Michael Werz

»Es endet nicht mit dem Irak«

Über die »konservativen Bolschewisten« in der US-Administration

Die Politik der Administration von Bush junior ist keine Fortschreibung alter Politik. Als neokonservative Rebellen glauben ihre Protagonisten aus der Geschichte und den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben und streben nun einen fundamentalen Wandel der globalen Ordnung an.

 

Während einer öffentlichen Diskussion im Herbst 2002 forderte Richard Perle, der konservative Chef des Defense Policy Board im Pentagon, dass Irakern wie denen, die neben ihm auf dem Podium saßen, »die Macht in die Hände gelegt werden muss«. Kurz zuvor hatte der Schriftsteller Kanan Makiya seine politische Vision für die Zeit nach Saddam Hussein formuliert. Die territoriale Integrität des Landes solle gewahrt und die Minderheitenrechte durch ein föderales Rechtssystem garantiert werden. Es würde nicht nur abgerüstet wie in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern Makiya forderte auch, dass der neue Irak kein arabisches Land, sondern ein säkularer Staat seiner Bürger, einschließlich der zahlreichen Minderheiten sein müsse.

Ob diese Vorstellungen Wirklichkeit werden, steht noch in den Sternen. Aber in Washington wird seit über einem halben Jahr intensiv diskutiert, wie die irakische Gesellschaft nach einem möglichen Waffengang erfolgreich demokratisiert werden kann. Dies geschieht in verschiedenen informellen Zusammenhängen und den in Washington ansässigen Think Tanks, innerhalb der Oppositionsgruppen im Irakischen Nationalkongress, dessen Büroleiter in Washington gleichzeitig als Verbindungsmann zum Pentagon fungiert, und neuerdings auch in der von der Regierung eingerichteten Arbeitsgruppe für Postwar Planning im Irak, in der über 100 Spezialisten aus den verschiedenen Teilen der Administration vertreten sind.

Dabei finden sich unabhängige Intellektuelle wie Kanan Makiya ebenso wie altgediente kurdische Unabhängigkeitskämpfer aus dem Norden des Landes immer häufiger in Gesellschaft neokonservativer Hardliner aus dem Umfeld des Weißen Hauses und des Pentagon. Diese überraschenden Allianzen beweisen, dass in Amerika vieles komplizierter ist, als es in Europa erscheint.

Das gilt auch für den Präsidenten George W. Bush und sein unmittelbares Umfeld. Denn allen Kontinuitätsunterstellungen zum Trotz durchläuft die US-Politik gegenwärtig Neuausrichtungen, die noch vor wenigen Jahren nahezu unvorstellbar schienen.

 

Ihre Vorgeschichte reicht dreißig Jahre zurück. Damals gründeten konservative Politiker das Committee on Present Danger in dem Irrglauben, dass die USA kurz davor stünden, von der UdSSR militärisch überflügelt zu werden. Die Hardliner setzten sich für massive Rüstungsbudgets ein, hintertrieben jede Form der Rüstungskontrolle und ließen sich für den israelischen Siedlerfundamentalismus begeistern.

Während der Präsidentschaft Jimmy Carters politisch marginal, nahm der neokonservative Marsch durch die Institutionen mit der Reagan-Präsidentschaft seinen Anfang. Inzwischen sind die Protagonisten trotz der Clinton Ära im Weißen Haus und seinen Nebenbauten angekommen, einige befinden sich in Schlüsselpositionen der US-Administration. Zu ihnen gehören Dick Cheney, Paul Wolfowitz, Richard Perle, John Bolton (Undersecretary of State for Arms Control and International Security), Douglas Feith (Undersecretary of Defense for Policy), der ehemalige CIA-Direktor James Woolsey, der Präsident des Center for Security Policy Frank Gaffney und andere. Der Unterschied zur Vorgängergeneration könnte größer nicht sein, denn die neokonservativen Parvenüs sind politische Gesinnungstäter. Der oft unverantwortliche Pragmatismus aus der Ära des Kalten Krieges ist ihnen ein Graus.

George Bush senior und seine Gefolgsleute, abwägende Garanten des Status quo, versuchten noch im vergangenen Jahr das wichtigste und zugleich riskanteste Projekt der »NeoCons« zu unterlaufen: den militärisch erzwungenen Regierungswechsel in Bagdad. Vater Bush schickte gegen seinen Sohn einen engen politischen Vertrauten ins Feld. Mitte August 2002 schrieb sein früherer Sicherheitsberater Brent Scowcroft einen inzwischen legendären Beitrag für das Wall Street Journal unter der Überschrift »Don’t Attack Saddam«. Der Text las sich wie ein europäisches Lamento. Scowcroft forderte, alle Ressourcen im Kampf gegen den Terrorismus einzusetzen, erklärte einen neuerlichen Golfkrieg für zu teuer und sorgte sich um die regionale Stabilität.

Scowcrofts Text machte nicht nur Schlagzeilen, weil er sich gegen den Krieg wandte. Das taten zu gleicher Zeit auch Dick Armey aus Texas, der überaus einflussreiche republikanische Mehrheitsführer im Kongress, und selbst Henry Kissinger zählte damals im Fernsehen vor allem die Risiken einer Intervention auf. Die ehemaligen Generäle Norman Schwarzkopf und Wesley K. Clark hatten sich schon früher entsprechend geäußert. Überraschend war vielmehr, dass es sich um eine konzertierte Aktion der alten gegen die neuen Konservativen handelte, des republikanischen Establishments gegen die neokonservativen Rebellen – und dass sie unerwartet kläglich endete.

 

In Europa wurde diese Veränderung innerhalb der Grand Old Party kaum wahrgenommen. Es war bequemer, Amerika als gewalttätigen Antipoden der europäischen Zivilisation zu präsentieren. Dabei sind die Differenzen von traditionellem Unilateralismus und einem neuen, wertkonservativen Interventionismus kaum zu unterschätzen. Den NeoCons ist innerhalb kürzester Zeit eine Konfessionalisierung der republikanischen Außenpolitik gelungen, auf die der 11. September als ungeheurer Verstärker wirkte. Der neue Konflikt ermöglichte die Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln und eine angenehm diffuse Bestimmung des künftigen Gegners. Entsprechend weit gefasst sind die rhetorischen Eckpfeiler der neuen Politik. Sie lauten: Freiheit, nationale Sicherheit, militärische Überlegenheit und Unterstützung Israels. Dabei geht es jedoch nicht nur um amerikanische Interessen, sondern auch um Gewaltanwendung zur Durchsetzung von Demokratie. Sie selbst würden es als Letzte eingestehen, aber in gewisser Weise führen die Neokonservativen Bill Clintons aktive und interventionistische Menschenrechtspolitik fort – auch wenn zuweilen US-Hegemonie und demokratischer Fortschritt in eins gesetzt werden.

Denn wer Dick Cheney oder Don Rumsfeld unterstellt, sie hätten aus ihren eigenen Fehlern in vergangenen US-Administrationen nicht gelernt, der unterschätzt sie. Immerhin waren beide zur Zeit nach dem sowjetischen Truppenrückzug aus dem zerfallenden Afghanistan schon an exponierter Stelle im politischen Geschäft tätig. Ihnen ist bewusst, dass sie für den Zerfall des Landes und den Aufstieg der islamischen Fundamentalisten vor Ort mitverantwortlich sind. Diese Erfahrung trägt zum gegenwärtigen Rigorismus in Sachen Irak erheblich bei.

Interessanterweise kommt eine ganze Reihe ihrer Akteure ursprünglich gar nicht aus republikanischen Zusammenhängen. Es sind so genannte Sun Belt Republicans, ehemalige Demokraten aus den Südstaaten, die ihrer alten Partei in den Sechzigerjahren nach ihrer Hinwendung zur Bürgerrechtsbewegung den Rücken kehrten. Selbst die Republikaner waren ihnen zunächst nicht antikommunistisch genug und sie rebellierten bereits 1976 gegen die vermeintlich prinzipienlose Politik des Außenministers Henry Kissinger. Diese »unbedingten Konvertiten« (Thomas Kleine-Brockhoff in Die Zeit 17/02) sind aber keineswegs jene blinden Missionare, als die sie in den USA häufig charakterisiert werden.

 

Die derzeit diskutierten Ideen einer neuen globalen Ordnung und vorbeugender Militärschläge sind nicht mit einer bloßen Laune der Regierungsübernahme zu erklären. Dick Cheney schrieb schon 1993 ein außenpolitisches Strategiepapier dieser ganz neuen Weltordnung in der Tradition des Committee on Present Danger. Nun soll es, mit zehnjähriger Verzögerung nach zwei Clinton-Legislaturen, endlich umgesetzt werden. Was immer wieder als simples Schema einer nach Gut und Böse organisierten Weltanschauung kritisiert wird, ist in Wahrheit Teil einer weit verzweigten intellektuellen Debatte.

Die bemitleidenswerte Schwäche der amerikanischen Demokraten hängt direkt mit dieser Stärke der Konservativen zusammen. Denn alle wichtigen außenpolitischen Auseinandersetzungen finden bereits innerhalb der Republikanischen Partei statt. Der Opposition des Zweiparteiensystems bleibt nur die undankbare Rolle als Souffleure der Macht, sie hängt auch mit den Besonderheiten der amerikanischen Außenpolitik zusammen. Es besteht ein hoher Konsensdruck sowie die Angst vor den innenpolitischen Folgen eines neuen Vietnam. Darüber hinaus treffen die stark moralisch und ethisch begründeten Argumente der NeoCons auf ein spürbares gesellschaftliches Orientierungsbedürfnis in einer chaotischen Welt, das weder die Demokraten noch die politische Linke ansprechen. Sie diskutierten vor allem über Rechtsverletzungen der Polizeibehörden. Erst als die außenpolitischen Verwerfungen mit Deutschland und Frankreich ihren Höhepunkt erreichten, verließen mehr Demokraten die Deckung und kritisierten den bevorstehenden Angriff auf das irakische Regime schärfer.

Um die Pläne für einen neuen Irak und die neue Weltordnung wurde zwischen Pentagon, Weißem Haus und Außenministerium lange und heftig gestritten. Allen Beteiligten ist klar, dass angesichts der weltweiten Ressentiments ein amerikanischer Militärkommandant nicht lange die Geschicke des Landes wird leiten können. Die irakische Opposition, aber auch die unteren Chargen des alten Regimes, sollen die Hauptlast des politischen und kulturellen Wiederaufbaus tragen.

Dabei ist die Auseinandersetzung mit Saddam Hussein nur der erste Schritt. »Es endet nicht mit dem Irak«, gab Richard Perle auf einer Veranstaltung des American Enterprise Institute jüngst freimütig zu Protokoll. Saudi-Arabien und Ägypten stehen ebenfalls auf dem neokonservativen Wunschzettel für aggressive Demokratisierungsmaßnahmen. Zuweilen scheint es, als sprächen hier konservative Bolschewisten von der Notwendigkeit der Weltrevolution. Es ist vielleicht kein Zufall, dass einer ihrer intellektuellen Wortführer, der Politikwissenschaftler Joshua Muravchik, in den frühen Siebzigerjahren noch Vorsitzender des Sozialistischen Jugendbundes in Brooklyn gewesen ist. Erst dieser Zusammenhang macht die Metapher von der »Achse des Bösen« verständlich. Auch George Bush argumentierte in seiner viel gescholtenen und selten gelesenen Rede normativ, sprach über das, was sein soll, und nicht, was ist. Und er gestand ein, dass nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation eine historisch offene Situation entstanden ist, die in eine neue Ordnung der Welt münden wird, deren politische Form noch nicht einmal in Umrissen erkennbar ist. Anders als im stagnierenden Deutschland sind die Washingtoner Diskussionen weltoffen im Wortsinne und thematisieren die Zukunft eines sich rapide verändernden internationalen Umfelds.

Das gilt nicht nur für die NeoCons, denn sie stellen in der gegenwärtigen Administration nur eine relativ kleine Minderheit. Aber sie dominieren seit dem Regierungswechsel in Amerika die außenpolitischen Diskussionen und sind in der Lage, erhebliche publizistische Ressourcen zu mobilisieren, um innenpolitische und internationale Kritik im Keim zu ersticken. Der präzise geplante Krach mit der deutschen Regierung ist Teil dieser Taktik. Den Europäern wird darüber hinaus vorgeworfen, mit ihrer in Bosnien unter Beweis gestellten Indifferenz ihre eigene Zukunft mutwillig aufs Spiel zu setzen. Dass viele NeoCons selbst beinharte Gegner des amerikanischen Engagements auf dem Balkans waren, wird geflissentlich übersehen. Denn jetzt geht es um mehr.

 

Zu den eloquenten publizistischen Vertretern der neuen Szene gehören Bill Kristol, Chefredakteur des neokonservativen Sprachrohrs Weekly Standard, und Robert Kagan, Autor des viel diskutierten Beitrages »Power and Weakness« in der konservativen Zeitschrift Policy Review.(1) Sie erklären das staatliche Nichtinterventionsprinzip aus Zeiten des Kalten Krieges kurzerhand für antastbar und berufen sich unter anderem auf das von Woodrow Wilson 1918 proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker gegen autoritäre Regime. Dass es nun in Form eines konservativen Internationalismus des 21. Jahrhunderts seine Auferstehung feiert, ist ebenso bizarr wie umstritten.

Beträchtlicher Widerstand erhob sich im US-Außenministerium, wo die alten Traditionen bedächtiger Interessenpolitik noch gepflegt werden. Seit Herbst vergangenen Jahres setzte sich zumeist Colin Powell mit seiner Forderung nach stärkerer internationaler Einbindung der US-Politik durch. Der Gang zum UN-Sicherheitsrat für Irakresolutionen war einer der Durchbrüche. Bushs Spielraum aber wurde erst durch die französischen und deutschen Finten und Geheimpläne in der Zeit nach der Münchner Wehrkundetagung eingeschränkt. Der als Europa-Sympathisant bekannte amerikanische Außenminister fühlte sich nicht nur von seinen transatlantischen Partnern hintergangenen, sondern geriet auch im eigenen Kabinett unter erheblichen Druck. In den darauf folgenden Wochen verhärtete sich seine Position.

Auch wenn der Krieg gegen den Irak geführt wird, ist die politische Situation nach wie vor offen. Wie lange die neonkonservative Hegemonie anhält, ist von vielen Faktoren abhängig, die sie selbst nur wenig beeinflussen können. Dafür sorgen schon die ebenso unerwarteten wie veränderlichen außenpolitischen Allianzen in Washington. Wer mitreden will, muss sich allerdings an der Diskussion um die neue Weltordnung beteiligen. Friedenssehnsucht allein reicht nicht aus.

 

1

Robert Kagan: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin (Siedler Verlag) 2003.