelebten will es aber nicht so recht passen.

Aus diesem nicht offen gelegten Konflikt – der im Übrigen nicht nur einer der alten Linken, sondern in der mittleren Generation weit verbreitet ist – entsteht dann die Glaubwürdigkeitslücke, mit der wir es schon seit geraumer Zeit zu tun haben.

Kleins so verblüffende Glaubwürdigkeit mag auch daran liegen, dass er diese Sorte von Problem nicht hat. Er musste seine Prägung von Anfang an weitgehend selbst in die Hand nehmen.

Es bleibt zu hoffen, dass das Gericht diese Kraftanstrengung würdigt. Der Vorsitzende hält das Verfahren für entscheidungsreif, und vorausgesetzt, die an den letzten Tagen gestellten Anträge werden abgelehnt, kann mit den Plädoyers begonnen werden.

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Februar 2001 (19. Jg., Heft 2/2001)