Jochen Müller

Wes Geistes Kind?

Arabischer Nationalismus, Islamismus und Antisemitismus im Mittleren Osten

Seit den Selbstmordanschlägen der zweiten Intifada ist der Antisemitismus als Alltagsideologie in der arabischen Welt ins Bewusstsein gerückt. Tatsächlich wittern nicht nur Islamisten weltweit jüdische Verschwörungen gegen Araber und Muslime. Vielmehr erscheint ihr Antisemitismus als wohl radikalste Ausprägung des arabischen Nationalismus. Und der trägt mit seinem Feindbild von Israel entscheidend zur inneren Stabilität der Regime in der Region bei.

 

Um den 11. September 2002 herum kam in Mainz ein Teil der internationalen islamwissenschaftlichen Zunft zu einem Kongress (World Congress of Middle Eastern Studies/WOCMES) zusammen. Ziel der Veranstaltung war es trotz dieser Terminierung nicht, kritisch nach den Hintergründen des Terrors in den Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens zu fragen. Im Gegenteil herrschte die paternalistische Tradition der Islamwissenschaft vor, die Region und ihre Bewohner in Schutz zu nehmen. Der radikale Islamismus ging hier meist als Randerscheinung durch und vom Antisemitismus in den arabischen Gesellschaften wollte man gleich gar nichts wissen. Am Jahrestag des 11.9. waren es dann die USA und Israel, die als eigentliche Auslöser des Terrors ausgemacht wurden.

Was aber ist wirklich Auslöser des radikal-islamistischen Terrors, wie ihn etwa Hamas oder al Qaida praktizieren? Explizit gegen die blinden Flecken von Orientalistik und Islamwissenschaft veröffentlichte kürzlich der Hamburger Autor Matthias Küntzel ein Buch, in dem er nachzuweisen sucht, dass es der Antisemitismus ist, der immer schon im Zentrum des Islamismus gestanden habe, und der vor allem anderen die Popularität des Islamismus in der arabischen Welt begründe. Küntzel erklärt in Djihad und Judenhaß, dass es nicht Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sind, die Hamas zu Selbstmordattentaten treiben, sondern ihr antisemitisches Weltbild. Wes Geistes Kind die Hamas-Ideologen sind, verkündet etwa ihre Charta von 1988: Da werden »die Juden« nicht nur für den Nahostkonflikt, sondern auch für den Ersten und Zeiten Weltkrieg, die französische wie die Oktoberrevolution verantwortlich gemacht und die UN als Instrument jüdischer Weltbeherrschungspläne »entlarvt«. Als Beweis für derlei Pläne dienen die Protokolle der »Weisen von Zion«. Das alles hat mit der Palästinafrage nichts, mit antisemitischen Denkformen aber sehr viel zu tun.

Dennoch setzt auch Küntzel sein Augenmerk zu einseitig. Denn hinter den antiisraelischen wie antisemitischen Ressentiments und Verschwörungstheorien steht ein weitverbreiteteres Phänomen als der Islamismus: der arabische Nationalismus. Lediglich als spezifische Form dieses pan-arabischen Nationalismus wird die Ideologie des in den Dreißigerjahren formierten Islamismus mit ihrem Bezug auf die Religion als Grundlage kollektiver Identität und ihrer Betonung einer repressiven Moral populär. Es ist aber der arabische Nationalismus, der sich mit seiner Antwort auf die Zumutungen der kapitalistischen Vergesellschaftung (Weltwirtschaftskrise unter kolonialen Bedingungen) und seiner Reaktion auf das Empfinden kollektiver Schwäche und Unterlegenheit gegenüber den Kolonialstaaten in den Fünfzigerjahren machtpolitisch durchsetzt.

Aggressive Defensiv-Kultur

Seine Ideologie prägt bis heute wesentliche Teile des Alltagsbewusstseins in den Gesellschaften des Mittleren Ostens und Nordafrikas. Sie konstruierte erst die Wir-Gemeinschaft der Araber. Und obwohl unter den arabischen Nationalisten auch Christen und zunächst sogar noch Juden vertreten waren, definierte sich die Bewegung sehr bald nicht nur in Gegnerschaft zu den Kolonialstaaten, sondern auch zur jüdischen Einwanderung nach Palästina und zum Zionismus. Im Kampf des arabischen Nationalismus gegen den Staat der Juden, in dem von ihm propagierten Antizionismus, liegt die Hauptquelle des arabischen Antisemitismus.

Der Hang zum Ressentiment wohnt dem arabischen Nationalismus von Beginn an inne. Denn er ist ein im doppelten Sinne »gereizter« Nationalismus. Zum einen entsteht er als sekundärer Nationalismus: nicht wie in Europa genuin, gewissermaßen »aus freien Stücken« und im Kontext der Entwicklung bürgerlicher Gesellschaften, sondern als übernommene und von Europa angestoßene politische Formierung. Zum anderen entwächst seine Ideologie einer Situation der Ohnmacht – als Reaktion auf Kolonialismus und Fremdbeherrschung, aber auch als vermeintlich eigenständige Antwort auf den zunehmenden Modernisierungsdruck.

Der arabische Nationalismus ist Teil einer ausgeprägten »Defensiv-Kultur« (Bassam Tibi) in den Gesellschaften des Mittleren Ostens und Nordafrikas. An die politische Macht der jungen unabhängigen Staaten gelangt, setzte der arabische Nationalismus etwa in Ägypten (Nasserismus), Irak und Syrien (Ba’ath-Partei) oder Algerien (FLN) einen autoritären Modernismus gegen das nach dem Kolonialismus (und bis heute) in den arabischen Gesellschaften verbreitete Selbstbild als Opfer der Weltgeschichte. Im Innern mündete er in Planwirtschaft und brutale Unterdrückung jeglicher Opposition unter der Prämisse von Einheit und Geschlossenheit. Hier wurzelt wohl die bis heute zu beobachtende Staatsfixiertheit in den Gesellschaften der Region.

Vor allem nach außen sind Politik und Ideologie des arabischen Nationalismus von einer aggressiven Verteidigungshaltung geprägt. Steht zu Beginn die regionale Macht der Kolonialstaaten im Zentrum der Auseinandersetzung, nehmen später die USA und Israel diese Rolle ein. Vor allem Israel fungiert als Feindbild und wird seit 1948 zum Inbegriff imperialer Begehrlichkeiten und westlicher Einflussnahme in der arabisch-islamischen Welt stilisiert.

 

Der Feind steht außen

Der Palästinakonflikt prägt bis heute die Ideologie des arabischen Nationalismus von Marrakesch bis Bagdad. Als zentrales Element einer Propaganda, die immer wieder an Opferbild und Gemeinschaftsgefühl appelliert, ist er den Regimen geradezu unentbehrlich geworden – eine friedliche Lösung zwischen Israelis und Palästinensern würde den arabischen Nationalismus als Herrschaftsideologie in eine Existenzkrise stürzen. Und damit auch die arabischen Staaten selbst: Denn das Konstrukt der arabischen Verbundenheit mit den Brüdern und Schwestern in Ramallah und Jenin reicht so weit, dass, folgt man den streng kontrollierten arabischen Medien, die Menschen in Kairo oder Damaskus offenbar mehr unter der israelischen Besatzungspolitik im fernen Palästina leiden als an der desolaten Situation vor der eigenen Haustür. Auf diese Weise liefert der Palästinakonflikt die Fiktion vom äußeren Feind des imaginierten Kollektivs, die von inneren Krisenphänomenen ablenkt.

Der Palästinakonflikt und die  Politik Israels lässt den »gereizten« Nationalismus offen antisemitisch werden. Dabei verbinden sich klassische, aus dem europäischen Kontext importierte antisemitische Denkmuster unentwirrbar mit der Ideologie des arabischen Nationalismus. Ein Beispiel: Der in der Tradition des arabischen Nationalismus stehende sozialkritische ägyptische Schriftsteller Sonallah Ibrahim, der unter Nasser selbst Jahre hinter Gittern saß, sagte ein paar Monate nach dem 11.9. die Teilnahme an einem Literatentreffen in Berlin mit der Begründung ab, dieses sei von Israel und den USA mitfinanziert worden.

Bereits im Frühjahr 2001 hatte sich Ibrahim in eine Phalanx arabischer Schriftsteller – unter ihnen etwa Jamal al-Ghitani und Salwa Bakr – eingereiht, die das Anliegen des israelischen Verlagshauses Al-Andalus zurückwiesen, ihre Werke ins Hebräische zu übersetzen. Obwohl Al-Andalus bereits so namhafte arabische Autoren wie Muhammad Choukri, Tayyib Salih oder Hanan al-Sheich übersetzen konnte, war in der arabischen Öffentlichkeit von »Kollaboration«, »Spionage« und kulturellem Ausverkauf an Israel die Rede. Hebräisch, so argumentierte Ibrahim außerdem, sei »eine tote Sprache, die lediglich von einigen tausend Sprechern in Israel gebraucht werde«. Ist Sonallah Ibrahim damit Antisemit oder »nur« arabischer Nationalist?

Klar liegt der Fall bei den zahlreichen Stereotypen und Verschwörungstheorien, die ein wesentlicher Teil des arabisch-nationalistischen Alltagbewusstseins in Ägypten, Jordanien oder Syrien sind und deren Ausgangspunkt der Opfermythos ist: Ob die Anschläge vom 11.9. oder Missernten, ob AIDS auf infizierte Mossad-Agentinnen oder die Impotenz ägyptischer Männer auf israelische Kaugummis zurückgeführt werden – immer stecken Israel und die Juden hinter dem Bösen einer Welt, die wie eh und je darauf sinnt, Araber und Muslime zu demütigen.

 

Der Jihad-Islamismus

Spielt dann der Islamismus gar keine Rolle für den arabischen Antisemitismus? Doch, denn er hat sich immer wieder als spezifische Form des arabischen Nationalismus und des in ihm angelegten Antisemitismus präsentiert. Bereits in den 1930er-Jahren nahmen die ägyptischen Muslimbrüder – die Keimzelle aller islamistischen Bewegungen – in den nationalen Strömungen eine führende Stellung ein. Sie versammelten große Teile des Kleinbürgertums hinter sich und wurden in der Agitation gegen die britische Herrschaft sowie bürgerliche und feudale Eliten zur Massenbewegung. Und schon damals richtete sich ihre Agitation gegen den Zionismus und die Juden, was 1945 zum Jahrestag der Balfour-Deklaration in Kairo in antijüdische Pogrome mündete. Damit profilierten sich die Muslimbrüder erstmals als radikalste Strömung des sich konstituierenden arabischen Nationalismus.

Im Kampf um die Macht unterlagen sie aber 1952 den Freien Offizieren. Bald ließ Jamal abd-el Nasser die Brüder gnadenlos verfolgen. Sie verschwanden vorläufig von der politischen Bühne. Erst als die Niederlage von 1967 die schwärzeste Stunde aller Ambitionen des arabischen Nationalismus markierte, traten die Islamisten in den Siebzigerjahren dessen Erbe an. Und wieder stand Ägypten im Zentrum dieser Entwicklung: Zusammen mit linken Nationalisten zählten die Muslimbrüder 1977 zu den erbittertsten Gegnern von Sadats Friedensvertrag mit Israel. Als Verräter an der arabischen Sache isolierte sich damals der ägyptische Präsident für einige Jahre in der arabischen Welt. Und je stärker Sadats Kurs der ökonomischen Liberalisierung und Westöffnung die soziale Kluft zwischen der Masse der Bevölkerung und der politischen und wirtschaftlichen Elite vertiefte, die allein sich einen westlichen Lebensstil leisten konnte, desto stärker profilierten sich die Islamisten als oppositionelle Kraft. Als Sadat 1981 von einem Mitglied der ägyptischen Jihad-Organisation ermordet wurde, begründete das intellektuelle Oberhaupt der Gruppe, Muhammad Abd as-Salam Faraj, das unter anderem so: »Die heutigen Herrscher der Muslime sind vom Islam abgefallen. Sie wurden an den Tischen des Imperialismus groß – gleichgültig, ob der nun das Kreuzrittertum, der Kommunismus oder der Zionismus ist.«

Damit ist die Nähe von arabischem Nationalismus, Islamismus und Antisemitismus deutlich formuliert. Der Jihad-Islamismus kann auch als religiös gewendete und zugespitzte Form des arabischen Nationalismus begriffen werden. Sein Antisemitismus ist dabei eher ein – besonders ausgeprägtes – Moment des arabischen Nationalismus als sein originäres Alleinstellungsmerkmal. Das zeigt sich deutlich in der Resonanz der arabischen Öffentlichkeit auf den radikal-islamistischen Terror: Hamas und Jihad Islami werden nicht als Islamisten, sondern vielmehr als radikalste Vertreter des palästinensisch-arabischen Nationalismus geschätzt – bis hin zur antisemitischen Vernichtungsdrohung. Ähnlich ist es mit al Qaida: Die in den arabischen Gesellschaften unzweifelhaft verbreitete »klammheimliche Freude« über den Anschlag auf das WTC beruht auf dem Gefühl, dass Araber es dem übermächtigen Gegner einmal gezeigt hätten. Osama bin Laden wird häufig in eine Reihe mit den säkularen »Helden« des arabischen Nationalismus wie Nasser oder Saddam Hussein gestellt. Gleich also, ob der Anschlag auf WTC und Pentagon nun gegen Machtsymbole der USA gerichtet oder ein Angriff auf das imaginierte Zentrum des jüdischen Finanzkapitals gewesen sein mag: In beiden Fällen stehen Opfermythos und das Bedürfnis nach eigener kollektiver Größe hinter den Beifallskundgebungen. Beides ist Kern der Ideologie des Arabischen Nationalismus.

 

Ewiger Antisemitismus?

Zweifellos haben sich die antisemitischen Stereotypen vom konkreten Nahostkonflikt abgekoppelt. Das gilt vor allem in den Regionen, wo die Menschen mit den Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern gar nicht direkt konfrontiert sind. Hier wird besonders deutlich, wie der seit jeher auch antisemitisch konnotierte Antizionismus des arabischen Nationalismus als Ventil für Unmut und Ausdrucksform des Unbehagens in den modernen arabischen Gesellschaften fungiert. Zunehmend tauchen in diesem Zuge die bekannten antisemitischen Formen auf – von Ritualmordvorwürfen gegen JüdInnen über Weltverschwörungsphantasien bis zur Leugnung der Shoah. All dies zu ignorieren und der Kritik am arabischen Antisemitismus lediglich mit Hinweisen auf die US-Politik und Israel zu begegnen, wie es weiterhin viele arabische Politiker und Intellektuelle, aber auch Teile der westlichen Wissenschaft und Öffentlichkeit tun, hieße einem wesentlichen und äußerst gefährlichen Phänomen in den modernen arabischen Gesellschaften auszuweichen.

Auf der anderen Seite ist es auch zu einfach, den Nahostkonflikt nur als Ticket eines im Grunde universellen und »ewigen« Antisemitismus zu verstehen, wie es Matthias Küntzel nahe legt. Trotz vieler Ähnlichkeiten - insbesondere auch mit dem deutschen – weist die Geschichte und Gegenwart des arabischen Antisemitismus Besonderheiten auf. Vor allem anderen bezieht sich der arabische im Unterschied zum europäischen Antisemitismus »immerhin« auf eine tatsächliche Problematik, nämlich die Marginalisierung der Palästinenser. So stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß es den arabischen Antisemitismus ohne den Nahostkonflikt mit seinen militärischen Niederlagen etc. heut überhaupt gäbe. Auf jeden Fall sprechen die Konjunkturen des Antisemitismus in der arabischen Welt – 1948, 1967 und seit der zweiten Intifada –, die sich auch im Strom israelischer Touristen nach Ägypten in den Jahren nach Oslo niederschlugen, gegen die Annahme, der arabische Antisemitismus würde den Nahostkonflikt ungebrochen überdauern. Vieles deutet darauf hin, dass mit einer friedlichen Lösung zwischen Israelis und Palästinensern die Bereitschaft sinken würde, Verschwörungstheorien anzuhängen.

 

Der von der Redaktion leicht gekürzte Beitrag ist Teil eines Nahost-Schwerpunktes in der aktuellen Ausgabe der nord-süd-politischen Zeitschrift iz3w (www.iz3w.org).

 

Literatur:

Gilles Kepel: Das Schwarzbuch des Dschihad, München 2002

Franz Kogelmann: Die Islamisten Ägyptens in der Regierungszeit von Anwar as-Sadat, Berlin 1994

Matthias Küntzel: Djihad und Judenhaß, Freiburg 2002

Roel Meijer: The Quest for Modernity – Secular Liberal and Left-Wing Political Thought in Egypt 1945–1958, London 2002

Richard Mitchell: The Society of the Muslim Brotherhood, London 1969

Götz Nordbruch: »Koranschule II«, in Jungle World 49/2001

Stein/Windfuhr (Hrsg.): Ein Tag im September, Heidelberg 2002

Volker Weiß: »Europäischer und arabischer Antisemitismus«, in: diskus »2/02