Man erinnere sich: Die Frage des
»gerechten Krieges« wurde im vergangenen Frühjahr im Manifest der 60
US-Intellektuellen »Wofür wir kämpfen« aufgeworfen. Die Reaktionen waren
gering, obwohl Bush längst von einem »lang andauernden Krieg« gesprochen und
Prävention erwogen hatte, den Irak klar vor Augen. Unser Autor setzt sich nun
auf verschiedenen Ebenen mit diesem Problem auseinander. Er erwägt
völkerrechtliche Argumente, die er aus dem historischen Kontext erläutert, ebenso
wie allgemein-ethische Motive der Politik (was ist überhaupt das Gerechte?),
setzt sich mit dem Begriff des Krieges auseinander und denkt über »Einreden« gegen
eine Prävention nach.
Es gibt Wörter, die vielen Menschen buchstäblich die Sprache
verschlagen. Dazu gehört bei den Deutschen der Begriff vom »Krieg«. In diesen
sind deutsche Soldaten 1870, 1914 und 1939 unter der Losung »Gott mit uns«
gezogen. Ob jeder von ihnen damals wusste, dass es der Schlachtruf der
Schwedenarmee bei Breitenfeld war, im September des Jahres 1631? Zu jener Zeit
kämpfte dieses Heer unter König Gustav Adolf im alten Europa für die Bewahrung
der »Teutschen Freiheit«, und sein Kanzler Oxenstierna unternahm politisch
alles, um eine »absolute Diktatur« Habsburgs im »Heiligen Römischen Reich
Teutscher Nation« zu verhindern. Schweden verhielt sich dabei seit der Invasion
von 1630 ohne jeden Zweifel präventiv und in hohem Maße konstruktiv – auf einen
»Gerechten Frieden« als Teil der Reichsverfassung ausgerichtet.
Zweifel stellen sich aber ein, wenn heute die Kriegsrhetorik
aus den USA eingeschätzt werden soll. In einem Land, dessen Harvard University
seit 1634 besteht und deren Law School noch etwas vom vertraglich angelegten
Naturrecht weiß. Dies Zwiespältige äußert sich auch im jetzigen Präsidenten
George W. Bush. Er ist entschlossen, dem eigenen Fundamentalismus Taten folgen
zu lassen, das heißt einen »Krieg gegen das Böse« zu führen. Und dazu gehört
wohl auch, das von seinem Vater 1991 abgebrochene Werk zu vollenden, nämlich im
Irak eine Abrüstung von möglichen ABC-Waffen zu erzwingen und das Ende des
Diktators Saddam Hussein mittels Militäraktionen zu betreiben – als Modellfall
für den Sturz anderer Diktaturen.
Eine vorläufige Absicherung dieses riskanten Vorhabens haben
nun einige Juristen des US-Kongresses geliefert. Ihrer Expertise gemäß besitzt
der Präsident für Militärschläge selbst im Sinne einer präventiven Intervention
gegen Saddam Hussein genügend Vollmachten. Er brauche demnach auf Grund des
»War Power Act« nicht einmal den Kongress zu fragen. Kann außerdem glaubhaft
gemacht werden, dass der Diktator in Bagdad die Sicherheit der USA gefährdet,
dann bedürfe das Eingreifen zur Beseitigung Saddams und seiner »Republik des
Schreckens« auch keines Mandats der UNO. Hinweise auf eine ABC-Bedrohung
Israels, als dessen unmittelbare Schutzmacht sich die USA verstehen, könnten
hier schon als Rechtsgrund ausreichen: Unterstützt doch der »Schurkenstaat«
Irak die Intifada radikaler Palästinensergruppen in Israel mit Geld und
aufstachelnden Worten – die »Befreiung« des Felsendoms in Jerusalem vor Augen.
Kritik und Krieg
Gegen dieses Szenario eines nationalen Alleingangs aber
werden in letzter Zeit gewichtige Einwände erhoben. Gore Vidal, Brent
Scowcroft, Henry Kissinger, Edward Kennedy oder auch Susan Sontag verstärken
den Chor der Kritiker. Einige von ihnen machen sich darüber besorgt Gedanken,
dass es sich bei dem Irak-Abenteuer Bushs letztlich nur um einen persönlichen
Rachefeldzug des US-Präsidenten handeln könnte. Gar um einen Missbrauch seiner
Entscheidungskompetenz als höchster Befehlshaber, ja auch um den Beginn einer
dezisionistischen Diktatur, die am Kongress vorbei mit Dekreten arbeitet wie
jüngst bei der Errichtung des »Amtes für Globale Kommunikation« – jedoch nicht
um einen »Gerechten Krieg« gegen den Terrorismus.
Diese Gewissensfrage bewegt auch andere amerikanische
Intellektuelle um den Harvard-Publizisten und ehemaligen Regierungsberater
Francis Fukuyama (Das Ende der Geschichte). Sie haben deshalb den
Kontakt zu deutschen Gelehrten um den Tübinger Rhetoriker und Pazifisten Walter
Jens gesucht. Doch von diesen erhielten sie nur ausweichende Antworten und
haben nachgehakt: »Abgesehen davon, dass Sie die Tradition des ›gerechten
Krieges‹ als einen ›unglückseligen historischen Begriff‹ bezeichnen, entfalten
Sie an keiner Stelle eine schlüssige moralische Position zur Frage des
gerechtfertigten Waffengebrauchs.«
Mit diesem Hinweis haben die US-Gelehrten gleich zwei wunde
Punkte auf deutscher Seite freigelegt. Ihre akademischen Adressaten wollen
nämlich weder etwas von den rationalen Bedingungen der Gerechtigkeit wissen
noch haben sie sich jemals ernsthafte Gedanken Über das Recht des Krieges
und des Friedens gemacht. Die Ethik eines treuhänderisch angelegten Völkerrechts,
die Hugo Grotius bereits 1625 (De iure belli ac pacis) der Politik
empfohlen und in mehreren Friedensschlüssen praktisch umgesetzt hat, ist ihnen
als Historisten und Positivisten ganz fremd: Darunter auch das Vertragswesen
des Teutschen Friedens von 1648, der das Interventionsgebot festgeschrieben
hat.
Das Gerechte? Mehr als das
Gerächte!
Nach Maßgabe des klassischen Völkerrechts, wie es vor allem
die Rechtsschule von Salamanca, Grotius, Oxenstierna, Saavedra-Lamas und andere
nach antiken Mustern (Cicero, Stoa, Augustinus) gestaltet haben, darf der Krieg
nur dann als letztes Rechtsmittel (ultima ratio) eingesetzt werden, wenn in
einem Konflikt alle friedlichen Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind oder
Gefahr im Verzug (periculum in mora) besteht. Soll der Krieg als »gerecht«
gelten, dann hat sein Zweck darin zu bestehen, eine gebrochene Rechtslage
wieder herzustellen: Ein »gerechter Frieden« muss nach allen Militäraktionen im
Rückgriff auf die Geschichte und auf zeitlos gültige Normen ausgehandelt, darf
jedoch nicht durch die militärischen Sieger diktiert werden – auf ewige Zeit
bezogen und international garantiert.
Zu diesen Normen aber gehört das Gegenseitigkeitsprinzip der
Goldenen Regel (obligatio mutua). Dann die Treuhandschaft als Verpflichtung auf
das Gemeinwohl (Treu Herr – Treu Knecht) sowie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit.
Dieses findet sich im Buch V der Nikomachischen Ethik des Aristoteles
definiert: »Das Gerechte ist ein Proportionales.« Hier zeigt sich das
Kommutationsgebot (ohne Ansehen der Person) in seiner rational-mathematischen
Anwendung der Gleichheitsforderung. Sie wurde auch im Universalfrieden von 1648
genutzt: Ohne Ansehen der Konfession durften fortan Katholiken, Lutheraner und
Calvinisten ihre Fundamentalrechte als politische Stände im Rahmen der
Reichsverfassung wahrnehmen. Ein Verfahren, das es auch ermöglichen würde,
Israelis und Palästinenser in einem demokratischen Staat zusammenleben zu
lassen; nicht anders als im Irak, wo sich Kurden, Schiiten (60 % der 23 Millionen
Gesamtbevölkerung) und die arabischen Stämme kommutativ einigen könnten:
Vorausgesetzt, man lernt anhand der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, dass
alle Politik im Dienst des Menschen und damit der Gerechtigkeit zu stehen hat,
ist sie doch das »höchste Gut der Menschheit« (Thrasymachos).
Statt sich dieser antiken und alteuropäischen Friedenskunst
verpflichtet zu fühlen, halten sich vornehmlich deutsche Juristen und Politiker
an die von Bismarck inspirierte Zauberformel von der »normativen Kraft des
Faktischen« (Georg Jellinek). Deshalb verstehen sie auch nicht die
Naturrechtsposition amerikanischer Kollegen, wie Charles A. Beard, die von
einer faktischen Kraft der Norm ausgehen und noch mit dem Aristoteliker Kant
wissen, dass »das Recht nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem
Recht angepasst werden muss«.
Gerade unter den Bedingungen eines möglichen »Overkill«
(mehrfache Zerstörung des Planeten durch Atombomben) muss also das Gerechte
mehr sein als das Gerächte. Es hat dabei auf eine durchgehende Menschlichkeit
Rücksicht zu nehmen, um die Kollateralschäden äußerst gering zu halten. Wird
demnach beim fundamentalen Recht zum Krieg, das lediglich ein souveräner
Rechtsstaat hat, vor allem das Prinzip der Verhältnismäßigkeit nicht beachtet, dann
bleibt nur die mechanische Reaktion im Sinne von Rache und Vergeltung. Die
plumpe Rechtfertigung dieses Verhaltens geht aber auf den oft missverstandenen
Satz des Alten Testamentes wie des Korans zurück: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.«
Wer sich also wundert, warum die Regierung Sharon in Israel
auf Terroranschläge von radikalen Palästinensern als Privatleuten oft
»unverhältnismäßig« reagiert oder Vermittlungen der USA scheitern, der hat hier
eine Erklärung. Juden und Muslime schlagen das aristotelisch-christlich
vermittelte Gebot des Proportionalismus aus, pflegen ebenso wenig die Kunst des
Kompromisses nach Maßgabe der goldenen Regel als innere Friedensarbeit und
haben deshalb auch damit Probleme, auf Dauer in Verträgen verträglich zu sein.
Im Sinne des Aristoteles bedeutet die Aneignung und
Umsetzung dieser Grundbindungen gerechter Politik eine »Kunst des Gleichen und
Guten«. Sie kann aber nur dann gedeihen, wenn eine konsequente »Erziehung zur
Verfassung« geleistet wird. All das aber gab es bisher in den Krisengebieten
des Balkans, des Kaukasus, in der Golfregion, in Afghanistan oder in Somalia so
gut wie nicht. Stattdessen herrschen dort immer noch Blutrache als Vergeltungsdenken,
Sippenhaft statt Einzelfallprüfung und Vetternwirtschaft als familiäres Beziehungsgeflecht
vor, Schmuggel statt »lauterer Wettbewerb« und damit Steuerhinterziehung kommen
dazu. Abseits all jener griechisch-römischen oder »westlichen Werte«, aus denen
der Rechtsstaat und die parlamentarische Demokratie hervorgegangen sind. Deren
aktuelle Gefährdungen und stufenartiger Abbau aber haben gerade in den USA
schon zu der heftigen Klage geführt: »Liberty dies by inches.«
Der »Kleine Krieg«
Militärs und Intellektuelle auf beiden Seiten des Atlantiks
haben seit 1945 erhebliche Probleme, innere Verschiebungen im Kriegsbegriff zu
vermitteln und sich dabei an die Bedingungen des klassischen Völkerrechts zu halten.
Dazu gehört sowohl der Abwurf von Atombomben auf die japanische
Zivilbevölkerung durch die Militärführung der USA als auch das Phänomen des
»Kleinen Krieges« in Gestalt von so genannten Befreiungskriegen. Darunter
versteht man seit der frühen Neuzeit das Agieren von Schlägertrupps,
Räuberbanden (Haiducken), Terrorgruppen, Partisanen oder Freischärlern. Sie
begingen im Vorfeld oder auch im Rückraum einer regulären Armee allerlei
Untaten, wurden aber nicht dem Völkerrecht subsumiert: Denn sie gehörten keinem
souveränen Rechtsstaat an und konnten deshalb auch nicht den Kombattantenstatus
beanspruchen, das heißt den Rechtsschutz für Leib und Leben im Fall der
Gefangennahme.
So gilt zwar in den Medien und im allgemeinen Sprachgebrauch
das militärische Eingreifen der USA in Indochina zwischen 1964 und 1974 als
»Vietnam-Krieg«. Aber in offiziellen Stellungnahmen war jede Präsidentschaft
von Johnson bis Nixon sehr darum bemüht, von einem »Conflict« und nicht von
einem »Krieg« (War) zu sprechen. Denn zur steigenden Intervention gegen den
Vietcong gab es keine Kriegserklärung, an der sich der Präsident und der
Kongress nach Maßgabe ihrer Verfassungskompetenz beteiligt hätten: Tatsächlich
wurde das Desaster in Südostasien von Washington aus als eine Art Polizeiaktion
geführt und mit schleichender Inflation finanziert – dem Petrodollar zu großem
Schaden, bis die Ölpreiserhöhung von 1973 für einen Inflationsausgleich gesorgt
hat.
Welche praktischen Rückwirkungen sich aus dieser
Sprachregelung ergeben haben, kann jeder Vietnamveteran bezeugen. Er bekommt
bis heute nicht die gleichen öffentlichen Vergünstigungen wie Veteranen aus dem
Ersten oder Zweiten Weltkrieg, die als reguläre Kriege eingestuft werden.
Ein wesentlicher Grund für diese Restriktion liegt in dem
juristischen Umstand, dass der Vietcong als kommunistische Aufstandsbewegung
und Rebellenarmee dem Bereich des »Kleinen Krieges« zugeschrieben wurde, das
heißt unterhalb der Schwelle des vertraglichen Völkerrechts angesiedelt blieb:
Dessen Angehörige galten als »Räuberbande« (Augustinus) oder eben als
Terroristen (Privatleute) und brauchten nicht wie normale Kriegsgefangene behandelt
zu werden.
Der nicht gerade würdige Umgang mit gefangenen
Talibankämpfern durch US-Behörden emaniert aus diesem Denken, dass Terroristen
generell nicht den Bedingungen des Völkerrechts (Haager Konvention)
unterliegen, sondern eher den Bindungen des Strafrechts (Haus- und
Landfriedensbruch) zuzuordnen sind. Dieser Position allerdings widersprach die
Reaktion des US-Präsidenten Bush auf die Zerstörungen in New York sowie in
Washington am 11. September 2001. Denn er bestand darauf, dass die Terroristen
mit ihrer Gewalttat eine »Kriegserklärung« (Declaration of war) abgegeben
hätten – gegen die USA und die gesamte »zivilisierte Welt«.
Mit dieser übereilten Wortwahl wertete der noch unerfahrene
US-Präsident den Terrorakt von Privatleuten in unzulässiger Weise auf. Er
rückte die Extremisten, die keinem souveränen Staat und UNO-Mitglied
verpflichtet waren oder sind (!), in die Nähe der Gleichwertigkeit. Aus dieser
völlig überzogenen Koppelung ergab sich dann auch das zusätzliche Maß an
Sondervollmachten für den Präsidenten. Nämlich im Rahmen des schon bestehenden
»Executive privilege« einem terroristischen Anschlag nicht mit Polizeimitteln
allein (FBI), sondern auch durch Militäraktionen regulärer Truppen zu begegnen,
zumal in strategisch wichtigen Krisengebieten.
Man könnte auch sagen, dass fortan mit schweren Kanonen auf
Spatzen geschossen werden soll, also jede Verhältnismäßigkeit ohne große Not
außer Kraft gesetzt wird. Geradezu klassische Beispiele für das Scheitern einer
solch kurzsichtigen Vergeltungspolitik sind sowohl die Intifadas der
Palästinenser, die immer noch keinen Staat haben (!), wie auch jene Aktion, die
US-Präsident George Bush sen. unter der Losung »Gerechte Sache« (Just cause)
angeordnet hat: die Gefangennahme des panamesischen Generals Noriega im »Krieg
gegen das Kokain«. Das war eine Militäraktion regulärer US-Truppen, die mehr
als tausend unschuldige Menschen das Leben gekostet hat und allein damit
jenseits aller Verhältnismäßigkeit lag, ganz abgesehen davon, dass mit der
Einzelaktion gegen den unliebsam gewordenen General im Kokainkrieg gar nichts
gewonnen war.
Angesichts dieser Entwicklung muss festgehalten werden, dass
unter dem Einfluss der machtbezogenen Realpolitik bis heute eine
rechtlich-ethische Grauzone entstanden ist. Ihre Bewältigung bedeutet die
größte Herausforderung an eine Politik, die nach Maßgabe der US-Verfassung von
1787 schon auf Erden ein Stück Gerechtigkeit verwirklichen soll (»to realize
justice«). Geben demnach demokratisch gewählte Regierungen der Versuchung nach,
den »Krieg gegen den Terror« (G. W. Bush) auch dadurch zu bestehen, dass
Essenzialien der eigenen Verfassung storniert werden, dann geraten sie
unweigerlich in die gefährlichen Mühlen innerer Erosion: Am Ende diktieren
Terrorgruppen das Gesetz des Handelns und unterminieren damit den Rechtsstaat –
der »Kleine Krieg« hätte obsiegt und den »Krieg aller gegen alle« (Hobbes)
eröffnet, einen Weltbürgerkrieg.
Präventive Intervention
Wird die Sicherung des Ganzen über die Sicherheit des
Einzelnen gestellt, dann sind beide aufs Höchste gefährdet. Das ist eine
schmerzhafte Erfahrung der Geschichte. Es wäre deshalb mehr als fatal, wenn die
Allianz gegen den Terror dazu führen würde, aus freiheitlichen Verfassungs- und
Rechtsstaaten allmählich Schleich-Diktaturen zu machen, das heißt sich dem
Terrorismus anzugleichen, um ihn erfolgreich bekämpfen zu können. Dieser Preis
wäre zu hoch, in jeder Hinsicht unverhältnismäßig und somit über alle Maßen
ungerecht. Wer das verhindern will, der sollte aus der Geschichte und ihren
normgerichteten Strukturen lernen. Henry Kissinger hat das vor kurzem versucht
und zur Abwehr eines Präventivschlages (preemptiv strike) gegen Bagdad einen
Fundamentalfrieden Alt-Europas bemüht. Er schreibt dazu in der heimischen
Presse: »Die Ablösung einer fremden Regierung zum Gegenstand militärischer
Drohungen und möglicher Interventionen zu machen, stellt das gesamte System des
Westfälischen Friedens von 1648 in Frage, dessen Grundlage die Nichteinmischung
fremder Mächte in die internen Angelegenheiten souveräner Staaten ist.« Es ist
schon erstaunlich, dass der ehemalige Sicherheitsberater, US-Außenminister und
Spezialist für Metternich die Ergebnisse des Wiener Kongresses von 1815 auf den
Teutschen Frieden von 1648 überträgt. Ein völkerrechtliches
Abkommen, das bis 1806 die »Teutsche Freiheit« und das »gerechte Gleichgewicht«
(justum aequilibrium) in Europa garantiert hat. Tatsächlich war der »Gerechte
Reichsfrieden« von Münster und Osnabrück das Ergebnis von Interventionen in den
Teutschen Krieg: Angefangen 1620 mit Spanien, dann folgten Dänemark, Schweden
und Frankreich. Das Eingreifen der letzten drei Mächte in diesen konfessionell
durchwirkten Bürgerkrieg galt weniger der Eroberung neuer Länder als vielmehr
der sichernden Präventivaufgabe, »dass der Stände Freiheit in Teutschland nicht
in eine Knechtschaft und in des Hauses Österreich absolutes Dominat verwandelt
werde« (Schwedens Reichsleitung 1636).
Macht man sich das Verhältnis von Sicherheits-, Rechts- und
Verfassungspolitik bereits im alten Europa bewusst und begreift es als ein
strukturelles Vertragswerk, dann wird verständlich, warum selbst eine
präventive Intervention von Rechts wegen geboten sein kann. Schwedens
Eingreifen war hauptsächlich vorbeugend ausgerichtet. Es wurde mit der
steigenden Bedrohung des Landes durch die militärische Expansionspolitik
Habsburgs und Wallensteins genau mit jenen völkerrechtlichen Argumenten
begründet, die Hugo Grotius im Geiste der Proporzlehre, des Drittrechtes und
der Treuhandschaft in aller guten Politik bereitgestellt hat.
Was immer man auch zur Kriegsführung Schwedens kritisch anmerken
kann, so hat dieses Land doch unter der Kanzlerschaft Axel Oxenstiernas 1648
genau das eingelöst, was mit seinem Präventivschlag von 1630 begonnen wurde.
Die Garantie der »Herrlichen Reichsstruktur« mit drei Konfessionen im
Verfassungsrang und die Verhinderung einer dynastischen Diktatur Habsburgs im
Heiligen Reich. Eine solche aber wurde von den Habsburgern 1627 in Böhmen
erzwungen und sollte bis 1918 dauern: Für die Böhmen und Mähren eine »Zeit der
Finsternis« (Temno) und damit der religiösen, politischen, rechtlichen und
ökonomischen Entmündigung – ähnlich der Lage im Irak.
Es mag merkwürdig anmuten, dass dieser Triumph der Freiheit
von 1648 über den Absolutismus unter der Losung »Gott mit uns« von halb Europa
hart erkämpft werden musste. Versteht man allerdings, dass dieser Bindung die
Vorstellung »Gott und das Recht« zu Grunde lag und damit die Erfüllung der
»Gerechtigkeit Gottes«, dann wird einsichtig, warum sich der Aristoteliker
Gustav Adolf, ein Freund des Grotius, wiederholt auf das göttliche Recht, das
Naturrecht und das Völkerrecht berufen hat, um seine treuhänderische
Intervention zu rechtfertigen: Hölderlin nannte ihn denn auch noch 1794 einen
»Erwäger des Rechts«, der den »ungerechten König« Ferdinand II. bekämpfte und
einen »gerechten Universalfrieden« erstrebte.
Einreden
Bedenkt man diese und andere Lehren der Geschichte in der
gegenwärtigen Situation, dann kann sich zwar die Bush-Regierung von Juristen
und Historikern ein ganzes Arsenal an Rechtfertigungen für einen
Präventivschlag zusammenstellen lassen, bis hin zum Recht der Tyrannentötung,
um größeres Unheil für ein Volk abzuwenden. Im Zeichen von »In God we trust«,
unter dem George W. Bush seine letzte Rede zur Lage der Nation gehalten hat,
fehlt aber einiges, um einen wirklich gerechten Krieg zu legitimieren, den er
mit »gerechten Mitteln« führen will. Erstens muss der oberste Kriegsherr als
»persona publica« von Rechts wegen zweifelsfrei legitimiert sein. Nach dem
»kalten Putsch« bei der Stimmenauszählung im US-Staat Florida, wo Bushs Bruder
Jeb als Gouverneur regiert, bestehen aber nicht nur formelle Zweifel an seiner
rechtskonformen Präsidentschaft.
Zweitens müsste trotz der technischen Fülle an Amtsmacht
(last decision) eine Kriegserklärung der USA an den Irak erfolgen, um den
ethischen Bedingungen des Völkerrechts zu entsprechen. Drittens liegen bisher
nur indirekte Beweise für den Kauf oder Bau und die Einsatzfähigkeit (!) von
ABC-Waffen im Irak vor. Verfügen die amerikanischen und die englischen
Geheimdienste über andere Informationen, dann erhebt sich die berechtigte
Frage, warum diese nicht den UNO-Inspektoren um den Völkerrechtler, Diplomaten
und ehemaligen Außenminister Schwedens, Hans Blix, vorab zur Verfügung gestellt
worden sind.
Viertens fehlt immer noch der sichere Nachweis darüber, dass
zwischen al-Qaida und Saddam Hussein eine Verbindung besteht, die ernsthaft
befürchten lässt, dass diese Extremisten mit seiner Hilfe in den Besitz von
ABC-Waffen gelangen. Fünftens erscheint der geplante Militärschlag mit
anschließender Besetzung des gesamten Irak als vorsätzlicher Bruch der
Verhältnismäßigkeit, vor allem im Hinblick auf die unschuldigen Völker des
Irak: Sie werden am meisten von den Kollateralschäden betroffen sein.
Sechstens: Es ist immer noch nicht erkennbar, was nach einer militärisch
erfolgreichen Besetzung des Landes wirklich geschehen soll, und zwar gemäß dem
Fundamentalsatz des Völkerrechts: »Der Zweck des Krieges ist der Friede« (belli
finis pax est, Grotius, 1625). Siebtens: Selbst wenn die Militäroperationen optimal
durchgeführt werden, verschafft die eingetretene Machtlage keinerlei Rechte.
Sie ist nicht normativ, weil weiterhin der Grundsatz des Völkerrechts gilt:
»Victory gives no rights« (Saavedra-Lamas,1935).
Zu einem annähernd gerechten Frieden gehört also nach der
Abschaffung der Saddam-Diktatur mit ihrem Terrornetz (drei Geheimdienste) die
Errichtung eines Rechts- und Verfassungsstaates, die Einführung der
parlamentarischen Demokratie mit einem Wahlsystem auf allen Ebenen des
öffentlichen Lebens sowie die territoriale Integrität. Außerdem wird es für die
1972 verstaatlichte Ölindustrie im Rahmen der OPEC eine vernünftige Lösung
geben müssen. Nicht anders als im Hinblick auf das künftige Verhältnis zu den
Nachbarn: Insbesondere zum Iran (es herrscht nur ein Waffenstillstand) und
Saudi-Arabien, aber auch zu Kuwait, mit dem es seit Jahrzehnten ungelöste
Grenzprobleme gibt – nicht nur im Ölfeld Rumaila.
Nimmt man noch die seit 1918 ungelöste Kurdenfrage dazu,
dann steht der Welt-Gemeinschaft nichts anderes bevor als eine Revolution der
Verhältnisse in einem Kernland des arabischen Raumes. Wie aber soll eine
derartige Umwälzung mit George W. Bush erreicht werden, der wie im Atomfall
Nord-Korea mit zweierlei Maß misst und am Ende sogar die Absicherung durch die
UNO entbehren könnte?
Darüber hinaus zeigen die jüngsten Erfahrungen auf dem
Balkan, in Somalia und in Afghanistan unzweideutig, dass »westliche Werte« in
tribalistischen Strukturen aus vorindustrieller Zeit nur sehr begrenzt
verwirklicht werden können. Denn die religiös ausgerichteten Eliten in diesen
Gebieten wehren sich gegen eine Trennung von Kirche und Staat. Schließlich
sehen sie ja gerade darin die schwere mentale Krise des Westens und betreiben die
Rückbindung ihrer Stammes-Gemeinschaften (Umma) an einen strengen
wahhabitischen Islam: Im Glauben auch daran, der modernistische Saddam Hussein
möge mit seinem faschistischen Baath-Sozialismus zum Teufel gehen.
Man muss nicht an der kriminellen Energie des Diktators
Saddam Hussein zweifeln, der von US-Regierungen lange unterstützt worden ist.
Er lässt in seiner »Republik des Schreckens« weiterhin ungehindert mit Mord und
Totschlag hantieren und hat die »Vernichtung« Israels auf seine Fahnen
geschrieben. Dennoch bleibt auch die Zurückhaltung all jener Länder im »alten
Europa« (Rumsfeld) verständlich, die eine friedliche Lösung im Rahmen der UNO
suchen, sich also nicht an »Abenteuern« außerhalb des NATO-Gebietes beteiligen
dürfen. Das verbietet in Deutschland nach leidvollen Erfahrungen in der
Geschichte allein schon das Grundgesetz von 1949, das mit der US- Verfassung
von 1787 die Verpflichtung gemein hat, alle Politik nach innen und außen am
Gerechtigkeitsgebot, Völkerrecht und an den Menschenrechten zu überprüfen – so
wahr ihr Gott helfe.
Von Günter Barudio, Autor von Gustav
Adolf der Große und Der Teutsche Krieg. 1618–1648 ist zuletzt
erschienen: Tränen des Teufels. Eine Weltgeschichte des Erdöls,
Stuttgart (Klett-Cotta) 2001 (548 S., 25,00 €).