Die Politik der Administration von Bush
junior ist keine Fortschreibung alter Politik. Als neokonservative Rebellen
glauben ihre Protagonisten aus der Geschichte und den Fehlern der Vergangenheit
gelernt zu haben und streben nun einen fundamentalen Wandel der globalen
Ordnung an.
Während einer öffentlichen Diskussion im Herbst 2002
forderte Richard Perle, der konservative Chef des Defense Policy Board im
Pentagon, dass Irakern wie denen, die neben ihm auf dem Podium saßen, »die
Macht in die Hände gelegt werden muss«. Kurz zuvor hatte der Schriftsteller
Kanan Makiya seine politische Vision für die Zeit nach Saddam Hussein
formuliert. Die territoriale Integrität des Landes solle gewahrt und die
Minderheitenrechte durch ein föderales Rechtssystem garantiert werden. Es würde
nicht nur abgerüstet wie in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern Makiya
forderte auch, dass der neue Irak kein arabisches Land, sondern ein säkularer
Staat seiner Bürger, einschließlich der zahlreichen Minderheiten sein müsse.
Ob diese Vorstellungen Wirklichkeit werden, steht noch in
den Sternen. Aber in Washington wird seit über einem halben Jahr intensiv
diskutiert, wie die irakische Gesellschaft nach einem möglichen Waffengang
erfolgreich demokratisiert werden kann. Dies geschieht in verschiedenen
informellen Zusammenhängen und den in Washington ansässigen Think Tanks,
innerhalb der Oppositionsgruppen im Irakischen Nationalkongress, dessen
Büroleiter in Washington gleichzeitig als Verbindungsmann zum Pentagon
fungiert, und neuerdings auch in der von der Regierung eingerichteten
Arbeitsgruppe für Postwar Planning im Irak, in der über 100 Spezialisten aus
den verschiedenen Teilen der Administration vertreten sind.
Dabei finden sich unabhängige Intellektuelle wie Kanan
Makiya ebenso wie altgediente kurdische Unabhängigkeitskämpfer aus dem Norden
des Landes immer häufiger in Gesellschaft neokonservativer Hardliner aus dem
Umfeld des Weißen Hauses und des Pentagon. Diese überraschenden Allianzen
beweisen, dass in Amerika vieles komplizierter ist, als es in Europa erscheint.
Das gilt auch für den Präsidenten George W. Bush und sein
unmittelbares Umfeld. Denn allen Kontinuitätsunterstellungen zum Trotz
durchläuft die US-Politik gegenwärtig Neuausrichtungen, die noch vor wenigen
Jahren nahezu unvorstellbar schienen.
Ihre Vorgeschichte reicht dreißig Jahre zurück. Damals
gründeten konservative Politiker das Committee on Present Danger in dem Irrglauben,
dass die USA kurz davor stünden, von der UdSSR militärisch überflügelt zu
werden. Die Hardliner setzten sich für massive Rüstungsbudgets ein,
hintertrieben jede Form der Rüstungskontrolle und ließen sich für den
israelischen Siedlerfundamentalismus begeistern.
Während der Präsidentschaft Jimmy Carters politisch
marginal, nahm der neokonservative Marsch durch die Institutionen mit der
Reagan-Präsidentschaft seinen Anfang. Inzwischen sind die Protagonisten trotz
der Clinton Ära im Weißen Haus und seinen Nebenbauten angekommen, einige
befinden sich in Schlüsselpositionen der US-Administration. Zu ihnen gehören Dick Cheney, Paul Wolfowitz, Richard
Perle, John Bolton (Undersecretary of State for Arms Control and International
Security), Douglas Feith (Undersecretary of Defense for Policy), der ehemalige
CIA-Direktor James Woolsey, der Präsident des Center for Security Policy Frank
Gaffney und andere. Der Unterschied zur Vorgängergeneration könnte größer
nicht sein, denn die neokonservativen Parvenüs sind politische Gesinnungstäter.
Der oft unverantwortliche Pragmatismus aus der Ära des Kalten Krieges ist ihnen
ein Graus.
George Bush senior und seine Gefolgsleute, abwägende
Garanten des Status quo, versuchten noch im vergangenen Jahr das wichtigste und
zugleich riskanteste Projekt der »NeoCons« zu unterlaufen: den militärisch
erzwungenen Regierungswechsel in Bagdad. Vater Bush schickte gegen seinen Sohn
einen engen politischen Vertrauten ins Feld. Mitte August 2002 schrieb sein
früherer Sicherheitsberater Brent Scowcroft einen inzwischen legendären Beitrag
für das Wall Street Journal unter der Überschrift »Don’t Attack Saddam«.
Der Text las sich wie ein europäisches Lamento. Scowcroft forderte, alle
Ressourcen im Kampf gegen den Terrorismus einzusetzen, erklärte einen
neuerlichen Golfkrieg für zu teuer und sorgte sich um die regionale Stabilität.
Scowcrofts Text machte nicht nur Schlagzeilen, weil er sich
gegen den Krieg wandte. Das taten zu gleicher Zeit auch Dick Armey aus Texas,
der überaus einflussreiche republikanische Mehrheitsführer im Kongress, und
selbst Henry Kissinger zählte damals im Fernsehen vor allem die Risiken einer
Intervention auf. Die ehemaligen Generäle Norman Schwarzkopf und Wesley K.
Clark hatten sich schon früher entsprechend geäußert. Überraschend war
vielmehr, dass es sich um eine konzertierte Aktion der alten gegen die neuen
Konservativen handelte, des republikanischen Establishments gegen die
neokonservativen Rebellen – und dass sie unerwartet kläglich endete.
In Europa wurde diese Veränderung innerhalb der Grand Old
Party kaum wahrgenommen. Es war bequemer, Amerika als gewalttätigen Antipoden
der europäischen Zivilisation zu präsentieren. Dabei sind die Differenzen von
traditionellem Unilateralismus und einem neuen, wertkonservativen
Interventionismus kaum zu unterschätzen. Den NeoCons ist innerhalb kürzester
Zeit eine Konfessionalisierung der republikanischen Außenpolitik gelungen, auf
die der 11. September als ungeheurer Verstärker wirkte. Der neue Konflikt
ermöglichte die Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln und eine
angenehm diffuse Bestimmung des künftigen Gegners. Entsprechend weit gefasst
sind die rhetorischen Eckpfeiler der neuen Politik. Sie lauten: Freiheit,
nationale Sicherheit, militärische Überlegenheit und Unterstützung Israels.
Dabei geht es jedoch nicht nur um amerikanische Interessen, sondern auch um Gewaltanwendung
zur Durchsetzung von Demokratie. Sie selbst würden es als Letzte eingestehen,
aber in gewisser Weise führen die Neokonservativen Bill Clintons aktive und
interventionistische Menschenrechtspolitik fort – auch wenn zuweilen
US-Hegemonie und demokratischer Fortschritt in eins gesetzt werden.
Denn wer Dick Cheney oder Don Rumsfeld unterstellt, sie
hätten aus ihren eigenen Fehlern in vergangenen US-Administrationen nicht
gelernt, der unterschätzt sie. Immerhin waren beide zur Zeit nach dem
sowjetischen Truppenrückzug aus dem zerfallenden Afghanistan schon an
exponierter Stelle im politischen Geschäft tätig. Ihnen ist bewusst, dass sie
für den Zerfall des Landes und den Aufstieg der islamischen Fundamentalisten
vor Ort mitverantwortlich sind. Diese Erfahrung trägt zum gegenwärtigen
Rigorismus in Sachen Irak erheblich bei.
Interessanterweise kommt eine ganze Reihe ihrer Akteure
ursprünglich gar nicht aus republikanischen Zusammenhängen. Es sind so genannte
Sun Belt Republicans, ehemalige Demokraten aus den Südstaaten, die ihrer alten
Partei in den Sechzigerjahren nach ihrer Hinwendung zur Bürgerrechtsbewegung
den Rücken kehrten. Selbst die Republikaner waren ihnen zunächst nicht
antikommunistisch genug und sie rebellierten bereits 1976 gegen die
vermeintlich prinzipienlose Politik des Außenministers Henry Kissinger. Diese
»unbedingten Konvertiten« (Thomas Kleine-Brockhoff in Die Zeit 17/02)
sind aber keineswegs jene blinden Missionare, als die sie in den USA häufig
charakterisiert werden.
Die derzeit diskutierten Ideen einer neuen globalen Ordnung
und vorbeugender Militärschläge sind nicht mit einer bloßen Laune der
Regierungsübernahme zu erklären. Dick Cheney schrieb schon 1993 ein
außenpolitisches Strategiepapier dieser ganz neuen Weltordnung in der Tradition
des Committee on Present Danger. Nun soll es, mit zehnjähriger Verzögerung nach
zwei Clinton-Legislaturen, endlich umgesetzt werden. Was immer wieder als
simples Schema einer nach Gut und Böse organisierten Weltanschauung kritisiert
wird, ist in Wahrheit Teil einer weit verzweigten intellektuellen Debatte.
Die bemitleidenswerte Schwäche der amerikanischen Demokraten
hängt direkt mit dieser Stärke der Konservativen zusammen. Denn alle wichtigen
außenpolitischen Auseinandersetzungen finden bereits innerhalb der
Republikanischen Partei statt. Der Opposition des Zweiparteiensystems bleibt
nur die undankbare Rolle als Souffleure der Macht, sie hängt auch mit den
Besonderheiten der amerikanischen Außenpolitik zusammen. Es besteht ein hoher
Konsensdruck sowie die Angst vor den innenpolitischen Folgen eines neuen
Vietnam. Darüber hinaus treffen die stark moralisch und ethisch begründeten
Argumente der NeoCons auf ein spürbares gesellschaftliches
Orientierungsbedürfnis in einer chaotischen Welt, das weder die Demokraten noch
die politische Linke ansprechen. Sie diskutierten vor allem über Rechtsverletzungen
der Polizeibehörden. Erst als die außenpolitischen Verwerfungen mit Deutschland
und Frankreich ihren Höhepunkt erreichten, verließen mehr Demokraten die
Deckung und kritisierten den bevorstehenden Angriff auf das irakische Regime
schärfer.
Um die Pläne für einen neuen Irak und die neue Weltordnung
wurde zwischen Pentagon, Weißem Haus und Außenministerium lange und heftig
gestritten. Allen Beteiligten ist klar, dass angesichts der weltweiten
Ressentiments ein amerikanischer Militärkommandant nicht lange die Geschicke
des Landes wird leiten können. Die irakische Opposition, aber auch die unteren
Chargen des alten Regimes, sollen die Hauptlast des politischen und kulturellen
Wiederaufbaus tragen.
Dabei ist die Auseinandersetzung mit Saddam Hussein nur der
erste Schritt. »Es endet nicht mit dem Irak«, gab Richard Perle auf einer
Veranstaltung des American Enterprise Institute jüngst freimütig zu Protokoll.
Saudi-Arabien und Ägypten stehen ebenfalls auf dem neokonservativen
Wunschzettel für aggressive Demokratisierungsmaßnahmen. Zuweilen scheint es,
als sprächen hier konservative Bolschewisten von der Notwendigkeit der
Weltrevolution. Es ist vielleicht kein Zufall, dass einer ihrer intellektuellen
Wortführer, der Politikwissenschaftler Joshua Muravchik, in den frühen
Siebzigerjahren noch Vorsitzender des Sozialistischen Jugendbundes in Brooklyn
gewesen ist. Erst dieser Zusammenhang macht die Metapher von der »Achse des
Bösen« verständlich. Auch George Bush argumentierte in seiner viel gescholtenen
und selten gelesenen Rede normativ, sprach über das, was sein soll, und nicht,
was ist. Und er gestand ein, dass nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation eine
historisch offene Situation entstanden ist, die in eine neue Ordnung der Welt
münden wird, deren politische Form noch nicht einmal in Umrissen erkennbar ist.
Anders als im stagnierenden Deutschland sind die Washingtoner Diskussionen
weltoffen im Wortsinne und thematisieren die Zukunft eines sich rapide
verändernden internationalen Umfelds.
Das gilt nicht nur für die NeoCons, denn sie stellen in der
gegenwärtigen Administration nur eine relativ kleine Minderheit. Aber sie
dominieren seit dem Regierungswechsel in Amerika die außenpolitischen
Diskussionen und sind in der Lage, erhebliche publizistische Ressourcen zu
mobilisieren, um innenpolitische und internationale Kritik im Keim zu
ersticken. Der präzise geplante Krach mit der deutschen Regierung ist Teil
dieser Taktik. Den Europäern wird darüber hinaus vorgeworfen, mit ihrer in
Bosnien unter Beweis gestellten Indifferenz ihre eigene Zukunft mutwillig aufs
Spiel zu setzen. Dass viele NeoCons selbst beinharte Gegner des amerikanischen
Engagements auf dem Balkans waren, wird geflissentlich übersehen. Denn jetzt
geht es um mehr.
Zu den eloquenten publizistischen Vertretern der neuen Szene
gehören Bill Kristol, Chefredakteur des neokonservativen Sprachrohrs Weekly
Standard, und Robert Kagan, Autor des viel diskutierten Beitrages »Power
and Weakness« in der konservativen Zeitschrift Policy Review.(1) Sie
erklären das staatliche Nichtinterventionsprinzip aus Zeiten des Kalten Krieges
kurzerhand für antastbar und berufen sich unter anderem auf das von Woodrow
Wilson 1918 proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker gegen autoritäre
Regime. Dass es nun in Form eines konservativen Internationalismus des 21.
Jahrhunderts seine Auferstehung feiert, ist ebenso bizarr wie umstritten.
Beträchtlicher Widerstand erhob sich im US-Außenministerium,
wo die alten Traditionen bedächtiger Interessenpolitik noch gepflegt werden.
Seit Herbst vergangenen Jahres setzte sich zumeist Colin Powell mit seiner Forderung
nach stärkerer internationaler Einbindung der US-Politik durch. Der Gang zum
UN-Sicherheitsrat für Irakresolutionen war einer der Durchbrüche. Bushs
Spielraum aber wurde erst durch die französischen und deutschen Finten und
Geheimpläne in der Zeit nach der Münchner Wehrkundetagung eingeschränkt. Der
als Europa-Sympathisant bekannte amerikanische Außenminister fühlte sich nicht
nur von seinen transatlantischen Partnern hintergangenen, sondern geriet auch
im eigenen Kabinett unter erheblichen Druck. In den darauf folgenden Wochen
verhärtete sich seine Position.
Auch wenn der Krieg gegen den Irak geführt wird, ist die
politische Situation nach wie vor offen. Wie lange die neonkonservative
Hegemonie anhält, ist von vielen Faktoren abhängig, die sie selbst nur wenig
beeinflussen können. Dafür sorgen schon die ebenso unerwarteten wie
veränderlichen außenpolitischen Allianzen in Washington. Wer mitreden will,
muss sich allerdings an der Diskussion um die neue Weltordnung beteiligen.
Friedenssehnsucht allein reicht nicht aus.
1
Robert Kagan: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in
der neuen Weltordnung, Berlin (Siedler Verlag) 2003.