Wider die Trennung von Amt und Mandat

Plädoyer für eine überfällige Modernisierung der bündnisgrünen Parteiorganisation

Uwe Kranenpohl

Auch Relikte der Basisdemokratie hält unser Autor dafür verantwortlich, dass es der grünen Partei an Schlagkraft mangelt. Zu diesen Relikten zählt er auch die Trennung von Amt und Mandat. Ihre Aufhebung hätte positive personalpolitische Folgen, denn sie würde der Bündelung von Kräften dienen, die die Partei – jetzt erst recht – benötigt.

Obwohl sich nach dem 11. September angeblich alles verändert haben soll, eines ist gleich geblieben – und in den Diskussionen um die Afghanistanpolitik deutlich zu Tage getreten: Der Partei Bündnis 90/Die Grünen ist es immer noch nicht gelungen, ihren internen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess so zu gestalten, dass er dem einer Regierungspartei angemessen wäre. Wobei gleich darauf hinzuweisen ist, dass dieses Problem durch die grüne Regierungsbeteiligung nicht verursacht, sondern lediglich verschärft wurde.

Die Erschütterungen, die die Partei im Gefolge der amerikanischen Angriffe erfassten, sind nämlich nicht allein einer dezidiert "kritischen Solidarität" mit den USA, prinzipiell pazifistischen Vorbehalten gegen Militäreinsätze oder Bedenken gegenüber der Sinnhaftigkeit der außenpolitischen Strategie der Bush-Administration geschuldet. Parteiratssitzungen und Landesparteitage sind für die Bündnisgrünen deshalb kritische Ereignisse, weil die Ergebnisse solcher Treffen auch für die Parteiakteure schwer einzuschätzen sind. Dies ist einerseits auf einen grünen "Nonkonformismus" zurückzuführen, der Entscheidungsprozesse weniger berechenbar macht als in anderen Parteien, andererseits aber auch Folge immer noch bestehender organisatorischer Defizite. Joachim Raschke illustriert dieses Problem treffend als Fehlen eines "strategischen Zentrums" der Partei.(1) Doch warum lässt sich ein solches Zentrum nicht errichten? Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Antwort kommt den organisatorischen Konsequenzen der grünen "Parteikultur" zu.

Relikte der Basisdemokratie

Unter Parteikultur ist in Anlehnung an die L-Funktion aus Talcott Parsons‘ AGIL-Schema eine die eigene Existenz absichernde Struktur zu verstehen(2): Eine Partei muss sich bemühen, ihr Bestehen auch für Krisenzeiten sicherzustellen. Dazu entwickeln die Parteimitglieder übereinstimmende Muster von Sinndeutungen, Wertvorstellungen und Normen, die nur mittel- oder langfristig veränderbar sind und eine gemeinsame affektive Basis bilden, sodass die Partei ihren Mitgliedern eine politische Heimat bieten kann.(3)

Das Problem von Bündnis 90/Die Grünen ist – holzschnittartig formuliert – das immer noch "unkonventionelle" Selbstverständnis der Partei, das heißt, es dominiert die Einstellung, "anders" als die etablierten Parteien sein zu wollen. Dieses "Anderssein" macht sich nach den tief greifenden programmatischen Neuorientierungen heute aber vor allem an den letzten Organisationsrelikten der basisdemokratischen Frühphase fest. Insofern kristallisiert sich die vielfach kritisierte grüne "Misstrauenskultur" nicht notwendigerweise als Skepsis gegenüber den aktuellen FunktionsträgerInnen: Der grüne "Kulturkampf" ist einfach so strukturiert, dass er an den grünen Eliten manifest wird.

Welche Reste basisdemokratischer Parteiorganisation bestehen heute noch bei den Grünen?(4) Es sind vor allem die kollegiale Besetzung von Führungspositionen (heute meist in der Form der "Doppelspitze"), die Trennung von (Partei-)Amt und (Parlaments-)Mandat – zumindest in den führenden Parteifunktionen – sowie die Geschlechterquotierung. Während die Quotierung als gelungener Versuch der organisatorischen Verankerung der Gleichberechtigung anzusehen ist – was sich auch daran zeigt, dass sie von anderen Parteien (in freilich entschärfter Form) übernommen worden ist –, beschworen die anderen beiden Regelungen schnell strukturelle Probleme hervor: Zunächst führte die Trennung von Amt und Mandat zur institutionellen Umformung des innerparteilichen Flügelkampfes in Konflikte zwischen den Institutionen Bundesvorstand und Fraktion. Nachdem man Anfang der Neunzigerjahre von der Drei-SprecherInnen-Lösung abgegangen war, stabilisierte die eigentlich als sinnvolle Innovation anzusehende Doppelspitze diese Flügelstruktur, die inzwischen innerparteilich deutlich an Brisanz verloren hatte. So sind auch heute noch die SprecherInnen jeweils einem der beiden Flügel zuzuordnen (was ein wenig an die rot-schwarze "Reichsteilung" der österreichischen Proporzdemokratie erinnert). Damit fehlt den Bündnisgrünen aber eine Institution, die über den Strömungen steht – ein "integratives Zentrum". Der Blick auf andere Parteien lehrt, dass sich ein Parteichef tunlichst von den ihn stützenden Flügeln und Faktionen distanzieren und in der neuen Funktion integrativ wirken sollte. Eben dieser Effekt wird bei den Bündnisgrünen aber durch die Doppelspitze verhindert, da sich die beiden Vorsitzenden jeweils auch als RepräsentantInnen ihrer Flügel verstehen müssen, um ihre Legitimation nicht zu verlieren.

Verschärft wird dieses Problem durch die erwähnte Trennung von Amt und Mandat. So agierte die Führungspaarung Künast/Kuhn trotz der beschriebenen Probleme sehr erfolgreich als überraschend gut funktionierendes Zentrum. Als Parteichefin konnte Renate Künast aber nach dem Wechsel in das Verbraucherministerium, dessen Errichtung als grüner Erfolg zu bewerten ist, nicht weiteramtieren. Die Trennung führt in Verbindung mit der Frauen- und der Strömungsquote aber in eine Situation, bei der sich die Partei zunächst die Frage stellen muss, wer denn überhaupt formal auf die Stelle "passt". Die Frage, ob diese Person über das erforderliche Ansehen in der Gesamtpartei verfügt, wird da zwangsläufig nachrangig. Ob die neue Paarung so erfolgreich wie Künast und Kuhn zusammenarbeiten kann, darf dann fast keine Rolle mehr spielen.

Warum die Aufhebung der Trennung von Amt und Mandat sinnvoll ist …

Die Trennung von Amt und Mandat hat neben einer solchen Verkürzung der grünen Personaldecke auch zur Folge, dass mögliche Vorteile einer Ämterkumulation nicht eintreten. Denn eine solche "Positionsverflechtung" (wie sie Dietrich Herzog treffend bezeichnet hat)(5) ist generell geeignet, die vielfältigen horizontalen und vertikalen Differenzierungen innerhalb einer Partei "zusammenzubinden".

Sie ermöglicht zunächst Ressourcenbündelung: Das beständige Klagen des grünen Bundesvorstands über die mangelnde personelle und finanzielle Ausstattung sowie stetige Fluchtversuche der Parteivorsitzenden in die Fraktion bestätigen diese Defizite.(6) Zweitens verstärken sich die Kommunikationsflüsse zwischen den unterschiedlichen politischen Arenen, wenn sie gleichsam in Personen gebündelt werden, die über Informationen aus Fraktion, Bundes- und Landespartei sowie Basis verfügen. Ist ihnen doch bewusst, was jeweils wo besprochen wird und wie jeweils die politische Stimmung, aber auch die Mehrheiten einzuschätzen sind. Dass solche Kommunikationsflüsse unerlässlich sind, zeigen die vielfältigen organisatorischen Notbehelfe der Bündnisgrünen: Bis 1998 agierte der berüchtigte "Wohlfahrtsausschuss", in dem Fraktionsführung und Bundesvorstand vor einer Fraktionssitzung die politische Linie abklärten, damit die Parteiführung nicht "offiziell" gegen Fraktionsbeschlüsse einschreiten müsste. Auch heute fungiert der grüne "Koalitionsausschuss" aus MinisterInnen, Partei- und Fraktionsführung nicht etwa als Vorbereitungsorgan für Koalitionsverhandlungen, sondern primär als Koordinationsgremium für intragrüne Entscheidungsprozesse. Schließlich ist es die idée directrice des Parteirates, durch partielle Zulassung von Positionsverflechtungen die innerparteilichen Willensbildungsprozesse zu strukturieren und die verschiedenen Ebenen der Partei kommunikativ zu verbinden.

Es ist gegen ein weit verbreitetes Vorurteil deutlich zu machen, dass funktionierende Kollegialorgane auch – oder sogar: gerade – auf Ämterkumulation beruhen können. Man sollte nicht den Fehler begehen, das "System Kohl" als Normalfall anzunehmen, auch wenn es gerade im innerparteilichen Disput von Bündnis 90/Die Grünen immer wieder als Konsequenz einer Aufhebung der Trennung von Amt und Mandat angeführt wird. Denn gerade die Vervielfachung der Interaktionsebenen steigert das Droh- und Sanktionspotenzial der einzelnen Akteure, dauerhafte Kooperation kann die Intensität der Kontrolle damit sogar steigern. Vor allem führt die Positionsverflechtung aber zu einem geschmeidigeren Politikprozess, weil Reibungsverluste seltener auftreten und in ihrem Ausmaß meist beherrschbar bleiben, gesellschaftliche und innerparteiliche Probleme leichter antizipiert werden können und so die politischen Handlungsmöglichkeiten der Partei insgesamt zunehmen.

Das würde aber dreierlei bedeuten: Die Bündnisgrünen könnten mit größerem Wissen über die Position der eigenen Partei – vor allem, was ihr noch zuzumuten ist – in Koalitionsverhandlungen gehen, durch optimierte Kommunikationsflüsse schneller auf Herausforderungen (auch aus Reihen der Sozialdemokraten) reagieren und ihr Erscheinungsbild geschlossener gestalten. Alle drei Entwicklungen würden die Attraktivität von Bündnis 90/Die Grünen bei den WählerInnen erhöhen und damit den Einfluss der Partei auch in Zukunft sichern.

Viele Probleme der Bündnisgrünen wurzeln also in einer verhängnisvollen Verkettung der drei verbliebenen basisdemokratischen Organisationsprinzipien der Partei. Am tiefgreifendsten wirkt dabei die Trennung von Amt und Mandat, die nicht nur aus funktionalen Gründen aufgehoben werden sollte. Die grüne Idee, Partei- und Parlamentsfunktionen personell zu trennen, ist international gesehen ziemlich einzigartig.(7) Dies zeigte sich beim letzten Deutschlandbesuch des UN-Generalsekretärs Kofin Annan. Als er erfuhr, dass die ihm aus der Menschenrechtspolitik bekannte, neu gewählte grüne Parteivorsitzende Claudia Roth den außenpolitisch nicht einflusslosen Vorsitz des entsprechenden Bundestagsausschusses abgeben musste, zeigte er sich deutlich irritiert.(8)

… und warum die Reform (wohl) nicht erfolgen wird!

Wird diese Reformperspektive aber grüne Realität werden? Hier ist angesichts des grünen Dilemmas Skepsis angebracht: Die Lösung des funktionalen Problems (nämlich die Aufhebung der Trennung von Amt und Mandat) würde bestehende Spannungen in der Parteikultur wohl nur verstärken. Könnte die Partei nach dem Pazifismus und dem radikalen Anti-Atom-Kampf nun auch noch die – lediglich symbolischen – Reste der Basisdemokratie verabschieden? Die Ereignisse in Hamburg geben Anlass zu einiger Hoffnung, aber das Beispiel zeigt auch, dass für solche Reformen offensichtlich sehr großer "Leidensdruck" erforderlich ist. Immerhin ist nachvollziehbar, dass viele Parteiakteure die Befürchtung hegen, die Partei würde einen solchen Konflikt nicht überleben. Allein, die parteiorganisatorischen Mängel sind für das langfristige Überleben der Partei offensichtlich nicht minder gefährlich. Für die Bündnisgrünen – das zeigen die aktuellen Umfragewerte an – sind beide Entwicklungen gefährlich. Trotz der PDS-Konkurrenz könnte die Partei personellen Substanzverlust wohl wie Anfang der Neunzigerjahre durch eine Reorganisation aus den Ländern ausgleichen. Schlimmer wäre die Verstetigung der grünen Funktionsprobleme verbunden mit zunehmender Unfähigkeit zur Politikimplementation.

 

1

Vgl. zuletzt: Raschke, Joachim, Die Zukunft der Grünen. So kann man nicht regieren, Frankfurt am Main 2001.

2

Vgl. Parsons, Talcott, Zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1976, S. 172-174.

3

Vgl. dazu auch: Kranenpohl, Uwe, Mächtig oder machtlos? Kleine Fraktionen im deutschen Bundestag, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 23 f.

4

Vgl. Heinrich, Gudrun, "Basisdemokratie", in: Raschke, Jürgen, Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993.

5

Vgl. Herzog, Dietrich, "Die Führungsgremien der Parteien: Funktionswandel und Strukturentwicklungen", in: Gabriel, Oscar W./Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Opladen 1997, S. 301-322, hier: S. 311.

6

Vgl. zuletzt: Fried, Nico, "Streben ins Hohe Haus", in: SZ, 13./14.10.01.

7

Nachgebildet ist sie selbstverständlich der Inkompatibilität von Regierungsamt und Parlamentsmandat, die aber nur in einem präsidialen Regierungssystem wie den USA ihren Sinn hat.

8

Vgl. Fried, Nico, "Steuerfrau mit ungebremstem Redefluss", in: SZ, 10.8.01.