Günter Barudio

 

»Gott mit uns«

 

Gedanken zum »gerechten Krieg«

Man erinnere sich: Die Frage des »gerechten Krieges« wurde im vergangenen Frühjahr im Manifest der 60 US-Intellektuellen »Wofür wir kämpfen« aufgeworfen. Die Reaktionen waren gering, obwohl Bush längst von einem »lang andauernden Krieg« gesprochen und Prävention erwogen hatte, den Irak klar vor Augen. Unser Autor setzt sich nun auf verschiedenen Ebenen mit diesem Problem auseinander. Er erwägt völkerrechtliche Argumente, die er aus dem historischen Kontext erläutert, ebenso wie allgemein-ethische Motive der Politik (was ist überhaupt das Gerechte?), setzt sich mit dem Begriff des Krieges auseinander und denkt über »Einreden« gegen eine Prävention nach.

 

Es gibt Wörter, die vielen Menschen buchstäblich die Sprache verschlagen. Dazu gehört bei den Deutschen der Begriff vom »Krieg«. In diesen sind deutsche Soldaten 1870, 1914 und 1939 unter der Losung »Gott mit uns« gezogen. Ob jeder von ihnen damals wusste, dass es der Schlachtruf der Schwedenarmee bei Breitenfeld war, im September des Jahres 1631? Zu jener Zeit kämpfte dieses Heer unter König Gustav Adolf im alten Europa für die Bewahrung der »Teutschen Freiheit«, und sein Kanzler Oxenstierna unternahm politisch alles, um eine »absolute Diktatur« Habsburgs im »Heiligen Römischen Reich Teutscher Nation« zu verhindern. Schweden verhielt sich dabei seit der Invasion von 1630 ohne jeden Zweifel präventiv und in hohem Maße konstruktiv – auf einen »Gerechten Frieden« als Teil der Reichsverfassung ausgerichtet.

Zweifel stellen sich aber ein, wenn heute die Kriegsrhetorik aus den USA eingeschätzt werden soll. In einem Land, dessen Harvard University seit 1634 besteht und deren Law School noch etwas vom vertraglich angelegten Naturrecht weiß. Dies Zwiespältige äußert sich auch im jetzigen Präsidenten George W. Bush. Er ist entschlossen, dem eigenen Fundamentalismus Taten folgen zu lassen, das heißt einen »Krieg gegen das Böse« zu führen. Und dazu gehört wohl auch, das von seinem Vater 1991 abgebrochene Werk zu vollenden, nämlich im Irak eine Abrüstung von möglichen ABC-Waffen zu erzwingen und das Ende des Diktators Saddam Hussein mittels Militäraktionen zu betreiben – als Modellfall für den Sturz anderer Diktaturen.

Eine vorläufige Absicherung dieses riskanten Vorhabens haben nun einige Juristen des US-Kongresses geliefert. Ihrer Expertise gemäß besitzt der Präsident für Militärschläge selbst im Sinne einer präventiven Intervention gegen Saddam Hussein genügend Vollmachten. Er brauche demnach auf Grund des »War Power Act« nicht einmal den Kongress zu fragen. Kann außerdem glaubhaft gemacht werden, dass der Diktator in Bagdad die Sicherheit der USA gefährdet, dann bedürfe das Eingreifen zur Beseitigung Saddams und seiner »Republik des Schreckens« auch keines Mandats der UNO. Hinweise auf eine ABC-Bedrohung Israels, als dessen unmittelbare Schutzmacht sich die USA verstehen, könnten hier schon als Rechtsgrund ausreichen: Unterstützt doch der »Schurkenstaat« Irak die Intifada radikaler Palästinensergruppen in Israel mit Geld und aufstachelnden Worten – die »Befreiung« des Felsendoms in Jerusalem vor Augen.

Kritik und Krieg

Gegen dieses Szenario eines nationalen Alleingangs aber werden in letzter Zeit gewichtige Einwände erhoben. Gore Vidal, Brent Scowcroft, Henry Kissinger, Edward Kennedy oder auch Susan Sontag verstärken den Chor der Kritiker. Einige von ihnen machen sich darüber besorgt Gedanken, dass es sich bei dem Irak-Abenteuer Bushs letztlich nur um einen persönlichen Rachefeldzug des US-Präsidenten handeln könnte. Gar um einen Missbrauch seiner Entscheidungskompetenz als höchster Befehlshaber, ja auch um den Beginn einer dezisionistischen Diktatur, die am Kongress vorbei mit Dekreten arbeitet wie jüngst bei der Errichtung des »Amtes für Globale Kommunikation« – jedoch nicht um einen »Gerechten Krieg« gegen den Terrorismus.

Diese Gewissensfrage bewegt auch andere amerikanische Intellektuelle um den Harvard-Publizisten und ehemaligen Regierungsberater Francis Fukuyama (Das Ende der Geschichte). Sie haben deshalb den Kontakt zu deutschen Gelehrten um den Tübinger Rhetoriker und Pazifisten Walter Jens gesucht. Doch von diesen erhielten sie nur ausweichende Antworten und haben nachgehakt: »Abgesehen davon, dass Sie die Tradition des ›gerechten Krieges‹ als einen ›unglückseligen historischen Begriff‹ bezeichnen, entfalten Sie an keiner Stelle eine schlüssige moralische Position zur Frage des gerechtfertigten Waffengebrauchs.«

Mit diesem Hinweis haben die US-Gelehrten gleich zwei wunde Punkte auf deutscher Seite freigelegt. Ihre akademischen Adressaten wollen nämlich weder etwas von den rationalen Bedingungen der Gerechtigkeit wissen noch haben sie sich jemals ernsthafte Gedanken Über das Recht des Krieges und des Friedens gemacht. Die Ethik eines treuhänderisch angelegten Völkerrechts, die Hugo Grotius bereits 1625 (De iure belli ac pacis) der Politik empfohlen und in mehreren Friedensschlüssen praktisch umgesetzt hat, ist ihnen als Historisten und Positivisten ganz fremd: Darunter auch das Vertragswesen des Teutschen Friedens von 1648, der das Interventionsgebot festgeschrieben hat.

 

Das Gerechte? Mehr als das Gerächte!

Nach Maßgabe des klassischen Völkerrechts, wie es vor allem die Rechtsschule von Salamanca, Grotius, Oxenstierna, Saavedra-Lamas und andere nach antiken Mustern (Cicero, Stoa, Augustinus) gestaltet haben, darf der Krieg nur dann als letztes Rechtsmittel (ultima ratio) eingesetzt werden, wenn in einem Konflikt alle friedlichen Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind oder Gefahr im Verzug (periculum in mora) besteht. Soll der Krieg als »gerecht« gelten, dann hat sein Zweck darin zu bestehen, eine gebrochene Rechtslage wieder herzustellen: Ein »gerechter Frieden« muss nach allen Militäraktionen im Rückgriff auf die Geschichte und auf zeitlos gültige Normen ausgehandelt, darf jedoch nicht durch die militärischen Sieger diktiert werden – auf ewige Zeit bezogen und international garantiert.

Zu diesen Normen aber gehört das Gegenseitigkeitsprinzip der Goldenen Regel (obligatio mutua). Dann die Treuhandschaft als Verpflichtung auf das Gemeinwohl (Treu Herr – Treu Knecht) sowie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Dieses findet sich im Buch V der Nikomachischen Ethik des Aristoteles definiert: »Das Gerechte ist ein Proportionales.« Hier zeigt sich das Kommutationsgebot (ohne Ansehen der Person) in seiner rational-mathematischen Anwendung der Gleichheitsforderung. Sie wurde auch im Universalfrieden von 1648 genutzt: Ohne Ansehen der Konfession durften fortan Katholiken, Lutheraner und Calvinisten ihre Fundamentalrechte als politische Stände im Rahmen der Reichsverfassung wahrnehmen. Ein Verfahren, das es auch ermöglichen würde, Israelis und Palästinenser in einem demokratischen Staat zusammenleben zu lassen; nicht anders als im Irak, wo sich Kurden, Schiiten (60 % der 23 Millionen Gesamtbevölkerung) und die arabischen Stämme kommutativ einigen könnten: Vorausgesetzt, man lernt anhand der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, dass alle Politik im Dienst des Menschen und damit der Gerechtigkeit zu stehen hat, ist sie doch das »höchste Gut der Menschheit« (Thrasymachos).

Statt sich dieser antiken und alteuropäischen Friedenskunst verpflichtet zu fühlen, halten sich vornehmlich deutsche Juristen und Politiker an die von Bismarck inspirierte Zauberformel von der »normativen Kraft des Faktischen« (Georg Jellinek). Deshalb verstehen sie auch nicht die Naturrechtsposition amerikanischer Kollegen, wie Charles A. Beard, die von einer faktischen Kraft der Norm ausgehen und noch mit dem Aristoteliker Kant wissen, dass »das Recht nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepasst werden muss«.

Gerade unter den Bedingungen eines möglichen »Overkill« (mehrfache Zerstörung des Planeten durch Atombomben) muss also das Gerechte mehr sein als das Gerächte. Es hat dabei auf eine durchgehende Menschlichkeit Rücksicht zu nehmen, um die Kollateralschäden äußerst gering zu halten. Wird demnach beim fundamentalen Recht zum Krieg, das lediglich ein souveräner Rechtsstaat hat, vor allem das Prinzip der Verhältnismäßigkeit nicht beachtet, dann bleibt nur die mechanische Reaktion im Sinne von Rache und Vergeltung. Die plumpe Rechtfertigung dieses Verhaltens geht aber auf den oft missverstandenen Satz des Alten Testamentes wie des Korans zurück: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.«

Wer sich also wundert, warum die Regierung Sharon in Israel auf Terroranschläge von radikalen Palästinensern als Privatleuten oft »unverhältnismäßig« reagiert oder Vermittlungen der USA scheitern, der hat hier eine Erklärung. Juden und Muslime schlagen das aristotelisch-christlich vermittelte Gebot des Proportionalismus aus, pflegen ebenso wenig die Kunst des Kompromisses nach Maßgabe der goldenen Regel als innere Friedensarbeit und haben deshalb auch damit Probleme, auf Dauer in Verträgen verträglich zu sein.

Im Sinne des Aristoteles bedeutet die Aneignung und Umsetzung dieser Grundbindungen gerechter Politik eine »Kunst des Gleichen und Guten«. Sie kann aber nur dann gedeihen, wenn eine konsequente »Erziehung zur Verfassung« geleistet wird. All das aber gab es bisher in den Krisengebieten des Balkans, des Kaukasus, in der Golfregion, in Afghanistan oder in Somalia so gut wie nicht. Stattdessen herrschen dort immer noch Blutrache als Vergeltungsdenken, Sippenhaft statt Einzelfallprüfung und Vetternwirtschaft als familiäres Beziehungsgeflecht vor, Schmuggel statt »lauterer Wettbewerb« und damit Steuerhinterziehung kommen dazu. Abseits all jener griechisch-römischen oder »westlichen Werte«, aus denen der Rechtsstaat und die parlamentarische Demokratie hervorgegangen sind. Deren aktuelle Gefährdungen und stufenartiger Abbau aber haben gerade in den USA schon zu der heftigen Klage geführt: »Liberty dies by inches.«

 

Der »Kleine Krieg«

Militärs und Intellektuelle auf beiden Seiten des Atlantiks haben seit 1945 erhebliche Probleme, innere Verschiebungen im Kriegsbegriff zu vermitteln und sich dabei an die Bedingungen des klassischen Völkerrechts zu halten. Dazu gehört sowohl der Abwurf von Atombomben auf die japanische Zivilbevölkerung durch die Militärführung der USA als auch das Phänomen des »Kleinen Krieges« in Gestalt von so genannten Befreiungskriegen. Darunter versteht man seit der frühen Neuzeit das Agieren von Schlägertrupps, Räuberbanden (Haiducken), Terrorgruppen, Partisanen oder Freischärlern. Sie begingen im Vorfeld oder auch im Rückraum einer regulären Armee allerlei Untaten, wurden aber nicht dem Völkerrecht subsumiert: Denn sie gehörten keinem souveränen Rechtsstaat an und konnten deshalb auch nicht den Kombattantenstatus beanspruchen, das heißt den Rechtsschutz für Leib und Leben im Fall der Gefangennahme.

So gilt zwar in den Medien und im allgemeinen Sprachgebrauch das militärische Eingreifen der USA in Indochina zwischen 1964 und 1974 als »Vietnam-Krieg«. Aber in offiziellen Stellungnahmen war jede Präsidentschaft von Johnson bis Nixon sehr darum bemüht, von einem »Conflict« und nicht von einem »Krieg« (War) zu sprechen. Denn zur steigenden Intervention gegen den Vietcong gab es keine Kriegserklärung, an der sich der Präsident und der Kongress nach Maßgabe ihrer Verfassungskompetenz beteiligt hätten: Tatsächlich wurde das Desaster in Südostasien von Washington aus als eine Art Polizeiaktion geführt und mit schleichender Inflation finanziert – dem Petrodollar zu großem Schaden, bis die Ölpreiserhöhung von 1973 für einen Inflationsausgleich gesorgt hat.

Welche praktischen Rückwirkungen sich aus dieser Sprachregelung ergeben haben, kann jeder Vietnamveteran bezeugen. Er bekommt bis heute nicht die gleichen öffentlichen Vergünstigungen wie Veteranen aus dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg, die als reguläre Kriege eingestuft werden.

Ein wesentlicher Grund für diese Restriktion liegt in dem juristischen Umstand, dass der Vietcong als kommunistische Aufstandsbewegung und Rebellenarmee dem Bereich des »Kleinen Krieges« zugeschrieben wurde, das heißt unterhalb der Schwelle des vertraglichen Völkerrechts angesiedelt blieb: Dessen Angehörige galten als »Räuberbande« (Augustinus) oder eben als Terroristen (Privatleute) und brauchten nicht wie normale Kriegsgefangene behandelt zu werden.

Der nicht gerade würdige Umgang mit gefangenen Talibankämpfern durch US-Behörden emaniert aus diesem Denken, dass Terroristen generell nicht den Bedingungen des Völkerrechts (Haager Konvention) unterliegen, sondern eher den Bindungen des Strafrechts (Haus- und Landfriedensbruch) zuzuordnen sind. Dieser Position allerdings widersprach die Reaktion des US-Präsidenten Bush auf die Zerstörungen in New York sowie in Washington am 11. September 2001. Denn er bestand darauf, dass die Terroristen mit ihrer Gewalttat eine »Kriegserklärung« (Declaration of war) abgegeben hätten – gegen die USA und die gesamte »zivilisierte Welt«.

Mit dieser übereilten Wortwahl wertete der noch unerfahrene US-Präsident den Terrorakt von Privatleuten in unzulässiger Weise auf. Er rückte die Extremisten, die keinem souveränen Staat und UNO-Mitglied verpflichtet waren oder sind (!), in die Nähe der Gleichwertigkeit. Aus dieser völlig überzogenen Koppelung ergab sich dann auch das zusätzliche Maß an Sondervollmachten für den Präsidenten. Nämlich im Rahmen des schon bestehenden »Executive privilege« einem terroristischen Anschlag nicht mit Polizeimitteln allein (FBI), sondern auch durch Militäraktionen regulärer Truppen zu begegnen, zumal in strategisch wichtigen Krisengebieten.

Man könnte auch sagen, dass fortan mit schweren Kanonen auf Spatzen geschossen werden soll, also jede Verhältnismäßigkeit ohne große Not außer Kraft gesetzt wird. Geradezu klassische Beispiele für das Scheitern einer solch kurzsichtigen Vergeltungspolitik sind sowohl die Intifadas der Palästinenser, die immer noch keinen Staat haben (!), wie auch jene Aktion, die US-Präsident George Bush sen. unter der Losung »Gerechte Sache« (Just cause) angeordnet hat: die Gefangennahme des panamesischen Generals Noriega im »Krieg gegen das Kokain«. Das war eine Militäraktion regulärer US-Truppen, die mehr als tausend unschuldige Menschen das Leben gekostet hat und allein damit jenseits aller Verhältnismäßigkeit lag, ganz abgesehen davon, dass mit der Einzelaktion gegen den unliebsam gewordenen General im Kokainkrieg gar nichts gewonnen war.

Angesichts dieser Entwicklung muss festgehalten werden, dass unter dem Einfluss der machtbezogenen Realpolitik bis heute eine rechtlich-ethische Grauzone entstanden ist. Ihre Bewältigung bedeutet die größte Herausforderung an eine Politik, die nach Maßgabe der US-Verfassung von 1787 schon auf Erden ein Stück Gerechtigkeit verwirklichen soll (»to realize justice«). Geben demnach demokratisch gewählte Regierungen der Versuchung nach, den »Krieg gegen den Terror« (G. W. Bush) auch dadurch zu bestehen, dass Essenzialien der eigenen Verfassung storniert werden, dann geraten sie unweigerlich in die gefährlichen Mühlen innerer Erosion: Am Ende diktieren Terrorgruppen das Gesetz des Handelns und unterminieren damit den Rechtsstaat – der »Kleine Krieg« hätte obsiegt und den »Krieg aller gegen alle« (Hobbes) eröffnet, einen Weltbürgerkrieg.

 

Präventive Intervention

Wird die Sicherung des Ganzen über die Sicherheit des Einzelnen gestellt, dann sind beide aufs Höchste gefährdet. Das ist eine schmerzhafte Erfahrung der Geschichte. Es wäre deshalb mehr als fatal, wenn die Allianz gegen den Terror dazu führen würde, aus freiheitlichen Verfassungs- und Rechtsstaaten allmählich Schleich-Diktaturen zu machen, das heißt sich dem Terrorismus anzugleichen, um ihn erfolgreich bekämpfen zu können. Dieser Preis wäre zu hoch, in jeder Hinsicht unverhältnismäßig und somit über alle Maßen ungerecht. Wer das verhindern will, der sollte aus der Geschichte und ihren normgerichteten Strukturen lernen. Henry Kissinger hat das vor kurzem versucht und zur Abwehr eines Präventivschlages (preemptiv strike) gegen Bagdad einen Fundamentalfrieden Alt-Europas bemüht. Er schreibt dazu in der heimischen Presse: »Die Ablösung einer fremden Regierung zum Gegenstand militärischer Drohungen und möglicher Interventionen zu machen, stellt das gesamte System des Westfälischen Friedens von 1648 in Frage, dessen Grundlage die Nichteinmischung fremder Mächte in die internen Angelegenheiten souveräner Staaten ist.« Es ist schon erstaunlich, dass der ehemalige Sicherheitsberater, US-Außenminister und Spezialist für Metternich die Ergebnisse des Wiener Kongresses von 1815 auf den Teutschen Frieden von 1648 überträgt. Ein völkerrechtliches Abkommen, das bis 1806 die »Teutsche Freiheit« und das »gerechte Gleichgewicht« (justum aequilibrium) in Europa garantiert hat. Tatsächlich war der »Gerechte Reichsfrieden« von Münster und Osnabrück das Ergebnis von Interventionen in den Teutschen Krieg: Angefangen 1620 mit Spanien, dann folgten Dänemark, Schweden und Frankreich. Das Eingreifen der letzten drei Mächte in diesen konfessionell durchwirkten Bürgerkrieg galt weniger der Eroberung neuer Länder als vielmehr der sichernden Präventivaufgabe, »dass der Stände Freiheit in Teutschland nicht in eine Knechtschaft und in des Hauses Österreich absolutes Dominat verwandelt werde« (Schwedens Reichsleitung 1636).

Macht man sich das Verhältnis von Sicherheits-, Rechts- und Verfassungspolitik bereits im alten Europa bewusst und begreift es als ein strukturelles Vertragswerk, dann wird verständlich, warum selbst eine präventive Intervention von Rechts wegen geboten sein kann. Schwedens Eingreifen war hauptsächlich vorbeugend ausgerichtet. Es wurde mit der steigenden Bedrohung des Landes durch die militärische Expansionspolitik Habsburgs und Wallensteins genau mit jenen völkerrechtlichen Argumenten begründet, die Hugo Grotius im Geiste der Proporzlehre, des Drittrechtes und der Treuhandschaft in aller guten Politik bereitgestellt hat.

Was immer man auch zur Kriegsführung Schwedens kritisch anmerken kann, so hat dieses Land doch unter der Kanzlerschaft Axel Oxenstiernas 1648 genau das eingelöst, was mit seinem Präventivschlag von 1630 begonnen wurde. Die Garantie der »Herrlichen Reichsstruktur« mit drei Konfessionen im Verfassungsrang und die Verhinderung einer dynastischen Diktatur Habsburgs im Heiligen Reich. Eine solche aber wurde von den Habsburgern 1627 in Böhmen erzwungen und sollte bis 1918 dauern: Für die Böhmen und Mähren eine »Zeit der Finsternis« (Temno) und damit der religiösen, politischen, rechtlichen und ökonomischen Entmündigung – ähnlich der Lage im Irak.

Es mag merkwürdig anmuten, dass dieser Triumph der Freiheit von 1648 über den Absolutismus unter der Losung »Gott mit uns« von halb Europa hart erkämpft werden musste. Versteht man allerdings, dass dieser Bindung die Vorstellung »Gott und das Recht« zu Grunde lag und damit die Erfüllung der »Gerechtigkeit Gottes«, dann wird einsichtig, warum sich der Aristoteliker Gustav Adolf, ein Freund des Grotius, wiederholt auf das göttliche Recht, das Naturrecht und das Völkerrecht berufen hat, um seine treuhänderische Intervention zu rechtfertigen: Hölderlin nannte ihn denn auch noch 1794 einen »Erwäger des Rechts«, der den »ungerechten König« Ferdinand II. bekämpfte und einen »gerechten Universalfrieden« erstrebte.

 

Einreden

Bedenkt man diese und andere Lehren der Geschichte in der gegenwärtigen Situation, dann kann sich zwar die Bush-Regierung von Juristen und Historikern ein ganzes Arsenal an Rechtfertigungen für einen Präventivschlag zusammenstellen lassen, bis hin zum Recht der Tyrannentötung, um größeres Unheil für ein Volk abzuwenden. Im Zeichen von »In God we trust«, unter dem George W. Bush seine letzte Rede zur Lage der Nation gehalten hat, fehlt aber einiges, um einen wirklich gerechten Krieg zu legitimieren, den er mit »gerechten Mitteln« führen will. Erstens muss der oberste Kriegsherr als »persona publica« von Rechts wegen zweifelsfrei legitimiert sein. Nach dem »kalten Putsch« bei der Stimmenauszählung im US-Staat Florida, wo Bushs Bruder Jeb als Gouverneur regiert, bestehen aber nicht nur formelle Zweifel an seiner rechtskonformen Präsidentschaft.

Zweitens müsste trotz der technischen Fülle an Amtsmacht (last decision) eine Kriegserklärung der USA an den Irak erfolgen, um den ethischen Bedingungen des Völkerrechts zu entsprechen. Drittens liegen bisher nur indirekte Beweise für den Kauf oder Bau und die Einsatzfähigkeit (!) von ABC-Waffen im Irak vor. Verfügen die amerikanischen und die englischen Geheimdienste über andere Informationen, dann erhebt sich die berechtigte Frage, warum diese nicht den UNO-Inspektoren um den Völkerrechtler, Diplomaten und ehemaligen Außenminister Schwedens, Hans Blix, vorab zur Verfügung gestellt worden sind.

Viertens fehlt immer noch der sichere Nachweis darüber, dass zwischen al-Qaida und Saddam Hussein eine Verbindung besteht, die ernsthaft befürchten lässt, dass diese Extremisten mit seiner Hilfe in den Besitz von ABC-Waffen gelangen. Fünftens erscheint der geplante Militärschlag mit anschließender Besetzung des gesamten Irak als vorsätzlicher Bruch der Verhältnismäßigkeit, vor allem im Hinblick auf die unschuldigen Völker des Irak: Sie werden am meisten von den Kollateralschäden betroffen sein. Sechstens: Es ist immer noch nicht erkennbar, was nach einer militärisch erfolgreichen Besetzung des Landes wirklich geschehen soll, und zwar gemäß dem Fundamentalsatz des Völkerrechts: »Der Zweck des Krieges ist der Friede« (belli finis pax est, Grotius, 1625). Siebtens: Selbst wenn die Militäroperationen optimal durchgeführt werden, verschafft die eingetretene Machtlage keinerlei Rechte. Sie ist nicht normativ, weil weiterhin der Grundsatz des Völkerrechts gilt: »Victory gives no rights« (Saavedra-Lamas,1935).

Zu einem annähernd gerechten Frieden gehört also nach der Abschaffung der Saddam-Diktatur mit ihrem Terrornetz (drei Geheimdienste) die Errichtung eines Rechts- und Verfassungsstaates, die Einführung der parlamentarischen Demokratie mit einem Wahlsystem auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens sowie die territoriale Integrität. Außerdem wird es für die 1972 verstaatlichte Ölindustrie im Rahmen der OPEC eine vernünftige Lösung geben müssen. Nicht anders als im Hinblick auf das künftige Verhältnis zu den Nachbarn: Insbesondere zum Iran (es herrscht nur ein Waffenstillstand) und Saudi-Arabien, aber auch zu Kuwait, mit dem es seit Jahrzehnten ungelöste Grenzprobleme gibt – nicht nur im Ölfeld Rumaila.

Nimmt man noch die seit 1918 ungelöste Kurdenfrage dazu, dann steht der Welt-Gemeinschaft nichts anderes bevor als eine Revolution der Verhältnisse in einem Kernland des arabischen Raumes. Wie aber soll eine derartige Umwälzung mit George W. Bush erreicht werden, der wie im Atomfall Nord-Korea mit zweierlei Maß misst und am Ende sogar die Absicherung durch die UNO entbehren könnte?

Darüber hinaus zeigen die jüngsten Erfahrungen auf dem Balkan, in Somalia und in Afghanistan unzweideutig, dass »westliche Werte« in tribalistischen Strukturen aus vorindustrieller Zeit nur sehr begrenzt verwirklicht werden können. Denn die religiös ausgerichteten Eliten in diesen Gebieten wehren sich gegen eine Trennung von Kirche und Staat. Schließlich sehen sie ja gerade darin die schwere mentale Krise des Westens und betreiben die Rückbindung ihrer Stammes-Gemeinschaften (Umma) an einen strengen wahhabitischen Islam: Im Glauben auch daran, der modernistische Saddam Hussein möge mit seinem faschistischen Baath-Sozialismus zum Teufel gehen.

Man muss nicht an der kriminellen Energie des Diktators Saddam Hussein zweifeln, der von US-Regierungen lange unterstützt worden ist. Er lässt in seiner »Republik des Schreckens« weiterhin ungehindert mit Mord und Totschlag hantieren und hat die »Vernichtung« Israels auf seine Fahnen geschrieben. Dennoch bleibt auch die Zurückhaltung all jener Länder im »alten Europa« (Rumsfeld) verständlich, die eine friedliche Lösung im Rahmen der UNO suchen, sich also nicht an »Abenteuern« außerhalb des NATO-Gebietes beteiligen dürfen. Das verbietet in Deutschland nach leidvollen Erfahrungen in der Geschichte allein schon das Grundgesetz von 1949, das mit der US- Verfassung von 1787 die Verpflichtung gemein hat, alle Politik nach innen und außen am Gerechtigkeitsgebot, Völkerrecht und an den Menschenrechten zu überprüfen – so wahr ihr Gott helfe.

 

Von Günter Barudio, Autor von Gustav Adolf der Große und Der Teutsche Krieg. 1618–1648 ist zuletzt erschienen: Tränen des Teufels. Eine Weltgeschichte des Erdöls, Stuttgart (Klett-Cotta) 2001 (548 S., 25,00 €).